Erich Brammertz war knapp 30 Jahre alt, als er mit seiner Familie nach Südamerika auswanderte. Für die Sulzer, bei der er als Maschineningenieur gearbeitet hatte, ging er 1963 nach Peru. Peter, sein Sohn, damals fünf, erinnert sich noch gut an die lange Schiffsreise: „Den interkontinentalen Massentourismus gab es noch nicht, Flüge waren teuer, also schifften wir uns in La Rochelle ein, fuhren über den Atlantik, durch den Panamakanal und kamen nach drei Wochen in Lima an.“ 1967 machte Erich Brammertz sich in Peru selbständig. „Am Anfang war es ein ‘Chrampf’“, sagt seine frühere Ehefrau Gerda, die heute im Solothurnischen lebt, „aber später lief das Geschäft ganz gut, vor allem die letzten vier Jahre vor unserer Scheidung.“ Die war im Januar 1993.
Erich Brammertz heiratete ein halbes Jahr danach Flormira Marin. Das Bild der beiden ziert die Frontseite der neuesten Ausgabe von „Orden“ (Ordnung), der „ersten kriminalpolizeilichen Zeitung Perus“, wie es im Untertitel heisst. Auf dem Foto legt der Schweizer der Peruanerin den Arm um die Schulter. Vier von insgesamt zwölf Seiten der Postille, die einmal im Monat erscheint, sind dem Fall Brammertz gewidmet. Das war schon in den beiden Ausgaben zuvor so. Auch in jenen Nummern ziert ein Foto des glücklichen Paars die Frontseite: Erich, wie er die Hand auf Flormiras Knie legt. Erich und Flormira am Hochzeittag. Und die Bildunterschriften verkünden: „Der Schweizer Unternehmer Erich Brammertz und seine angebetete, schöne und zärtliche Gattin Flormira Marin“, „Erich und Flormira bei einer zärtlichen Demonstration ihrer Zuneigung und Liebe“, und „Erich und Flormira waren sehr glücklich, bis er Selbstmord beging“.
Dass der Schweizer Geschäftsmann fünf Jahre nach seinem Tod zu so viel publizistischen Ehren kommt, hat seine besondere Bewandtnis. In Lima läuft zur Zeit ein Mordprozess: Flormira ist angeklagt, ihren Erich ermordet zu haben. Gegen diese Behauptung läuft nun „Orden“ mit Dutzenden von Artikeln Sturm. Da heisst es, Flormira habe Erich immer geliebt, Erich habe über seine Kinder oft geweint, Peter habe seinem Vater immer nur Geld aus der Tasche ziehen wollen, Erichs Haushilfe habe ein Komplott geschmiedet, Gerda intrigiere gegen ihren früheren Ehemann. Und dann der ganz dicke Knüppel: Hinter dem Mordprozess stünden die Kreise um Vladimiro Montesinos.
Vladimiro Montesinos, faktischer Geheimdienstchef und eigentlicher Machthaber des im letzten Jahr gestürzten Regimes, sitzt heute in einem Hochsicherheitsgefängnis auf dem Marinestützpunkt El Callao bei Lima. Er muss sich wegen Mord, Folter, Erpressung, Wahlfälschung, aktiver und passiver Korruption verantworten. Sein ehemaliger Chef, Präsident Alberto Fujimori, hat sich vor einem Jahr nach Japan abgesetzt und von dort aus per Fax seinen Rücktritt bekanntgegeben. Dass Montesinos Richter zu Dutzenden bestach oder erpresste, ist aktenkundig. Anfang November behauptete Justizminister Fernando Olivera in einer Pressekonferenz, Montesinos ziehe auch aus seinem Gefängnis weiterhin die Fäden der Korruption. Dieser Montesinos also, in Peru Inbegriff von Diktatur und Terror schlechthin, soll – so behauptet „Orden“ unverfroren – die gute Flormira mit einem Mordprozess überzogen haben.
