Havanna – Zwei Stunden nach dem Jahreswechsel bestieg der kubanische Diktator Fulgencio Batista am 1. Januar 1959 ein Flugzeug und setzte sich in die Dominikanische Republik ab. Bärtige Rebellen marschierten schon am folgenden Tag durch die Straßen Havannas. Eine Woche später traf Fidel Castro – aus dem Osten der Insel kommend – in der Hauptstadt ein. Das Volk bereitete ihm einen überschwänglichen Empfang. Noch am Silvestertag hatte der Revolutionsführer schriftlich festgehalten: „Mich persönlich interessiert die Macht nicht, und ich denke auch nicht daran, sie zu übernehmen.“ Fast ein halbes Jahrhundert lang war er danach der alleinige Machthaber auf der Insel.
Erst 2006 gab Fidel Castro aufgrund einer schweren Erkrankung – zunächst vorläufig – die Partei- und Staatsführung sowie das Oberkommando über die Streitkräfte an seinen fünf Jahre jüngeren Bruder Raúl ab. 2008 verzichtete er auf eine Wiederwahl zum Staatspräsidenten und im April 2011 trat er auch das Amt des Generalsekretärs der Partei endgültig an Raúl ab. Ins politische Tagesgeschäft mischt er sich nicht mehr ein, auch wenn er unter dem Titel „Reflexionen“ in einer Kolumne der Parteizeitung regelmäßig als Elder Statesman seine Gedanken zum Weltenlauf veröffentlicht. Heute wird Fidel Castro 85 Jahre alt.
Ein ungewöhnlicher Diktator
Fidel, wie ihn die Kubaner nennen, war ein Diktator, gewiss, aber ein für Lateinamerika, das viele bestialische und bizarre Tyrannen hervorgebracht hat, doch sehr ungewöhnlicher Diktator. Zwar hat er sein Land letztlich in den ökonomischen Ruin getrieben, aber in die eigene Tasche gewirtschaftet hat er nie. Ihm lag nicht daran, sich persönlich zu bereichern. Von Privatkonten in der Schweiz oder auf den Bahamas ist nichts bekannt. Als Revolutionär ging es ihm um die Verwirklichung einer Idee, die Idee einer sozial gerechten Gesellschaft mit einer Grundversorgung für alle. Die Meriten, die er sich beim Aufbau eines Gesundheitssystems und beim Abbau von Analphabetismus und Kindersterblichkeit erworben hat, sind unbestritten. Doch um seine Idee einer klassenlosen Gesellschaft zu realisieren, ging er notfalls auch über Leichen.
Das Leben der anderen hatte für Castro immer einen begrenzten Wert. Auch auch sein eigenes Leben hat er oft riskiert. Unzählige Male ist er dem Tod von der Schippe gesprungen. Mit Pistolen und Revolvern umzugehen, lernte er schon in seinen Studentenjahren. Auf dem Campus der Universität von Havanna, wo er Jura studierte, kam es in den 1940er-Jahren regelmäßig zu Feuergefechten. In der Grauzone zwischen Politik und Gangstertum wurde auch mancher Liebeshändel bewaffnet ausgetragen. Als ihm von studentischen Pistoleros bedeutet wurde, sich vom Universitätsgelände fernzuhalten, fasste Castro einen weitreichenden Entschluss: „Allein am Strand, vor mir nur das Meer“, so schrieb er später mit dem ihm eigenen Pathos, „dachte ich über meine Lage nach […] Ich entschloss mich zurückzukehren, und ich kehrte zurück – mit der Waffe in der Hand.“ Der angehende Rechtsanwalt war danach auf dem Campus verschiedentlich in Schießereien verwickelt.
