Für die allermeisten Italiener kam die Botschaft wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Am 25. Juli 1943 verlas der Rundfunksprecher zwei Proklamationen. In der ersten gab König Viktor Emanuel III. bekannt, er habe den Rücktritt von Benito Mussolini angenommen. In der zweiten ließ Marschall Pietro Badoglio verlauten, dass er „auf Befehl Seiner Majestät des Königs und Kaisers“ die Regierung übernommen habe. Und dann sagte er noch: „Der Krieg geht weiter.“ Er meinte: Der Krieg gegen die Alliierten wird weitergeführt.
Aber dies schien schon zweitrangig. Noch in der Nacht zogen in Rom und anderen Städten Gruppen von Demonstranten durch die Straßen, um den Sturz des Duce und das Ende von 21 Jahren Tyrannei zu feiern. Badoglio gestand den Italienern 24 Stunden Freiheit zu. In Rom stürmte die Menge den Palazzo Venezia, Mussolinis Amtssitz. Überall in Italien wurden Büsten des Diktators zerstört und politische Gefangene befreit.
Am folgenden Tag ordnete Badoglio dann wieder Normalität an. In allen Kasernen des Landes wurde sein Befehl verlesen: „Jede auch nur geringste Störung der öffentlichen Ordnung, von welcher Seite sie auch immer komme, bedeutet Verrat (…) Wenig Blut, das am Anfang vergossen wird, erspart später Ströme von Blut.“ Und schon bald gab es die ersten Toten: neun in Reggio, 23 in Bari.
Wie aber kam es zur spektakulären Sturz des Duce? Italien befand sich im Sommer 1943 in einer schwierigen Lage. Im Mai hatte die „Heeresgruppe Afrika“ kapituliert – 250000 deutsche und italienische Soldaten waren in Gefangenschaft geraten. Am 10. Juli waren die Alliierten in Sizilien gelandet.
Flugblätter und Bomben
Am 19. Juli treffen sich Mussolini und Hitler bei Feltre in Venetien. Der Deutsche lässt sich in seinem Redeschwall kaum bremsen. Der Italiener merkt bald, dass seine Wünsche nach militärischer Unterstützung auf taube Ohren stoßen. Hitler braucht seine Panzer und Flugzeuge selbst an der Ostfront, wo die Sowjets nach ihrem Sieg in Stalingrad überall gegen den Westen vorstoßen. Die Begegnung zwischen Führer und Duce endet ohne Ergebnis.
Noch während der Gespräche in Feltre wird Rom zum erstenmal massiv bombardiert. Auf seinem Rückflug in die Hauptstadt sieht Mussolini die dicken Rauchschwaden von Dutzenden brennender Eisenbahnwaggons und Lokomotiven. Kaum gelandet, macht er sich zur Villa Torlonia auf, seiner Privatresidenz.
„Auf der Straße begegnete ich einer Unzahl von Menschen, die sich zu Fuß oder mit irgendeinem Gefährt aufs Land flüchteten“, schreibt er einen Monat später, als er schon inhaftiert ist, „die Stadt bot einen trostlosen Anblick. Lange Schlangen von Leuten standen vor den Brunnen, weil die Wasserleitungen zerstört waren.“
Schon zwei Tage zuvor sind alliierte Flugzeuge über Rom aufgetaucht. Doch sie haben nur Flugblätter abgeworfen. „Mussolini riss euch in den Krieg, als er glaubte, Hitler habe ihn bereits gewonnen“, hieß es in der Botschaft von Roosevelt und Churchill, die mit den Worten schließt: „Die Zeit ist gekommen, da ihr entscheiden müsst, ob Italiener für Mussolini und Hitler sterben oder für Italien und die Zivilisation leben wollen.“
Ähnliche Gedanken macht man sich auch in der Armeeführung, am Hof und in den obersten Kreisen der faschistischen Nomenklatura. In zahlreichen Geheimgesprächen werden Kontakte geknüpft, Lösungen sondiert. Absetzbewegungen zeichnen sich ab.