In den Hallen des mächtigen Justizpalastes von Lima ist es hingegen ein offenes Geheimnis, dass hinter dem Revolverblatt, das auf Montesinos schimpft, Kreise stehen, die mit der Mafia um Montesinos gerade verbandelt sind. Die Zeitung, versichert ein hoher Justizbeamter, der seine Anonymität wie so viele hier wahren will, werde in einer Auflage von knapp 200 gedruckt, im Justizpalast verteilt und nur an einem halben Dutzend Kiosken in der unmittelbaren Umgebung verkauft. Sie werde bloss produziert, um Signale auszusenden und Richter unter Druck zu setzen. Kein einziger Artikel ist namentlich gezeichnet. Und an der im Impressum angegebenen Redaktionsadresse findet sich keine Zeitung, dafür die Büros der drei Anwaltsbrüder Camacho Perla, von denen einer laut Impressum Justitiar des Blattes ist. Zu sprechen ist er nicht.
Am Donnerstag, dem 11. Juli 1996, kurz vor Mitternacht, klingelt bei Peter Brammertz in Zürich das Telefon. Am andern Ende meldet sich Hilda Maibach aus Lima. Die Sekretärin seines Vaters richtet ihm aus, dass dieser gestorben sei. „Man hat mir gesagt, es sei Selbsttötung“, präzisiert sie auf Nachfrage. Am Freitag früh besteigt Peter Brammertz eine KLM-Maschine und kommt noch am Abend desselben Tages in Lima an. Am Samstag macht er sich zusammen mit Maibach zur Kapelle auf, wo der Sarg aufgebahrt ist. Dort trifft er auf Flormira und ihre drei Kinder aus erster Ehe. Die Atmosphäre empfindet er als feindselig. Der Sekretärin ist es gelungen, gegen den Willen Flormira Marins eine Kremierung der Leiche zu verhindern und eine Erdbestattung durchzusetzen.
Am Samstag, zwei Tage nach dem Tod, findet Peter Brammertz im Büros seines Vaters einen Stoss von Briefen, die seine zweite Ehefrau an ihn geschrieben hat. Einige nimmt er im Original mit, andere kopiert er nur. Kurz nach der Beerdigung wird Flormira Marin in dasselbe Büro kommen und sich die Briefe, die sie noch vorfindet, abholen. Die Lektüre der Briefe erhärtet Peter Bammertz’ schrecklichen Verdacht, dass sein Vater sich nicht selbst umgebracht hat. „Liebe Flor“, schreibt Erich Brammertz zum Beispiel am 30. Juli 1994, die Hochzeit liegt gerade elf Monate zurück, „Du erinnerst Dich sicher an die schönen Tage, die wir jahrelang zusammen verbracht haben – bis vor kurzem, als Du begonnen hast, eine völlig ungewohnte Haltung an den Tag zu legen, mit haltlosen Argumenten Streit vom Zaun zu brechen, mich ohne jeden Grund anzuschreien, nachts Türen zuzuschlagen, um mich am Schlaf zu hindern, mich mit unerfüllbaren Forderungen zu belästigen und Dich in die Angelegenheiten der Firma Brammertz einzumischen (…). Diese Haltung (…) wird unweigerlich zum Ruin unserer Ehe führen und für Dich und Deine Kinder, für die Du, wie Du sagst, diese absurden Forderungen vorträgst, Elend bedeuten (…) Gestern kamst Du wieder mit einer Forderung, Du verlangtest, dass im Handelsregister die Besitztümer auf Deinen Namen überschrieben werden – und dies mit Ausdrücken, die ich hier besser nicht wiedergebe (…)“.
Die Besitztümer sind nicht wenige. Ausser der Firma, die vor allem Komponenten im Maschinenbausektor verkauft, sind es ein Haus in Miraflores, einem der wohlhabenderen Stadtteile Limas, eine zweistöckige Penthouse-Wohnung mit rund 500 Quadratmetern Wohnfläche in bester Lage und mit Ausblick auf das Meer sowie ein Grundstück, auf dem Erich Brammertz ein 17-stöckiges Hochhaus bauen wollte. Der Streit zwischen den Eheleuten zieht sich hin, und immer wieder bittet Flormira Marin ihren Ehemann, ihr Geld zu überweisen und Besitzrechte an sie abzutreten. Vor allem an der Luxuswohnung ist ihr gelegen. „Ich möchte, dass Du mir zum 8. August 1994 als Geburtstagsgeschenk das Penthouse überschreibst“, schreibt sie in einem Brief. Der Wunsch bleibt offensichtlich unerhört. So versucht sich denn Flormira nach dem Tod ihres Mannes mit einem gefälschten Dokument die Traumwohnung zu erschleichen. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls der ermittelnde Staatsanwalt anhand der erdrückenden Dokumente, die ihm Peter Brammertz jüngst zukommen liess. Das Verfahren läuft noch.
