Erdbeben, Cholera, Wirbelstürme, Überschwemmungen – und nun die Unruhen nach den manipulierten Wahlen. Auf Haiti scheint ein Fluch zu lasten. Kein Lichtstreifen am Horizont, keine Hoffnung. Das war nicht immer so. Vor 20 Jahren herrschte im Karibikstaat eine Aufbruchstimmung, die sich Haitianer heute kaum noch vorstellen können. Die meisten Haitianer glaubten, endlich dem Teufelskreis von Gewalt und Elend zu entkommen. Nach 30 Jahren Diktatur von François und Jean-Claude Duvalier – „Papa Doc“ und „Baby Doc“, während der mindestens 30000 Menschen ermordet wurden, und nach fünf weiteren Jahren Militärherrschaft war der Armenpriester Jean-Bertrand Aristide bei den ersten freien und fairen Wahlen des Landes am 16. Dezember 1990 mit mehr als 67 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt worden. Es war eine Zäsur in der Geschichte Haitis. Nach der Herrschaft blutrünstiger Diktatoren, die das Land gnadenlos ausgeplündert und immer nur in die eigene Tasche gewirtschaftet hatten, versprach sich das Volk vom schmächtigen Salesianerpater so etwas wie blühende Landschaften.
Geboren wurde Aristide 1953 in Port-Salut, einem kleinen Ort im äußersten Südwesten Haitis. Seine Eltern waren arme Kleinbauern. Er war drei Monate alt, als sein Vater starb. Mit der Mutter und der älteren Schwester zog er danach in die Hauptstadt Port-au-Prince, wo er bei den Salesianern in die Schule ging. 1966 trat er ins Priesterseminar des Ordens ein. Nach einem einjährigen Noviziat in der benachbarten Dominikanischen Republik studierte er in Port-au-Prince Philosophie und Psychologie. 1982 erhielt Aristide die Priesterweihe. Als er in Predigten die Duvalier-Diktatur angriff, schickte ihn der Orden für drei Jahre ins kanadische Exil. Dort erwarb er einen Magister in biblischer Theologie. 1985 kehrte auf die Insel zurück und wurde Pfarrer der Kirche Saint-Jean-Bosco am Rand von La Saline, einem der trostlosesten Elendsviertel der Hauptstadt. Noch herrschte „Baby Doc“ über das Land. Doch Aristide nahm kein Blatt vor den Mund. Und so wurde der unerschrockene Priester und mutige Prediger schon bald zum bekanntesten Vertreter der „ti legliz“, wörtlich der „kleinen Kirche“, der Kirche der Armen, die sich an der Befreiungstheologie orientierte und wesentlich zum Sturz der Duvalier-Diktatur beitrug.
Als „Baby Doc“ im Frühjahr 1986 vor einem Volksaufstand ins Exil floh, übernahm die Armee die Macht. An der Repression änderte sich wenig. Folter und Mord blieben auf der Tagesordnung. Jeden Dienstag wurden die Besucher von Aristides Jugendgottesdienst vor der kleinen Kirche Saint-Jean-Bosco mit einem Steinhagel empfangen. Oft fielen auch Schüsse. Im Oktober 1988 griffen rund hundert zivile Schergen des Regimes während eines Gottesdienstes die Gläubigen an, töteten mit Äxten und Macheten zwölf Personen und setzten die Kirche in Brand. Aristide blieb unverletzt.
Zwei Monate nach dem Attentat wurde Aristide aus dem Orden der Salesianer ausgeschlossen – wegen „Aufwiegelung zu Hass und Gewalt und Beschwörung des Klassenkampfs“. Das Verdikt des Generalsuperiors der Salesianer wurde von der zuständigen vatikanischen Kongregation abgesegnet. Dem Ansehen des populären Armenpriesters tat dies keinen Abbruch, hatte er doch schon seit Langem die Kollaboration des hohen Klerus mit der Diktatur angeprangert. Im Jahr 1990 mussten die Militärs, vor allem unter dem Druck der USA, Wahlen zulassen. Erst als zwei Monate vor dem Urnengang eine Duvalieristische Partei gegründet wurde, die Roger Lafontant, den aus dem Exil zurückgekehrten ehemaligen Innenminister „Baby Docs“, als Präsidentschaftskandidaten aufstellte, schickte die Linke Aristide ins Rennen. Der Armenpriester erhielt gleich in der ersten Wahlrunde über zwei Drittel aller Stimmen.
Im Februar 1991 trat Aristide sein Amt an. Er erhöhte den Mindestlohn um 50 Prozent auf sieben US-Dollar täglich, setzte Preissenkungen für wichtige Lebensmittel durch. Aber ein kohärentes Wirtschaftsprogramm hatte er nicht. Außerdem blockierte das Parlament die meisten seiner Gesetzesvorhaben. Die Hoffnung in den Elendsvierteln war groß – groß aber war auch die Angst der wohlhabenden Wirtschaftselite des Landes, die sich mit der Diktatur gut arrangiert hatte. Im September 1991 zirkulierte in Haiti ein Video-Film, der die Obsessionen der Oberschicht unterfütterte. Da ist ein Aristide im weißen Anzug zu sehen, der vor seinen Anhängern eine feurige Rede hält und „Père Lebrun“ huldigt. „Ein schönes Instrument“, sagt er, „es riecht auch so gut.“ Lebrun ist der größte Reifenhersteller Haitis, und „Père Lebrun“ ist die Form der Lynchjustiz, bei der dem Opfer ein brennender Autoreifen um den Hals gelegt wird. Im September lynchten Anhänger Aristides den evangelischen Pastor Sylvio Claude, einen der historischen Oppositionsführer während der Duvalier-Diktatur, der zugleich ein scharfer Kritiker des neuen Präsidenten war.