Die entscheidende Initiative ergreift Dino Grandi, Präsident der großen Kammer des Parlaments. Grandi, ein Faschist der ersten Stunde, zeitweilig Außenminister, dann Botschafter in London, später Erziehungsminister, bildete in der Partei oft den Gegenpol zum Duce. Nun drängt er auf die Einberufung des Großen Faschistischen Rates, eines Gremiums, das sowohl Partei- wie Staatsorgan ist und geheim zu tagen pflegt.
Mussolini, der weiß, dass Grandi seine Absetzung betreibt, schlägt die Warnungen seiner Freunde in den Wind und beruft für Sonnabend, den 24. Juli, eine Sitzung des Großen Faschistischen Rates ein. Offenbar ist er überzeugt, aus ihr gestärkt hervorzugehen.
Um 17 Uhr treffen sich sämtliche 28 Mitglieder des Gremiums – alle in schwarzen Uniformen – im Palazzo Venezia. Der Duce eröffnet die Sitzung mit einer anderthalbstündigen ausschweifenden Rede, wobei er noch mehr als gewöhnlich mit den Händen fuchtelt. Schließlich kommt er zum Punkt. „Dieser Krieg“, sagt er, „ist nicht populär, aber das trifft auf alle Kriege zu. Der Verlust einer Provinz bedeutet nicht die Niederlage. Wenn nötig, wird die Hauptstadt in die Po-Ebene verlegt. Die Treue zu den Deutschen steht nicht zur Debatte.“ Abschließend warnt er davor, der Eingabe Grandis zuzustimmen. Dies könne das Ende des Regimes bedeuten.
Grandi schlägt vor, dem König das Oberkommando, das er bei Italiens Kriegseintritt an Mussolini abgegeben hat, wieder zu übertragen und ihm auch die oberste politische Entscheidungsgewalt zuzubilligen. Faktisch, das wissen alle im Saal, bedeutet dies die Entmachtung Mussolinis. Um Mitternacht schlägt Parteichef Carlo Scorza eine Verschiebung der Sitzung vor. Grandi: „Diesen Saal dürfen wir nicht ohne Entscheidung verlassen, selbst wenn wir eine ganze Woche hier bleiben müssen. Es geht um die Zukunft des Landes, und während wir hier diskutieren, sterben im Kampf italienische Soldaten.“
Auch Mussolini will eine Entscheidung. Als nach zehn Stunden am 25. Juli um drei Uhr früh schließlich abgestimmt wird, fällt das Resultat überraschend eindeutig aus. 19 der Ratsmitglieder sprechen sich für die Eingabe Grandis aus, sieben dagegen, zwei enthalten sich.
Auch Galeazzo Ciano, Mussolinis Schwiegersohn, unterstützt Grandi. Ein halbes Jahr zuvor war er noch Außenminister. Doch als er auf einen Separatfrieden mit den Alliierten hinarbeitete, wurde er vom Duce auf den Posten eines Botschafters beim Vatikan abgeschoben. Wegen seines Votums wird er später auf Betreiben Mussolinis zum Tod verurteilt werden.
„Die Sitzung ist geschlossen“, verkündet der Duce, geht ins Büro und ruft von dort seine Geliebte, Clara Petacci, an. Er teilt ihr mit, dass sein Stern im Sinken begriffen sei. Zu Hause trifft er seine Frau Rachele, die auf dem Balkon auf ihn gewartet hat. „Sie wollen ihre Haut auf meine Kosten retten“, sagte er ihr, „sie werden alles versuchen, aber noch lebe ich.“
Um acht Uhr früh geht er, wie gewohnt, in sein Büro. Es ist Sonntag. Am Mittag bittet er König Viktor Emanuel III. um Vorverlegung der üblichen Montagsaudienz. Er möchte ihn noch am Sonntag treffen, um 17 Uhr. Der König willigt ein und beordert ihn zu seiner Privatresidenz, der Villa Savoia.
