Die vergessenen Soldaten

Schuld ist „Klaus“. Wenn „Klaus“ nicht gewesen wäre, stünden sie jetzt nicht hier mit Pickel, Spaten und Vesperbrot. Wenn „Klaus“ nicht gewesen wäre, hätte die kleine Gruppe von Rentnern gar nicht zusammengefunden. „Klaus“ kam vor fünf Jahren vom Golf von Biskaya herüber, durchquerte Südfrankreich, um durch die Straße von Bonifacio, die Korsika und Sardinien trennt, zu entschwinden. Der Wirbelsturm hinterließ eine Schneise der Verwüstung. Beim Dörfchen Buglose, zwei Autostunden südlich von Bordeaux, bekannt für seine Wallfahrtskirche, entwurzelte er sämtliche Bäume. Er legte altes Gemäuer frei, das überwuchert im Wald versteckt lag, in einem Wald, den es nun nicht mehr gibt.

„Schon als Kind wusste ich von dem Lager“, erklärt Régine Daguinos, die 58-jährige Präsidentin des Vereins, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Geschichte des Ortes vor dem Vergessen zu bewahren. „Wenn mein Vater zur Schrotflinte griff, sagte er oft: ‚Heute jage ich beim ehemaligen Lager.'“ Gewiss, die Alten erinnern sich noch an die Afrikaner und die Deutschen, sagt die Präsidentin: Als das Lager nach Kriegsende geräumt wurde, rissen die Bauern die Holzbaracken ab. Man brauchte das Material. Es herrschte Mangel an allem. Nur die steinernen Fundamente ließen sie stehen. In den Jahrzehnten danach eroberte sich die Natur das Gelände zurück – bis eben Klaus kam und den Wald hinwegfegte.

Jeden Mittwoch treffen sich nun die aktiven Mitglieder des Vereins, zehn Rentner, um das Gelände zu säubern, Fundamente freizulegen. Ihre Autos parken sie vor dem hölzernen Wachturm mit der Aufschrift „Arbeit Kommando Buglose“, den sie genau so rekonstruiert haben, wie er einst in der Landschaft stand. Hier arbeiteten vor siebzig Jahren Araber, Schwarzafrikaner und einige Asiaten – Männer aus den damaligen Kolonien Frankreichs, aus Algerien, Marokko, Tunesien, Senegal, Obervolta (heute Burkina Faso), Dahomey (Benin), Madagaskar und anderen Ländern Afrikas sowie aus Indochina (Vietnam, Kambodscha, Laos). Hinzu kamen Männer aus der Karibik, die zwar Franzosen waren, aber schwarze. Sie alle hatten in der französischen Armee gedient und waren in deutsche Gefangenschaft geraten.

Ein Arbeitseinsatz pro Woche

Im Mai 1940 war die deutsche Wehrmacht in Frankreich einmarschiert. Nach einem sechswöchigen Blitzkrieg kapitulierte die Regierung Daladier. Deutschland besetzte drei Fünftel des Landes, den Norden und Westen mit den Städten Paris und Bordeaux, während im Südosten mit den Städten Marseille und Lyon das Kollaborationsregime von Vichy, geführt von Marschall Philippe Pétain, installiert wurde. Eine halbe Million französischer Soldaten geriet in Gefangenschaft und wurde nach Deutschland verschleppt. Etwa 70 000 gefangen genommene Soldaten aber wurden in die Frontstalags, Front-Stammlager, in den besetzten Teil Frankreichs gebracht. Das Nazi-Regime wollte sie nicht in Deutschland haben – weil sie Araber, Schwarze oder Asiaten waren. Jedem Frontstalag waren eine Reihe Arbeitskommandos unterstellt. Das Arbeitskommando Buglose gehörte zum Frontstalag in Bayonne, einer Stadt im äußersten Südwesten Frankrechs. Es war eines der größeren Kommandos. An die 1 500 Kolonialsoldaten waren hier in Gefangenschaft.

Pierre Houpeau, 74 Jahre alt und mit Régine Daguinos verheiratet, vermutet verschiedene Motive für die Aussonderung der Kolonialsoldaten nach der Gefangennahme: „Die Nazis nahmen wohl an, dass die Afrikaner im kalten Klima Deutschlands weniger arbeiten würden als im milden Südwesten Frankreichs. Vielleicht befürchteten sie auch, dass sie Tropenkrankheiten einschleppen könnten. Vor allem aber hatten sie wohl Angst vor einer Vermischung von arischem und fremdem Blut. Auch mag die ’schwarze Schmach‘ eine Rolle gespielt haben.“ Denn unter den französischen Soldaten, die nach dem Ersten Weltkrieg ins Rheinland einmarschierten, waren viele Afrikaner, denen deutsche Nationalisten damals alle erdenklichen Grausamkeiten andichteten.