Aristide konnte sich keine acht Monate an der Macht halten. Ende September 1990 putschten die Militärs erneut. Der Präsident konnte sich in letzter Minute nach Venezuela absetzen und ging danach ins Exil in die USA. Vor dem Terror der Diktatur von General Raoul Cédras, dem über 5000Haitianer zum Opfer fielen, flüchteten Zehntausende Haitianer in Booten übers offene Meer. Die meisten der „Boat-People“ wurden vor der Küste Floridas abgefangen und auf die US-Basis Guantßnamo gebracht. Die Massenflucht der unerwünschten Haitianer war wohl der Hauptgrund für eine von der Uno abgesegnete militärische Intervention der USA. 1994 landeten 23000 US-Soldaten auf Haiti und brachten Aristide in sein Amt zurück. Cédras durfte nach Panama ausreisen.
Als erste Amtshandlung löste der zurückgekehrte Präsident die stets putschbereite Armee auf. Das kam bei den Massen an. Doch der populäre Staatschef entpuppte sich immer mehr als Populist. Der Staat war für ihn wie eine große Kirchengemeinde. Da stand er, der Priester oder Präsident, und dort das Volk, das ihn wie einen Messias verehrte. Dazwischen nichts. Aristide liebte den direkten Draht zu den Massen. Von Instanzen und Institutionen, von Parteien und Parlament, die sich zwischen ihn und das Volk drängten, hielt er nichts. Anderthalb Jahre nach seiner triumphalen Rückkehr lief sein Mandat ab, und er überließ seinem Zögling René Préval das Ruder.
Im November 2000 kandidierte Aristide erneut fürs Präsidentenamt. Er gewann 92 Prozent der Stimmen – bei einer Wahlbeteiligung von vermutlich rund fünf Prozent. Die Opposition, die seine Rückkehr aus dem Exil betrieben hatte, hatte zum Boykott aufgerufen, nachdem ein halbes Jahr zuvor die Parlamentswahlen vom Aristide-Lager so grob gefälscht worden waren, dass sich der 78-jährige Präsident der Wahlkommission in die USA absetzte und aus dem sicheren Exil erklärte, er weigere sich, die Resultate des betrügerischen Urnengangs bekanntzugeben. In den Elendsvierteln aber hatte Aristide weiterhin eine solide Basis. Dass sich der ehemalige Armenpriester am Stadtrand eine luxuriöse Villa gebaut hatte, nahm ihm seine Gefolgschaft nicht übel. Auch nicht, dass er das Priesteramt gegen den Ehering eingetauscht hatte. Mehr Murren verursachte hingegen, dass er im Exil ausgerechnet eine Mulattin geheiratet hatte. Die Mulatten bilden in Haiti traditionell die begüterte Oberschicht, gegen die Aristide einst die Armen mobilisiert hatte.
Dieser Oberschicht war der schwarze Präsident schlicht ein Gräuel. Aber auch die politische Opposition wehrte sich nun entschieden gegen Aristides selbstherrlichen Regierungsstil. Der Präsident reagierte, wie es in Haiti üble Tradition ist – mit Einschüchterung und Repression. Er setzte seine „Chimären“ ein, bewaffnete Gangs von Jugendlichen, hervorgegangen in der Regel aus den „Volksorganisationen“ von „Lavalas“ („Erdrutsch“), der amorphen sozialen Bewegung, die einst Aristide an die Macht gespült hatte. Die vom Regime bewaffneten Habenichtse aus den Elendsvierteln sprengten Demonstrationen, setzten Häuser von Oppositionellen in Brand und verbreiteten Terror, wo sich Widerstand regte.
Die Gangs trugen furchterregende Namen wie „Armee der Eisensäge“, „Armee Al Kaida“ oder „Armee der spanischen Wespen“. Auch die „Armee der Kannibalen“, die in Gonaives, der drittgrößten Stadt des Landes, zu Hause war, verstand sich als Stoßtrupp des Präsidenten.
Doch dann wurde im September 2003 die grausam verstümmelte Leiche von Amiot Métayer, dem Führer der „Kannibalen“, aufgefunden. Die Amerikaner hatten auf seiner Auslieferung bestanden. Vermutlich hatte er gedroht, im Fall einer Festnahme sein Wissen über die Bewaffnung der Chimären und die Verstrickung der Entourage Aristides in den Drogenhandel preiszugeben und war vom Regime zum Schweigen gebracht worden. Die „Kannibalen“ waren empört, kündigten Aristide die Gefolgschaft auf und brannten in Gonaives das Büro seiner Partei und die Polizeistation nieder. Auch in Port-au-Prince machte sich unter einigen Gangs Unzufriedenheit breit. Immer häufiger bekämpften sich die Banden gegenseitig, machten sich das Terrain streitig und auch die Kontrolle des Drogenhandels.
Im zentralen Hochland Haitis tauchten zudem Ende 2003 uniformierte Soldaten der neun Jahre zuvor aufgelösten Armee auf. Ihr Anführer, Guy Philippe, war unter Aristide einst Polizeichef in Cap Haitien, der zweitgrößten Stadt des Landes, gewesen. Die zu Beginn nur etwa hundert Mann starke Truppe nahm nun Stadt nach Stadt ein, wurde von Tag zu Tag größer. Als sie vor den Toren von Port-au-Prince stand, gab Aristide auf, unterzeichnete eine Rücktrittserklärung, bestieg ein US-Flugzeug und ließ sich in die Zentralafrikanische Republik ausfliegen. Heute lebt er mit seiner Frau und den beiden Töchtern in Südafrika.
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 11.12.201