Peter Brammertz hat ein bewegtes Leben hinter sich. Geboren im Irak, hat er die frühe Kindheit in der Schweiz verbracht, ging dann in Peru zur Schule, machte in Liechtenstein wie schon sein Vater und Grossvater eine Lehre als Werkzeugmacher, bildete sich zum Maschineningenieur weiter und kehrte 1984 nach Peru zurück, um selbständig als technischer Berater zu arbeiten. Drei Jahre später zog es ihn wieder in die Schweiz. Doch führte ihn der Beruf bald schon nach Norwegen, später nach Australien und erneut in die Schweiz. Als er am 12. Juli 1996 Hals über Kopf nach Lima flog, hatte er das Rückflugticket in der Tasche. Doch er blieb in Peru. Um sich die Firma, Haus und Wohnung unter den Nagel zu reissen, behauptet Flormira Marin. Um die Wahrheit über den Tod seines Vaters herauszufinden, sagt Peter Brammertz selbst. Zwar führt er die Firma seines Vaters mit ihren sieben Angestellten weiter. Doch die Wahrheitssuche kostet ihn weit mehr Zeit. Und vor allem Nerven.
Es dauerte neun Monate, bis die Staatsanwältin Julia Eguia wegen grober Fahrlässigkeiten bei der ersten polizeilichen Untersuchung eine Exhumierung der Leiche und eine Autopsie durchsetzte. Am Todestag selbst hatte die Mordkommission weder den Toten noch die Penthouse-Wohnung im 12. und 13. Stock eines Hochhauses fotografiert, auch hatte sie keine Skizzen gemacht. Fingerabdrücke an Waffe und Objekten wurden nicht gesichert. Von einer ernsthaften Spurensicherung konnte keine Rede sein. Im Polizeibericht, der zehn Monate lang verschwunden blieb, wurde kurzum Selbstmord festgestellt. Doch nahm die Polizei wenigstens die anwesenden Personen – Flormira Marin, die Haushälterin Sebastiana Ccosi und den Schreiner Gelacio Flores – ins Kommissariat mit, um ihre Hände auf Schussspuren zu untersuchen. Allerdings stellte sich später heraus, dass bei Flormira Marin kein Test stattfand. Im entsprechenden Register wurde ihr Name nachträglich von Gustavo Davila, einem mit ihr eng befreundeten Polizeioberst, eingetragen.
Anlass, an einem Selbstmord zu zweifeln, hätte es genug gegeben. Die Türe zum Bad, wo der Tote mit einer Schusswunde in der rechten Schläfe lag, war halboffen. Selbstmörder schliessen sich in der Regel ein oder machen wenigstens die Türe zu. Niemand der in der Wohnung anwesenden Personen hatte einen Schuss gehört. War eine Waffe mit Schalldämpfer eingesetzt worden? Ohne überhaupt nachzuschauen, ob ihr Mann noch lebte, wies Flormira Marin die Haushälterin an, in den vierten Stock hinunterzugehen und Luis Rizo Patron, einen befreundeten Arzt, zu holen. Den Schreiner schickte sie auf die Strasse, um Hilfe zu suchen. „Dann muss sie also mit der Leiche für eine gewisse Zeit allein gewesen sein“, folgert Peter Brammertz, „wenn nicht noch sonst jemand zugegen war.“ Aber er will nicht laut spekulieren.