Houpeau, ehemaliger Angestellter bei der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft, ist der Historiker des Vereins. Na ja, Hobby-Historiker. Jedenfalls hat er sich im Militärarchiv von Paris wie im Archiv der Gemeinde Saint-Vincent-de-Paul, zu der Buglose heute gehört, schlau gemacht. Beim Internationalen Roten Kreuz hat er sich Dokumente besorgt, und er steht in regem Kontakt zur Historikerin Armelle Mabon, die ein Buch über die Kriegsgefangenen aus den französischen Kolonialgebieten verfasst hat. Es trägt den Untertitel: „Die vergessenen Gesichter des besetzten Frankreich“.

In jedem französischen Dorf steht ein Gedenkstein mit den Namen der „enfants morts pour la France“ – der „für Frankreich gestorbenen Kinder“ des Dorfes, womit Soldaten gemeint sind. Die rund 24 000 für Frankreich gefallenen Afrikaner werden allenfalls kollektiv erwähnt. Von den Gefangenen aber spricht man höchst selten. Vielleicht, weil sie an die Niederlage erinnern. Das Ehepaar Daguinos-Houpeau ist der harte Kern der Rentnergruppe, die sich zum Ziel gesetzt hat, jene Menschen in Erinnerung zu rufen, die fernab ihrer Heimat für Frankreich kämpften und hier unter deutscher Obhut hinter Stacheldraht lebten.

Es ist Mittwoch. Und neun der zehn aktiven Vereinsmitglieder sind hergekommen, um die Arbeiten der vergangenen Woche fortzusetzen. Zwei Männer legen ein Seil um einen freigelegten Baumstrunk und verknoten es mit der Anhängervorrichtung eines klapprigen Renaults. Doch der schafft es nicht, den hölzernen Stumpf aus dem Boden zu ziehen. Also zerhacken die beiden weiter mit Pickel und Schaufel die Wurzeln, die der Baum auf dem Boden einer ehemaligen Baracke geschlagen hat, deren Fundamente nun freigelegt werden sollen.

38 Baracken waren es, wie auf einer historischen Luftaufnahme von 1945 zu erkennen ist, die Houpeau mitgebracht hat: das Verwaltungsgebäude der Wehrmacht, Küchen, Latrinen, Waschräume, Wäscherei und weitere Gebäude auf der einen Seite, 20 Schlafbaracken auf der andern. Dazwischen ein Lazarett und der Appellplatz. Etwa ein Drittel der Grundmauern haben die Rentner der wild wuchernden Natur bereits wieder entrissen. Das zwölf Hektar große Lager sieht aus wie eine archäologische Ausgrabungsstätte: halbrunde Mauernischen einer Waschküche, Überreste der Kanalisation, die Fundamente eines Wachturms aus rostigem Eisen, überall stille Zeugen der traurigen Vergangenheit.

„Es gab im besetzten Teil Frankreichs Dutzende von Kriegsgefangenenlagern“, sagt Pierre Houpeau, „aber meines Wissens ist dieses hier das erste, das wieder freigelegt wird.“ Noch in diesem Jahr will der Verein wenigstens eine Baracke wieder herstellen, in Holz mit geteertem Dach und doppelstöckigen Betten. Alles so, wie es damals war. Auf dem Gelände soll eines Tages ein Museum entstehen. Doch das ist Zukunftsmusik. Erst einmal ist Knochenarbeit angesagt.

Guy Coussau stützt sich auf seinen Spaten. Blaue Jacke, blaue Arbeitshose, schwarze Baskenmütze, grüne Gummistiefel. Der Mann weiß anzupacken. Er hat in vielen Berufen gearbeitet, war Bauer, Waldarbeiter, Eisenbahner. Seine 78 Jahre sieht man ihm nicht an. Er ist der Älteste der Gruppe, aber er lässt keinen Mittwoch aus, ist immer dabei. Der Bauernhof seiner Eltern war nur einen Kilometer vom Lager entfernt. Coussau erinnert sich noch gut an die Baracken, an den Stacheldraht, an die Wachtürme mit den aufgepflanzten Maschinengewehren und an die schwarzen Männer. „Von deutschen Soldaten bewacht, schlugen sie in den Wäldern Holz“, berichtet er, „sie waren freundlich zu uns Kindern, aber wir mussten uns von ihnen fernhalten.“

In einer Bekanntmachung des Frontstalag von Bayonne „an die französische Zivilbevölkerung“ heißt es: „Es ist streng verboten, mit den Gefangenen in Beziehung zu treten und mit ihnen zu sprechen, sich von ihnen schriftliche Mitteilungen geben zu lassen, von ihnen Briefe oder Pakete entgegenzunehmen, um sie an Drittpersonen oder an die Post weiterzuleiten, oder ihnen Nahrungs- und Lebensmittel auszuhändigen. Wer diesem Befehl zuwiderhandelt oder in irgendeiner Weise die Flucht eines Gefangenen begünstigt, wird schwer bestraft. Mit dem Tod wird jede zivile Person bestraft, die einen geflüchteten Kriegsgefangenen beherbergt oder ihm Asyl gewährt.“

