Der „Wettlauf um Afrika“ ging seinem Ende entgegen. In einem Bündnis, das sie „Entente cordiale“ („Herzliches Einverständnis“) nannten, hatten sich das Vereinigte Königreich und Frankreich 1904 auf die Abgrenzung ihrer Einflusssphären geeinigt: Ägypten sollte an die Briten fallen und Marokko an die Franzosen, die sich bereits Algerien und Tunesien unterworfen hatten. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges war ganz Nordafrika unter Kontrolle der europäischen Kolonialmächte – mit Ausnahme Tripolitaniens und der Cyrenaika, der beiden Provinzen des Osmanischen Reiches, die später zu Libyen vereinigt wurden und auf die Italien schon lange ein Auge geworfen hatte.
Vor allem die Associazione Nazionalista Italiana rührte die Trommel für einen Libyen-Feldzug. Im Juni 1911 hatte ihr Gründer, Enrico Corradini, die Region bereist und den Daheimgebliebenen den ärmsten Streifen der nordafrikanischen Küste, der vor allem ein Wüstengebiet ist, in den schillerndsten Farben geschildert. „Was für dichte Olivenbäume“, schrieb er entzückt, „dunkel, unbeschnitten, wild und voll mit Oliven! Weinstöcke, die das Gewicht der Trauben auf den Boden drückt. Nichts von Wüste! Wir sind im gelobten Land.“ Die Nationalisten priesen die Größe des antiken Römischen Reiches, von der an der nordafrikanische Küste noch überall Säulen, Amphitheater, Ruinenstädte kündeten. Und manch einer träumte wohl vom „Mare nostrum“, dem Mittelmeer als einem italienischen Binnengewässer.
Der Klerus sprach von einer Mission, die die katholische Kirche in Nordafrika zu erfüllen habe, und schlug mitunter Töne an, die an einen Kreuzzug gemahnten, sodass sich schließlich der Osservatore Romano, das Sprachrohr des Vatikans, zur Feststellung genötigt sah, es handele sich immerhin nicht um einen „heiligen Krieg“. Selbst die Sozialistische Partei war in der Libyen-Frage gespalten. Während ihr Gründer, Filippo Turati, sich gegen eine Invasion aussprach, waren prominente Parlamentarier wie Leonida Bissolati und Ivanoe Bonomi dafür – weshalb sie 1912 aus der Partei ausgeschlossen wurden. Offiziell wurde die Maßnahme allerdings damit begründet, dass beide den König Vittorio Emmanuele III. zu einem überstandenen Attentat beglückwünscht hatten, was man als aufrechter Republikaner tunlichst zu unterlassen hatte.
Einer der vehementesten Kriegsgegner unter den Sozialisten war Benito Mussolini. In Forlì, seiner Heimatstadt, organisierte er einen Generalstreik gegen den Feldzug. Um die Abreise von Soldaten in den Krieg zu verhindern, ließ er Bahnschienen und Telegrafenleitungen sabotieren, was ihm fünf Monate Gefängnis einbrachte. Als er 1912 auf freien Fuß kam, wurde er Chefredakteur des Avanti!, des offiziellen Organs der Sozialistischen Partei.
In diesem nationalistisch aufgewühlten Klima stellte also Ministerpräsident Giovanni Giolitti am 26. September der Hohen Pforte in Istanbul ein Ultimatum. Giolitti, ein Liberaler, stand einem Mitte-Links-Kabinett vor. Offensichtlich wollte er von innenpolitischen Problemen ablenken. Vielleicht hoffte er auch, mit der Kolonisierung Libyens den armen Bauern Süditaliens eine Alternative zum Weg über den Atlantik zu bieten. Über anderthalb Millionen Italiener waren im ersten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts nach Nord- und Südamerika ausgewandert.
„Die italienische Regierung“, so heißt es im Schreiben, das als „Ultimatum“ in die Geschichte eingegangen ist, „sieht sich nunmehr gezwungen, an den Schutz ihrer Würde und ihrer Interessen zu denken, und hat deshalb beschlossen, die militärische Besetzung Tripolitaniens und der Cyrenaika in Angriff zu nehmen (…) Sie erwartet, dass die kaiserliche Regierung entsprechende Befehle erteilt, sodass von den derzeitigen osmanischen Repräsentanten keine Opposition zu gewärtigen ist.“ Es war kein Ultimatum mit Bedingungen, deren Erfüllung etwas hätte abwenden können. Es war eine schlichte Aufforderung zur bedingungslosen Kapitulation. Italien machte sich nicht einmal die Mühe, einen „Casus Belli“ zu erfinden.
Das Telegramm mit dem „Ultimatum“ aus Rom trifft beim italienischen Botschafter in Istanbul am Nachmittag des 28. Septembers ein. Sultan Mehmet V. weist das Ansinnen zurück. In ihrem Antwortschreiben bietet die Hohe Pforte alle Garantien an, damit Italien in Libyen wirtschaftlich expandieren kann, aber auf die territoriale Integrität verzichtet sie nicht. Am 29. September erklärt Italien dem Osmanischen Reich förmlich den Krieg.
Von den mehr als 800 italienischen Staatsbürgern in Tripolis haben zu diesem Zeitpunkt bereits 650 die Stadt verlassen. Die letzten 165 begeben sich, angeführt vom italienischen Konsul, erst jetzt nach Ausrufung des Kriegszustandes – unter dem Schutz der türkischen Bajonette! – zum Hafen, wo sie ein Schiff besteigen, das sie in die Heimat bringt.