Die Farbfotos, die der Sohn des Toten hervorkramt, sind grauenhaft: Die exhumierte Leiche ist noch relativ gut erhalten. Das Einschussloch an der rechten Schläfe ist deutlich zu erkennen. Am Hinterkopf aber findet sich zudem eine zweieinhalb Zentimeter lange Wunde, an beiden Oberarmen sind Hämatome zu sehen und auf dem Rücken grossflächige Flecken. All diese Zeichen von Gewaltanwendung wurden im Polizeirapport verschwiegen. Vor allem aber kamen die Gerichtsmediziner nach der zweiten Autopsie zum eindeutigen Schluss, dass der Schuss nicht aufgesetzt abgegeben wurde, wie es Selbstmörder zu tun pflegen, sondern aus kurzer Distanz fiel. Ob die tödliche Kugel, die man dem Schädel des Toten entnahm, tatsächlich aus dem Lauf der gefundenen Pistole kam, hätte eine mikroskopische Untersuchung des Profils und der Kratzer zweifelsfrei klären können. Doch inzwischen war die Kugel, aktenkundig, verlorengegangen. Überdies wurde nun festgestellt, dass die Nummer der amtlich untersuchten Waffe nicht der Nummer der im Badezimmer gefundenen Pistole entspricht.
Drei Jahre nach der Exhumierung erhob die Staatsanwältin Lucia Verastegui vor dem Obergericht Lima Anklage gegen Flormira Marin wegen Mordes und aktiver Beamtenbestechung, gegen den Polizeioberst Gustavo Davila wegen Vertuschung von Verbrechen und Fälschung von Dokumenten sowie gegen die beiden Polizeioffiziere Jose Mayuri und Hermes Alva, die den Polizeibericht verfasst und abgezeichnet hatten, wegen Vertuschung von Verbrechen, Amtsanmassung, Amtspflichtverletzung und passiver Beamtenbestechung. Für die Hauptangeklagte fordert sie 15 Jahre Gefängnis, für den Polizeioberst drei Jahre und für die beiden andern Polizisten je vier Jahre.
Bei einer ersten Befragung behauptete Flormira Marin den Polizeiobersten Gustavo Davila nicht zu kennen, was sie widerrief, nachdem ruchbar wurde, dass dieser sie oft angerufen und ihr hin und wieder sogar Blumen geschickt hatte. Das Inspektorat der Polizei stellte fest, dass Davila auf die Mordkommission und auf die Gerichtsmediziner Druck ausgeübt hatte, damit sie Flormira Marin in Ruhe liessen und Selbstmord feststellten. Der für den Fall zuständige Polizeichef Manuel Aivar gehörte zuvor einer Spezialtruppe an, die 1992 aufständische Militärs festgenommen und gefoltert hatte. Er war derjenige, der vor einem Jahr die Flucht des Geheimdienstchefs und starken Mann des Fujimori-Regimes, Vladimiro Montesinos, nach Costa Rica organisierte, wie auf einem Video festgehalten ist. Als er selbst wegen Drogenhandel, Korruption und Geldwäsche verhaftet werden sollte, war er bereits untergetaucht. Schliesslich wurde er in den USA festgenommen und nach monatelanger Auslieferungshaft am 1. Dezember an die peruanische Justiz überstellt. Derselbe Manuel Aivar hatte Peter Brammertz vor zwei Jahren wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt vor Gericht gebracht – mit so haltlosen Argumenten, dass der Prozess schon kurz danach eingestellt werden musste, genauso wie ein Prozess gegen den Sohn des angeblichen Selbstmörders wegen versuchter Entführung der Tochter von Flormira Marin.
Aber noch höhere Kreise, noch engere Mitarbeiter von Montesinos griffen in den Fall Brammertz ein. Die Staatsanwältin Julia Eguia, die die Exhumierung der Leiche durchgesetzt hatte, sagte, es sei starker Druck auf sie ausgeübt worden, eine solche zu verhindern. Am 1. Oktober dieses Jahres enthüllte sie vor einem Ausschuss des Kongresses, der das mafiöse Geflecht um Montesinos und Fujimori aufdecken soll, dass nach der Exhumierung ein Mann in ihrem Büro aufgetaucht sei. Der habe gesagt, er komme im Auftrag von Pedro Huertas, sie müsse für die Einstellung des Verfahrens sorgen, andernfalls sei sie ihren Job los. Kurz danach erhielt sie einen Brief von Pedro Huertas, der ankündigte, er übernehme als Anwalt persönlich die Verteidigung von Flormira Marin. Der Geheimdienstmann Pedro Huertas, der dem innersten Zirkel um Montesinos angehörte, seiner vierköpfigen Sicherheitstruppe, ist in die Erpressung und Bestechung zahlreicher Staatsanwälte und Richter verstrickt und steuert heute vermutlich die Verteidigung von Montesinos – aus dem Untergrund. Er wird polizeilich gesucht.
