Der flammende Protest des Hamid Kanouni

BERKANE. Die wenigen Straßencafés sind bis auf den letzten Stuhl besetzt. Doch es herrscht eine gespenstische Stille. Niemand redet. Niemand trinkt Kaffee oder den hier üblichen mit Minze versetzten Schwarztee, nicht einmal Wasser. Wie K.O.-geschlagene Boxer liegen die Männer in den billigen Plastikstühlen, die Baseballmütze tief in die Stirn gezogen oder ein Tuch um den Kopf gewickelt. Man bewegt sich, wenn es denn sein muss, nur langsam. Der Körper muss Energie sparen. Es ist fünf Uhr abends, noch immer sind es 31 Grad im Schatten. Frauen sieht man kaum, im Café schon gar nicht. Nur ab und zu huscht eine verhüllte Gestalt übers Pflaster, mit Plastiktüten voll Brot, Gemüse und Früchten, für den Iftar, das allabendliche Fastenbrechen. Der Ramadan wird in Berkane, einer Stadt mit 80000 Einwohnern im Nordosten Marokkos unweit der Grenze zu Algerien, strikt eingehalten, in der Öffentlichkeit jedenfalls.

Nach Sonnenuntergang wird tüchtig nachgeholt, was man sich tagsüber versagt hat. Die Fleischer stellen Lammkeulen und Ziegenköpfe aus, die Bäcker können sich der anstürmenden Kundschaft kaum erwehren. Auf Holztischen und Handkarren locken Berge von Melonen, Klementinen, Feigen, Nüssen. Auf dem großen überdachten Markt herrscht emsiges Treiben. Da schwenken plötzlich einige Jugendliche schwarze Fahnen der „Bewegung 20. Februar“. Sie schreien rhythmisch Parolen, tanzen auf und ab. Sie wollen Aufklärung, sie fordern eine unabhängige Untersuchungskommission. Denn Hamid Kanouni ist tot, er hat sich vor zwei Wochen vor der Polizeistation von Berkane mit Benzin übergossen und angezündet.

Alles erinnert an Tunesien, an Mohamed Bouazizi. Der arbeitslose junge Mann, der sich als ambulanter Gemüsehändler durchs Leben schlug, hatte sich im Dezember in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid angezündet und damit die Revolution ausgelöst, die schon einen Monat später in der Flucht des Langzeitdiktators Ben Ali endete. Das Bild des brennenden Bouazizi wurde hunderttausendfach über Facebook versendet, millionenfach auf Youtube abgerufen. Auch hier haben es alle gesehen. Und wie die Jasmin-Revolution nach Ägypten geschwappt ist, haben ihre Wellen auch Marokko erreicht. Am 20. Februar kam es – über Facebook und Twitter organisiert – in Dutzenden Städten des Königreichs zu Demonstrationen gegen Korruption und die Arroganz der Macht, für Arbeit und ein Leben in Würde.

Auch in Berkane hat sich danach die „Bewegung 20. Februar“ formiert. Ihr Sprecher ist Abdelouahab Boujellab, 40 Jahre alt und mit einem Gebiss, das darauf schließen lässt, dass er sich keinen Zahnarzt leisten kann. Wie der Tunesier, der die Revolution ausgelöst hat, ist auch er ambulanter Händler. Auch er verkauft Gemüse und Früchte – seit 1992, seit er nicht mehr als Animateur in Kinderferienlagern arbeitet und arbeitslos wurde. Jeden Morgen kauft er auf dem Großmarkt ein, liefert die Ware einigen Stammkunden frei Haus, baut dann seinen Holztisch im Stadtzentrum auf und am Abend wieder ab. Sein Arbeitstag dauert in der Regel 14 Stunden, von sechs Uhr früh bis acht Uhr spät. 150Dirham, umgerechnet 14Euro, verdient er im Schnitt pro Tag. Einen Euro pro Stunde. Während des Ramadan sind es deutlich mehr, weil die Menschen zwar tagsüber fasten, nachts aber umso mehr essen – oft bis drei Uhr morgens. „Früher nahmen die Leute im Ramadan ab“, sagt Abdelouahab, „heute nehmen sie zu.“

Auch Hamid Kanouni, der sich am 7. August in Berkane mit Benzin übergossen und dann selbst angezündet hat, war ambulanter Händler. Er ist in der alten Königsstadt Fès aufgewachsen, begann dort sein Studium. Aber dann starb sein Vater, und als ältester Sohn musste er für Mutter, Bruder, Schwester und Großmutter aufkommen. So zog er in den Norden, wo es, wie es hieß, leichter war, Geld zu verdienen. In Berkane fand er Arbeit bei Fouazi, Besitzerin einer Bäckerei am zentralen Boulevard Mohammed V., benannt nach dem Großvater des heutigen Königs Mohammed VI. Doch noch vor Beginn des Ramadan wurde Hamid entlassen. Wann genau, ist umstritten, wie so vieles in dieser tragischen Geschichte.