Am 3. und 4. Oktober wird Tripolis von der See her sturmreif geschossen. Am 5. April geht Admiral Umberto Cagni mit 1732 Marinesoldaten an Land und besetzt die Stadt – das Gros des 35000 Mann starken Expeditionscorps befindet sich zu diesem Zeitpunkt noch immer in Neapel und Palermo. „Die Araber betrachten uns von ihren Türschwellen aus neugierig und mit Respekt“, schreibt Giuseppe Bevione, Kriegskorrespondent der Turiner Tageszeitung La Stampa, „sie grüßen uns lächelnd und heißen uns willkommen.“ Die Prophezeiung der Nationalisten, die Araber würden, befreit vom türkischen Joch, die italienischen Soldaten mit offenen Armen empfangen, scheint sich zu bewahrheiten. In den ersten sieben Tagen nach der Landung bleibt es – abgesehen von einem kurzen Schusswechsel – ruhig. Mitte Oktober sind die wichtigsten Hafenstädte Tripolitaniens und der Cyreneika unter italienischer Kontrolle.
Doch der Gegenangriff lässt nicht lange auf sich warten. Und Gefangene werden keine gemacht. Wenige Kilometer außerhalb der Stadt, mitten in der Oase von Tripolis, werden von Arabern und Türken, die zum Erstaunen der Italiener gemeinsam kämpfen, ganze Einheiten der Invasionsarmee aufgerieben und rund 500 Soldaten getötet. Die Rache ist furchtbar. Die Italiener richten 4000 Männer und 400Frauen kaltblütig hin und verschleppen Tausende Araber nach Italien, wo sie auf Inseln in Lagern gehalten werden. Dort sterben viele an Entkräftung, schlechter Ernährung oder Krankheiten wie Cholera.
Jetzt wo die Araber ihre früheren muslimischen Herren im Kampf gegen die christlichen Invasoren unterstützen, trifft die Repression der Italiener immer häufiger unschuldige Zivilisten. Es geht um kollektive Bestrafung, um Vergeltung, um Einschüchterung. Auch beim ersten Luftangriff der Geschichte: Der junge Leutnant Giulio Gavotti hebt am 1.November 1911 mit seiner „Etrich Taube“, einem klapprigen Eindecker mit Holzgestell und Stoffbespannung, in Tripolis ab. „Ich habe beschlossen“, schreibt er seinem Vater, „heute Bomben vom Flugzeug abzuwerfen. Es ist das erste Mal, dass so etwas versucht wird (…) Neben dem Sitz habe ich ein kleines ledernes Köfferchen festgenagelt. Dessen Boden ist mit Watte gepolstert, und darauf habe ich vorsichtig die Bomben gelegt. Es sind kugelförmige Bomben, die etwa anderthalb Kilo wiegen. Drei habe ich im Köfferchen und eine weitere in der Tasche meiner Lederjacke. In einer anderen Tasche habe ich ein Schächtelchen mit vier Zündern“.
Dann rückt das Ziel näher. „Mit einer Hand halte ich das Steuer, mit der anderen nehme ich eine Bombe aus der Schachtel, lege sie auf meinen Schoß. Ich nehme einen Zünder aus dem Schächtelchen, stecke ihn in die Bombe und schaue nach unten. Ich bin bereit. Ich sehe die arabischen Zelte ganz genau. Es sind zwei Lager, eines mit etwa 200Menschen, das andere mit 50. Kurz bevor ich über ihnen bin, packe ich die Bombe mit meiner rechten Hand, mit den Zähnen entsichere ich den Zünder und werfe die Bombe über den Flügel hinweg nach unten. Nach einem kurzen Augenblick sehe ich über dem kleinen Lager ein dunkles Wölkchen. Ich hatte eigentlich auf das große gezielt. Aber glücklich bin ich dennoch. Ich habe getroffen.“
Ein Jahr und 6000 Tote später, am 15. Oktober 1912, unterzeichnet das Osmanische Reich den Friedensvertrag von Ouchy und tritt Tripolitanien und die Cyreneika an Italien ab. Der Krieg mit den Türken ist damit zu Ende, nicht aber jener mit den einheimischen Arabern, die schnell an Boden gewinnen. Im Sommer 1915 kontrollieren die Italiener nur noch vier Hafenstädte.
Eine Wende zeichnet sich erst nach der Machtergreifung Mussolinis 1922 ab, des Mannes, der einst gegen den Krieg auf die Barrikaden ging. Unter dem Duce werden die Stämme nicht mehr unterworfen, sondern – auch unter Einsatz von Giftgas – vertrieben, um italienischen Kolonisten Platz zu machen. In der Cyreneika werden rund 100000 Halbnomaden in 15 Konzentrationslager in die Wüste deportiert. Doch erst 1931 gelingt es den Faschisten, den Anführer des Widerstands, Omar Mukhtar, festzunehmen. Der fast 70-jährige „Löwe der Wüste“ fällt bei einem Gefecht vom Pferd, wird festgenommen, in Ketten gelegt und in Bengasi öffentlich gehenkt. Im Januar 1932 – über 20 Jahre nach der Invasion – meldet Marschall Pietro Badoglio, Generalgouverneur von Libyen, nach Rom dass die Rebellion „komplett und definitiv“ niedergeschlagen ist. Etwa 100000 Libyer, über ein Zehntel der Bevölkerung, bezahlten das „libysche Abenteuer“, wie es in der italienischen Geschichtsschreibung mitunter noch immer heißt, mit ihrem Leben.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 24.09.2011