Statt Pedro Huertas nahm eines Tages ein anderer Mann auf der Verteidigerbank der Angeklagten statt: Grimaldo Achahui. Er hat sich als Anwalt von Alejandro Rodriguez Medrano einen Namen gemacht. Der wiederum war Mitglied des Obersten Gerichts und Intimus von Montesinos und sitzt heute wegen Rechtsbeugung und Korruption im Gefängnis.
Noch ein weiterer Geheimdienstler könnte im Fall Brammertz eine Rolle spielen: der Armeeleutnant Adan Doria. Er gehörte vermutlich der Gruppe „Colina“ an, einem vom Geheimdienst gesteuerten Killertrupp. Laut Aussage der Haushelferin Sebastiana Ccosi pflegte er regen Kontakt mit der Familie Flormira Marins, sowohl vor wie auch nach ihrer Heirat mit Erich Brammertz. Bislang hat dessen Sohn, der als Nebenkläger im laufenden Mordprozess zu allen Gerichtsterminen erscheint, sich vergeblich bemüht, ihn als Zeugen ins Verfahren einzubringen. Es sprechen starke Indizien dafür, dass Flormira Marin ihren Mann umbrachte oder umbringen liess. Die Gewaltspuren an der exhumierten Leiche legen nahe, dass eine dritte Person am Tatgeschehen beteiligt war. Nachdem Flormira Marin Dienstmädchen und Schreiner aus der Wohnung geschickt hatte, um Hilfe zu holen, hätte ein gedungener Mörder bequem entweichen können.
Sechs Stunden vor seinem Tod rief Erich Brammertz seine Schwester Erika in der Schweiz an. „Seine Stimme klang leb- und tonlos“, schrieb diese zehn Tage später an Gerda Brammertz, die erste Ehefrau des Verstorbenen, die 35 Jahre lang mit ihm verheiratet war, „ich sage ihm, dass ich seine Anweisungen nicht ausführen kann, weil ich glaube, dass er von jemandem unter Druck gesetzt ist oder bedroht wird.“ Erich Brammertz hatte sie gebeten, ihre Kontonummer durchzugeben, damit er Geld aus seinem Konto beim Bankverein Chur an sie überweisen könne, das für Flormira bestimmt sei. Schon einen Tag nach dem Tod rief Ignacio, deren ältester Sohn, bei Erika T., geborene Brammertz, an und erinnerte sie an das Geld, das seiner Mutter zustehe. „Selbstmord ist ausgeschlossen“, sagt Erika, die in einem Dorf im Kanton Bern lebt, auch heute noch, „ich war seine Lieblingsschwester. Mir hat er immer alles erzählt. Er war ein lebensfroher Mensch. Ich habe ihn nie deprimiert erlebt.“ Auch Gerda Brammertz bekräftigt, dass ihr Ex-Gatte das Leben gern in vollen Zügen genossen habe: „Probleme sind da, um sie zu lösen, das war seine Maxime.“
„Das Motiv für den Mord“, heisst es in der Anklageschrift, „war, sich der Erbschaft des Opfers zu bemächtigen, was die Angeklagte bereits vor dem Tod systematisch betrieb, indem sie eigenhändig Briefe schrieb, die ihr massloses Bestreben, sich der Güter des Opfers zu bemächtigen, offenbaren.“ Aber weshalb wurde und wird die mutmassliche Mörderin möglicherweise immer noch von so hohen Polizei- und Justizkreisen gedeckt? Weigerte sich der erfolgreiche Geschäftsmann seinen Obolus zu entrichten? Einen Versuch von Steuer- und Zollbeamten, ihn zu erpressen, hatte er einmal in einem Inserat in einer grossen Tageszeitung publik gemacht. Auf dem Tisch in Peter Brammertz’ Büro, wo Berge von Akten, Gutachten, Gegengutachten, Anklageschriften – seit dem Tod seines Vaters hat Flormira Marin immerhin zwölf Prozesse gegen ihn angestrengt, von denen die Hälfte bereits eingestellt wurde – verstaut sind, liegt ein Zettel, betitelt „Seltsame Fälle“. Es sind noch mindestens zwei weitere ausländische Geschäftsleute unter zweifelhaften Umständen in den letzten Jahren gestorben. Aber diese Fälle zu untersuchen, fehlt ihm die Zeit, jetzt mehr denn je. Denn der Prozess wegen der mutmasslichen Ermordung seines Vaters, der im Juli eröffnet wurde, geht in die entscheidende Phase. Ein Urteil wird noch im Dezember erwartet.