1948 befindet sich der damals gerade 22 Jahre alte Castro in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, wo ein lateinamerikanischer Studentenkongress stattfinden soll, als nach der Ermordung eines populären Linkspolitikers eine Volksrebellion losbricht. Ein aufständischer Polizeioffizier drückt ihm eine Waffe und 14 Schuss in die Hand. Der Kubaner besteigt vor dem Kapitol eine Sitzbank, hält eine Rede und stürzt sich ins Schlachtgetümmel. Mehr als 3 000 Menschen werden von den Soldaten erschossen. Castro entkommt im Auto eines argentinischen Diplomaten in die kubanische Botschaft, die ihn in einem Frachtflugzeug nach Havanna ausfliegt.
Zurück in Kuba, heiratet Castro, promoviert zum Doktor der Rechtswissenschaften und eröffnet eine Anwaltskanzlei. Wahrscheinlich wäre er ein liberaler Politiker geworden, wenn Batista sich nicht 1952 an die Macht geputscht hätte. Die Wahlen, bei denen der rhetorisch hochbegabte Rechtsanwalt als Kandidat der liberalen „Orthodoxen“ sehr wahrscheinlich einen Sitz im Parlament erobert hätte, werden abgesagt. Nun, wo ihm der legale Weg an die Macht versperrt ist, greift er wieder zu den Waffen.
Der Sturm auf die Moncada, den Militärstützpunkt von Santiago, der zweitgrößten Stadt Kubas, ist der Startschuss der Revolution. Das Abenteuer endet in einer militärischen Niederlage. In 16 Straßenkreuzern fahren die 130 Rebellen zur Moncada. Fidel selbst steuert den zweiten Wagen und fährt ihn aus Nervosität wenige Meter vom Eingang des Militärstützpunktes entfernt in den Straßengraben. Das sofort einsetzende Feuergefecht überlebt er. Beim Sturm werden 19 Soldaten erschossen und acht Rebellen, weitere 50 werden später festgenommen, kaltblütig hingerichtet oder zu Tode gefoltert. Castro aber entkommt in die Berge. Dort wird er von einem Suchtrupp der Gendarmerie aufgegriffen. Der Armeeleutnant Pedro Manuel Sarriá, der den Gefangenen übernimmt, widersetzt sich dem Befehl des Kommandanten von Santiago, Castro zu erschießen, und bringt ihn unversehrt ins Stadtgefängnis statt zum Militärstützpunkt. Dort weigert sich Hauptmann Jesus Yáñez, den prominenten Häftling, wie befohlen, mit Arsen zu vergiften.
„Die Geschichte wird mich freisprechen.“
Für den Sturm auf die Moncada und die Erschießung von 19 Soldaten wird Castro vor Gericht gestellt. Seine Verteidigung übernimmt er als Anwalt selbst. „Verurteilt mich, das hat nichts zu bedeuten“, schließt er sein Plädoyer, „die Geschichte wird mich freisprechen.“ Castro wird zu 15 Jahren Haft verdonnert, kommt aber schon anderthalb Jahre nach dem Urteil frei und geht nach Mexiko ins Exil. Zusammen mit seinem Bruder Raúl, dem argentinischen Arzt Ernesto Guevara, den alle nur „Che“ nennen, und mit 80 weiteren bewaffneten Genossen kehrt er Ende 1956 auf der „Granma“ heimlich in seine Heimat zurück. Der Motorjacht geht just vor der kubanischen Küste der Diesel aus. Die Rebellen kämpfen sich durch die Mangroven ans Land. Doch Batista hat längst Wind von der Ankunft Castros erhalten und die Armee zum Empfang geschickt. Nur 21 Revolutionäre, ein Viertel der Invasoren, überleben und schlagen sich in die Sierra Maestra durch, wo sie den Krieg gegen die Diktatur aufnehmen – unter ihnen Che, Raúl und Fidel Castro. Zwei Jahre später ziehen sie siegreich in Havanna ein.