Was sollte Hamid tun ohne Arbeit? „Er kaufte Brot bei einer Großbäckerei und stellte einen Holztisch auf – fünf Meter vom Laden Fouazis entfernt“, erzählt Ahmidane Abdi, Gymnasiallehrer für Geographie und Geschichte sowie Präsident der lokalen Sektion der marokkanischen Menschenrechtsvereinigung. „Eines Tages rief die Bäckerin die Polizei.“ Auf dem Kommissariat sei Hamid wohl misshandelt worden. Jedenfalls habe Faisal, ein Freund, gehört, wie der brennende Brotverkäufer sich über die „Hogra“ empörte. Das arabische Wort bedeutet so viel wie Demütigung oder Erniedrigung – durch Schläge, Spucke, Beschimpfung. Folge der Hogra ist Schmach, zugefügt von jemandem, gegen den man sich nicht wehren kann. Der Menschenrechtsaktivist glaubt, dass Hamid sich aus Scham und als Protest angezündet hat. Erst sei er weggelaufen, dann zurückgekommen, um sich just vor dem Polizeikommissariat in Brand zu stecken.

Das war Sonntagabend. Seine schweren Verbrennungen konnte man in Berkane nicht behandeln. Noch in der Nacht wurde er, begleitet von seinem Freund Hicham, in eine Klinik im 650 Kilometer entfernten Casablanca gefahren. Dort starb er am Dienstagmorgen. Weder Faisal noch Hicham seien bereit, mit Journalisten zu sprechen, sagt jemand, der beide gut kennt. Auch Fouazi, die Bäckereibesitzerin, will nicht reden. Und der Fleischer neben der Bäckerei, der Feigenverkäufer vor der Fleischerei, der Schuhputzer neben dem Feigenverkäufer, sie alle wollen auch nicht reden. Sie alle müssen Hamid gekannt oder zumindest den Konflikt zwischen Fouazi und ihm mitgekriegt haben. Sie wollen in Ruhe gelassen werden, keinen Ärger riskieren. Es ist doch ohnehin nichts mehr zu machen. Hamid ist tot. Er wurde 27 Jahre alt. War es wirklich der Protest eines Verzweifelten, wie der Menschenrechtler Ahmidane Abdi nahelegt?

Bei der Staatsanwaltschaft hört man eine andere Version: Fouazi nahm Hamid, der vor ihrer Bäckerei seinen Holztisch aufgestellt hatte, 250 Brötchen weg. Die beiden kamen zur Polizei, fanden eine einvernehmliche Lösung ihres Zwists. Danach ging Hamid weg, kam zurück, übergoss sich vor dem Kommissariat mit fünf Litern Benzin. Er wollte nur drohen, setzte sich versehentlich in Brand, schrie um Hilfe und rannte ins Gebäude. Ein Polizist riss einen Vorhang herunter und löschte das Feuer. „Es sind vorläufige Ergebnisse“, sagt der zuständige Vizestaatsanwalt, „wir ermitteln weiter.“

Die „Bewegung 20.Februar“ traut der Staatsanwaltschaft nicht. Sie hat eine eigene Kommission zur Untersuchung von Hamids Tod eingerichtet. Mohammed Salhi, der ihr angehört, fasst zusammen: Taufik, ein Arbeiter der Bäckereibesitzerin, zettelte mit Hamid Streit an. Die Bäckerin rief die Polizei, die beiden Streithähne wurden zum Kommissariat gebracht. Dort versöhnten sie sich. Bei der Rückkehr zum Markt fand Hamid seinen umgestürzten Tisch vor. Sein behinderter Freund Jawad, der den Tisch bewachen wollte, wurde in der Bäckerei verprügelt und festgehalten. Hamid ging zum Gericht, um beim Staatsanwalt Beschwerde einzulegen, fand die Tür verschlossen, ging verzweifelt zum Kommissariat, wurde dort beschimpft, übergoss sich mit Benzin und steckte sich in Brand.

„Unter den ambulanten Händlern in der Umgebung der Bäckerei galt Hamid als Bonvivant“, sagt Mohammed Salhi, „von Depressionen keine Spur.“ Aber wer weiß schon, was Hamid Kanouni umtrieb, wer er wirklich war? Über sein Leben weiß man wenig, und über seinen Tod gibt es täglich neue Versionen.

Der „Bewegung 20.Februar“ habe Hamid nicht angehört, sagt deren Sprecher Abdelouahab, aber noch am späten Sonntagabend habe man vor der Präfektur, dem Sitz der Provinzregierung, ein Sit-in veranstaltet. Zum Treffen im Hinterzimmer eines Restaurants hat er einen hochgewachsenen jungen Mann mitgebracht. Es ist Ahmed Guilli, der die arbeitslosen Akademiker von Berkane organisiert. Der Jurist und Politologe zieht das Hemd hoch und zeigt die Striemen von Schlägen. Auch die Prellungen am Kopf sind noch nicht abgeschwollen. Er sei bei der Auflösung des Sit-in von der Polizei schrecklich verprügelt worden, berichtet er, danach habe man ihn in ein Auto gestoßen und gegen Mitternacht drei Kilometer außerhalb der Stadt ausgesetzt. Seit seinem Studienabschluss vor einem Jahr ist Ahmed arbeitslos. Auf fünf öffentlich ausgeschriebene Stellen habe er sich beworben – „natürlich vergeblich, denn Arbeitsplätze werden hier verkauft und gekauft.“