Flormira Marin, für die die Staatsanwältin 15 Jahre Haft wegen Mordes fordert, lebt auf freiem Fuss. 1997 wurde zwar ein Haftbefehl ausgestellt, allerdings, rechtswidrig, nie vollstreckt. Später wurde ihr gegen eine Kaution von bloss 3.000 peruanischen Soles, umgerechnet 1.500 Franken, der Haftantritt erspart. Verantwortlich für die kulante Entscheidung war der Oberrichter William Castillo, der nun am vergangenen Donnerstag den Dienst quittieren musste, weil er nachweislich in einem andern Fall gegen ein Bestechungsgeld in Höhe von 2.500 Dollar ein Verfahren eingestellt hatte. Dass Flormira Marin für ihre vorläufige Freiheit mehr als die richterlich verordnete Summe zahlte, liegt nahe. Zweimal pro Woche erscheint sie im Justizpalast, um auf der Anklagebank Platz zu nehmen. Mit dem Reporter will sie über den gewaltsamen Tod ihres Gatten nicht sprechen. Das sei so mit der Anwältin abgemacht. Durchaus verständlich.
Ihre Anwältin, Teresa Porras, ist an einem Gespräch auch nicht sonderlich interessiert. Aber immerhin händigt sie ein grosses gelbes Couvert aus: „Wenn Sie das lesen, wird ihnen vieles klar.“ Im Briefumschlag stecken die drei eingangs erwähnten Ausgaben von „Orden“ und ein Abschiedsbrief, den Erich Brammertz an Flormira Marin geschrieben hat. „Ich bedaure sehr, was geschehen wird“, heisst es da, „meine Gesundheit ist angeschlagen und wenn ich wie bisher weiter arbeite (sieben Tage die Woche), werde ich nach kurzer Zeit schon einem Herzinfarkt erliegen.“ Dann beklagt er sich über die schlecht laufenden Geschäfte. Die Schrift ist eindeutig die des Schweizer Geschäftsmanns.
Der Brief wirft viele Fragezeichen auf. Erich Brammertz war, abgesehen von einer weit verbreiteten Hautkrankheit, die sich keineswegs verschlimmert hatte, von robuster Gesundheit. Auch hatte er kurz vor seinem Tod seinen Geschäftsfreunden in Europa einen baldigen Besuch angekündigt. Anders als alle andern Briefe aus der Hand des äusserst pedantischen Unternehmers trägt der umstrittene Schreiben kein präzises Datum. Ein Signal eines Erpressten? Peter Brammertz, der seit fünf Jahren der Wahrheit über den Tod seines Vaters zum Durchbruch verhelfen will, geht davon aus, dass der Brief nicht aus freien Stücken geschrieben wurde.
Es klingelt. Die nächste Runde im Mordprozess beginnt. Von den drei Richtern schläft einer die ganze Zeit. Die Zeugen werden von derAnwältin der angeklagten Flormira Marins und vom Anwalt des Nebenklägers Peter Brammertz befragt. Der Staatsanwalt, der ja Hauptkläger ist, sagt – ungewöhnlich für einen Strafprozess – kein einziges Wort. Draussen, im grossen Innenhof des Justizpalastes, geht später der Sohn der mutmasslichen Mörderin mit Fäusten auf den Sohn des mutmasslich Ermordeten los. Oder umgekehrt, wenn man ersterem glauben will. Das Licht strahlt durch ein riesiges Oberfenster mit farbigem Glasbild in den Hof. Es stellt Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, dar. In der rechten Hand hält sie das Schwert, in der linken die Waage. Ihre Augen sind nicht verbunden. *Dies ist die unredigierte Fassung. Der Text mag geringfügig von der veröffentlichten Fassung sich unterscheiden.
Thomas Schmid, WELTWOCHE, 06.12.2001*