Castro macht sich nun zügig daran, seine Ideen zu verwirklichen. In den ersten neun Monaten werden anderthalbtausend Gesetze und Dekrete erlassen. Die Mieten sinken, die Löhne steigen. Privatstrände werden öffentlich zugänglich gemacht. Die Einfuhr von Luxusartikeln wird verteuert. Die medizinische Versorgung kostet nichts mehr.
Doch in denselben Monaten zeigt sich auch schon die despotische Seite des Revolutionärs. Vier Tage nach dem Sieg der Revolution werden in Santiago unter dem Kommando von Raúl Castro nach einem summarischen Todesurteil 70 Gefangene, vermutlich Schergen der Batista-Diktatur, hingerichtet. In den ersten Monaten der neuen Regierung lässt Che Guevara in Havanna einige hundert gefangene Gegner füsilieren. Bis zum Jahresende – noch gibt es kein Wirtschaftsembargo und noch sind keine vom CIA ausgebildete Exilkubaner in der Schweinebucht gelandet – sind tausend bis zweitausend Personen den Erschießungskommandos zum Opfer gefallen.
Die Zensur funktionierte besser als zu Batistas Zeiten
Die Repression erreicht schon bald die eigenen Reihen. Huber Matos, einer der fünf obersten Kommandanten der Revolution, ist mit der Entwicklung der Dinge nicht einverstanden, bittet um die Entlassung und wird – die Revolution ist noch kein Jahr alt – zu 20 Jahren Haft verurteilt. Er sitzt sie bis zum letzten Tag ab. Seine fulminante Verteidigungsrede wird – anders als das historische Plädoyer Castros von 1953 – der Öffentlichkeit nicht bekannt. Die Zensur funktioniert bereits besser als zu Batistas Zeiten.
Mario Chanes de Armas, der mit Castro einst versuchte, die Moncada zu stürmen, mit ihm in der „Granma“ saß und mit ihm in der Sierra Maestra kämpfte, wird beschuldigt, ein Attentat auf den Revolutionsführer geplant zu haben, und 1961 zu 30 Jahren Haft verurteilt. Auch er sitzt seine Strafe bis zum letzten Tag ab. Sorí Marin , der ebenfalls mit Castro in der Sierra Maestra kämpfte und nach dem Sieg Landwirtschaftsminister wurde, wird 1961 wegen konterrevolutionärer Umtriebe füsiliert. Jesús Yáñez, der sich als Offizier Batistas weigerte, Castro im Gefängnis zu vergiften und nach dem Sieg dessen Leibwächter wurde, wird aufgrund seines Einsatzes für Menschenrechte 1960 zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, kommt aber immerhin nach elf Jahren frei.
Man mag diese Repression den turbulenten Zeiten unmittelbar nach dem Sieg der Revolution zuschreiben und einer übersteigerten Angst vor einer Konterrevolution des alten Regimes. Doch bis in dieses Jahrtausend wurden immer wieder Dissidenten und Menschenrechtler zu jahrzehntelanger Haft verurteilt, wenigstens kam es nur noch vereinzelt zu Hinrichtungen, zum letzten Mal vor acht Jahren. Da wurden drei junge Männer zum Tod verurteilt, die im Hafen von Havanna eine Fähre mit 40 Passagieren entführt hatten, um in die USA zu entkommen. Es gab weder Tote noch Verletzte. Schon nach wenigen Kilometern war der Fähre – wie einst der „Granma“ – der Diesel ausgegangen. Die bewaffneten Entführer wollten nicht die Macht, nur die Freiheit. Es kam zu einem Geheimprozess. Das Gerichtsurteil wurde der Öffentlichkeit erst mitgeteilt, als die Täter schon begraben waren. Fidel Castro verteidigte die Todesurteile, die ohne seine Zustimmung gewiss nicht vollstreckt worden wären. „Die Geschichte wird mich freisprechen“, hatte er vor 48 Jahren gerufen. Wird sie ihn auch von der Schuld am Tod der drei jungen Männer freisprechen?
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 13./14. August 2011
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