Die letzte Audienz
Dort trifft Mussolini in blauem Anzug und mit Schlapphut pünktlich ein. Er glaubt, den König überzeugen zu können, dass das nächtliche Votum nur konsultativen, nicht bindenden Charakter habe. Doch die Vorbereitungen seiner Festnahme haben Militärs und Carabinieri bereits getroffen.
Was sich der Monarch und der Duce bei ihrer letzten Begegnung gesagt haben, ist nur in der durchaus glaubhaften Version überliefert, die Mussolini im Sommer 1944 unter Pseudonym in der Mailänder Tageszeitung Corriere della Sera veröffentlichte. „Mein lieber Duce“, habe der König das Gespräch eröffnet, „es hat alles keinen Sinn mehr. Italien zerfällt. Die Moral der Armee ist am Boden. Die Soldaten wollen nicht mehr kämpfen (…). Zur Zeit seid Ihr der am meisten gehasste Mann Italiens.
Ein einziger Freund ist Euch geblieben: ich (…). Ihr braucht Euch um Eure körperliche Unversehrtheit nicht zu sorgen. Meiner Meinung nach ist Marschall Badoglio für die Stunde der richtige Mann. Er wird eine Regierung zusammenstellen und den Krieg fortsetzen.“
Er selbst, berichtet Mussolini, habe dem König geantwortet: „Eine Regierungskrise in diesem Moment würde das Volk glauben machen, der Friede sei in Sichtweite, sobald der Mann, der den Krieg erklärt hat, entlassen wird. Es wird für die Moral der Truppe ein schwerer Schlag sein (…). Die Krise wird als Triumph des Gespanns Churchill-Stalin begriffen werden, vor allem des letztgenannten, der den Rückzug eines Gegners sieht, der 20 Jahre gegen ihn gekämpft hat. Ich bin mir über den Hass des Volkes im Klaren (…) Auf jeden Fall wünsche ich dem Mann, der diese Lage meistern will, viel Glück.“
Das Gespräch dauerte höchstens eine Viertelstunde. Dann begleitete der König den Duce, dem er 21 Jahre zuvor die Regierung anvertraut hatte, bis zur Türschwelle, reichte ihm die Hand und verschwand in seinem Palast.
Als Mussolini zu seinem Auto gehen wollte, kam ihm ein Hauptmann der Carabinieri entgegen. „Duce, im Namen Seiner Majestät des Königs, bitten wir Euch, uns zu folgen, um Euch vor allfälligen Gewaltausbrüchen der Menge zu schützen.“ – „Ist nicht nötig“, antwortete Mussolini. „Duce, ich habe einen Befehl auszuführen“, erwiderte der Hauptmann, ergriff ihn sachte am Ellbogen und half ihm, in einen Rettungswagen einzusteigen. Dann setzten sich noch ein halbes Dutzend Carabinieri ins Auto, das mit hoher Geschwindigkeit davonfuhr.
Epilog
Mussolini wurde in eine Kaserne gebracht, zwei Tage später auf der Insel Ponza vor Gaeta interniert, danach auf die Insel La Maddalena vor Sardinien überführt und schließlich aus Angst vor einer Befreiungsaktion der Deutschen in einer Berghütte auf dem Gran Sasso d’Italia, dem höchsten Berg Mittelitaliens, untergebracht. Wenige Tage, nachdem sein Nachfolger Badoglio, der erst den Krieg gegen die Alliierten fortgesetzt hatte, in einen Waffenstillstand einwilligte, befreite ihn am 12. September ein SS-Kommando. Nun wurde Mussolini Chef der Italienischen Sozialrepublik, eines Vasallenstaats von Hitlers Gnaden mit Sitz in Salo am Gardasee. Ende April 1945, in den letzten Kriegstagen, wurde der Duce auf der Flucht in die Schweiz von italienischen Partisanen gefasst und am folgenden Tag erschossen.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 22.07.2013