Etwa 50 Gefangene sind wohl aus dem Lager von Buglose über die kaum 50 Kilometer entfernte Demarkationslinie nach Vichy-Frankreich geflohen, bevor auch dieses im November 1942 von den Deutschen besetzt wurde. Mindestens drei Personen sind an Krankheiten gestorben, und mindestens einer wurde „durch einen Schuss in die Brust“ getötet, wie in einem Dokument festgehalten wird, das Houpeau aufgetrieben hat. Aber er steht noch ganz am Anfang seiner Recherchen.

Ein Stahlhelm, drei Pistolen

Mitten auf einem von Farn überwucherten Teil des Lagergeländes ist ein kleines Feld gerodet. „Das war der Friedhof“, sagt Coussau, „ich habe durch den Stacheldraht hindurch noch die weißen Kreuze gesehen, wenn ich zu meiner Großmutter gegangen bin, die im Nachbardorf wohnte.“ Hier wurden jedoch nicht afrikanische Soldaten der französischen Armee begraben, sondern Soldaten der Wehrmacht. Nach dem Sieg über Nazideutschland war Buglose von 1945 bis 1948 ein Kriegsgefangenenlager für Deutsche. Mitunter wurden sie von Schwarzafrikanern bewacht, die sich nach ihrer Flucht der Résistance angeschlossen hatten. 160 Gräber waren es ausweislich eines Dokuments der Gemeinde Saint-Vincent-de-Paul. Woran die Deutschen gestorben sind, ist nicht vermerkt. „Die sterblichen Überreste wurden 1962 exhumiert“, sagt Houpeau, „und dann in einer deutschen Kriegsgräberstätte nördlich von Bordeaux beerdigt.“

„Erinnert euch!“, heißt es auf einer Tafel, die der Verein der Rentner von Buglose auf dem Lagergelände angebracht, „hier haben Männer, die sich nie hier hätten befinden sollen, unter dem Wahnsinn anderer Männer gelitten.“ Es wird auch daran erinnert, dass nach dem Krieg hier deutsche Soldaten interniert waren. Und abschließend steht da in fetten Lettern: „Ni haine ni vengeance“. Weder Hass noch Rache. An zwei fremde Besucher, die im vergangenen Jahr auf dem Gelände des Lagers auftauchten, erinnert sich Houpeau noch gut. Der eine war Marokkaner, der andere ein Oberschlesier. Beide wollten nach dem Ort sehen, auf dem ihre Väter – zu verschiedenen Zeiten – einst hinter Stacheldraht gehalten wurden.

Eine Stacheldrahtrolle, komplett verrostet, liegt in einem Zimmer des früheren Rathauses von Saint-Vincent-de-Paul. Es ist nur eine von vielen Trouvaillen, die die Rentner bei ihren Arbeiten auf dem Gelände des Lagers entdeckt haben, und die nun hier in der Schatzkammer des Vereins aufgehoben werden. Als weitere Exponate für das künftige Museum sind eingelagert: eine Sardinendose, ein Dutzend Patronenhülsen, Stoffgamaschen, ein Tintenfass, eine Feldflasche, Holzkohle, eine Tube Zahnpasta und – vom Rost zerfressen – ein Stahlhelm und drei Pistolen. Es ist gut möglich, dass all dies einem interessierten Publikum noch in diesem Jahr in der Baracke gezeigt wird, die der Verein auf dem Lagergelände in den kommenden Monaten wieder herrichten will.

Doch es wird ein Museum auf Abruf sein. Die französische Eisenbahngesellschaft plant zwischen Bordeaux und dem spanischen Baskenland eine neue TGV-Linie. Michel Bastiat, der Bürgermeister von Saint-Vincent-de-Paul, breitet die Farbkopie einer Karte im Maßstab von 1 : 10 000 aus, auf der die vom Staat beauftragten Ingenieure die 13 Meter breite Trasse genau eingetragen haben. Auf der einen Seite des Schienenstrangs standen einst die Verwaltungsgebäude der deutschen Wehrmacht, auf der andern die Baracken der Afrikaner. Der Hochgeschwindigkeitszug wird quer durch das ehemalige Kriegsgefangenenlager von Buglose brausen.

© Berliner Zeitung

Im publizierten Text hieß es, dass die Wehrmacht Frankreich überfallen habe. Im obigen Text wird – nach der zutreffenden Kritik eines Lesers nun präziser – vom Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich gesprochen.

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 13.03.2014

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