Hogra – Erniedrigung – habe es früher auch und noch öfter gegeben, sagt kopfschüttelnd Mustafa, der alte Zeitungsverkäufer, aber deshalb habe man sich doch nicht gleich angezündet. Der „Bewegung 20. Februar“ misstraut er zutiefst. Die wolle die Selbstverbrennung von Hamid Kanouni nur ausschlachten, um über die eigene Schwäche hinwegzutäuschen. Sie sei frustriert über ihre Machtlosigkeit. Sie wolle in die Fußstapfen der tunesischen Revolutionäre treten.

Doch Marokko ist nicht Tunesien. Zwar haben beide Länder die gleichen Probleme: grassierende Arbeitslosigkeit vor allem auch unter Akademikern, Korruption, eine Jugend, die keine Zukunft sieht. Und Mohammed VI. hat nicht weniger Macht und Reichtum, als sie Ben Ali hatte. Aber er ist ein König und kein Diktator. Er hat das Land nach dem Tod seines Vaters Hassan II. politisch geöffnet. Vor allem ist er auch religiöses Oberhaupt, Emir der Gläubigen. Er ist beim Volk, quer durch alle Schichten, beliebt. M6, wie ihn die Marokkaner abkürzen, hat auf den Protest der Straße schnell reagiert, er konnte der „Bewegung 20.Februar“ den Wind aus den Segeln nehmen. Er erhöhte die Gehälter im öffentlichen Dienst und den Mindestlohn. Am 1.Juli ließ er per Plebiszit eine Verfassungsreform verabschieden. Er gab ein wenig Macht ab: Künftig darf die stärkste Partei den Regierungschef stellen, der kann die Gouverneure ernennen. Letztlich aber hat der Monarch weiterhin das Sagen.

Die „Bewegung 20.Februar“ hat die Verfassungsreform abgelehnt, die – bei einer Wahlbeteiligung von 73 Prozent – offiziell 98 Prozent der Marokkaner guthießen. „Die Reform, für die in allen Moscheen des Landes die staatlich bezahlten Imame warben, wurde von einer königlichen Kommission ausgearbeitet“, kritisiert Sprecher Abdelouahab, „die Zivilgesellschaft wurde nicht einbezogen. Wir verlangen eine Verfassunggebende Versammlung. Wir wollen nicht ein bisschen Demokratie. Wir wollen Demokratie.“ Von den auf November vorgezogenen Neuwahlen erwartet er keine Veränderung. Die Monarchie an sich stellt die „Bewegung 20. Februar“ nicht infrage, aber sie möchte eine konstitutionelle, parlamentarische Monarchie nach spanischem Vorbild. Davon ist Marokko weit entfernt.

Radikaler ist die nicht legale, aber doch tolerierte „Vereinigung Gerechtigkeit und Spiritualität“ des greisen Scheichs Abdessalam Yassine. Sie ist vermutlich die stärkste gesellschaftliche Kraft Marokkos und wegen ihres sozialen Engagements bei den Armen populär. Wie Mohammed VI. behauptet auch der Scheich, vom Propheten abzustammen. Er stellt die Autorität des Königs offen in Frage, spricht mitunter gar von einer Republik und meint eine islamische Republik. Seine Vereinigung unterstützt die „Bewegung 20.Februar“. Sie hat Hamid Kanouni zum Märtyrer erklärt.

Nicht jeder Bärtige ist Islamist

Im Demonstrationszug, der sich unter den schwarzen Fahnen am Markt formiert hat, marschieren auch Bärtige in der Dschellaba, dem langen Gewand der Männer. Die Frauen bilden einen Block für sich. Das muss noch nichts heißen. Berkane ist eine tief konservative Ecke Marokkos. Doch nicht jeder Bartträger ist islamischer Fundamentalist. Und in der sommerlichen Hitze ist die Dschellaba bequemer als die Hose. Aber Skeptiker warnen vor einer Unterwanderung der Protestbewegung durch Islamisten.

Der Zug bewegt sich den Boulevard Mohammed V. hoch. Weit und breit kein einziger Polizist, selbst den Verkehr regeln die Demonstranten selbst. Sie stoppen um Mitternacht Autos, um in der belebten Innenstadt, wo nach dem Fastenbrechen überall Freunde und Familien zusammensitzen, die Straße für den Protest freizugeben. Kein nervöses Hupen. Keine Aggression. Viele zeigen Verständnis für die Demonstranten. Die meisten aber scheinen sich einfach zu wundern, dass in ihrer Stadt so etwas möglich ist: dass junge Menschen von den allmächtigen Behörden, vor denen man sich zu ducken gewohnt ist, öffentlich Rechenschaft fordern – über den Tod eines armen Schluckers, des Straßenhändlers Hamid Kanouni.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 28.08.2011

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