Die Waffe der Kritik kann die Kritik der Waffen nicht ersetzen. So dozierte der deutsche Philosoph Karl Marx, und zu dieser Erkenntnis kam eines Tages auch Roque Dalton. Der größte Schriftsteller El Salvadors schrieb 18 Bände Gedichte und Prosa sowie einen einzigen Roman („Armer kleiner Dichter, der ich war“), sein Leben aber beendete er als Guerillero. 1975, vier Tage vor seinem 40. Geburtstag, wurde er erschossen – von seinen eigenen Genossen.
Roque Dalton absolvierte in San Salvador eine Jesuitenschule, wo er nach eigener Aussage den Glauben verlor, begann 1953 ein Jura-Studium in Santiago de Chile, kehrte 1955 in sein Heimatland zurück und trat ein Jahr später der Kommunistischen Partei bei. 1960 wurde er verhaftet und wegen Gründung roter Zellen und Aufrufs zur Gewalt gegen Großgrundbesitzer zum Tod verurteilt. Doch Roque Dalton hatte Glück. Einen Tag vor dem Hinrichtungstermin wurde der Präsident des Landes gestürzt. Der Jungkommunist kam frei und ging ins Exil – über Mexiko ins revolutionäre Kuba. Nach seiner heimlichen Rückkehr wurde er 1965 erneut verhaftet, gefoltert und zum Tod verurteilt. Er hatte ein zweites Mal Glück. Vier Tage vor dem geplanten Exekutionstermin erschütterte ein Erdbeben das Land. Die Gefängnismauern stürzten ein. Roque Dalton floh erneut nach Kuba. Dort ließ er sich militärisch ausbilden. 1973 kehrte er nach El Salvador zurück, um sich der FPL-Guerilla anzuschließen. Doch deren legendärer Gründer Salvador Cayetano Carpio alias „Comandante Marcial“, wies ihn ab: Er solle der Revolution als Dichter dienen, nicht als Soldat.
So ging Roque Dalton zur Konkurrenz, zur ERP-Guerilla, die sich mit dem eigenwilligen Intellektuellen schwertat und ihn schließlich wegen angeblicher Aufstachelung zur Desertion und Befehlsverweigerung zum Tod verurteilte. Diesmal rettete ihn kein Umsturz und kein Erdbeben. Der Dichter glaubte bis zuletzt, so sagte später ein Teilnehmer des Geschehens aus, es handele sich um einen Irrtum, und versuchte, die Genossen zu überzeugen. Vergeblich. Ein Kommando der Guerilla füsilierte ihn, und mit ihm den Genossen Armando Arteaga, den Roque Dalton zur Desertion aufgefordert haben soll. Die Kritik der Waffen hatte über die Waffe der Kritik obsiegt.
Damit hätte die Geschichte ein Ende haben können. Aber Roque Dalton hatte eine Frau und drei Söhne. Der älteste, Roque junior, wurde 1981 im salvadorianischen Bürgerkrieg erschossen, die beiden anderen hingegen, Juan José und Jorge, leben noch. Und sie wollen wissen, wer 1975 ihren Vater erschossen hat, wo er begraben oder verscharrt wurde, und weshalb einer der mutmaßlichen Mörder heute ein hohes Regierungsamt innehat.
Juan José Dalton ist Herausgeber einer Online-Zeitung und lebt mit seiner Frau, die Vizeumweltministerin ist, und seinen drei Töchtern in einem abgeriegelten Wohnviertel der Hauptstadt. San Salvador ist eine der gefährlichsten Städte der Welt. Maras, bewaffnete Jugendbanden, verunsichern große Teile der Stadt. Seinen Vater hat Juan José zum letzten Mal 1973 in Kuba getroffen, wo die Mutter mit den drei Söhnen damals wohnte. „Ich war 18 Jahre alt“, sagt er beim Kaffee und krault seine beiden Hunde, „ich erkannte ihn kaum wieder. Er hatte sein Haar kurz geschnitten, trug nun einen Schnäuzer und eine Brille, obwohl er immer gut sah. Seine Nase war kleiner und begradigt, auch am Gebiss, am Kiefer, an den Ohren und an der Stirn hatte der Chirurg gearbeitet.“ Roque Dalton war gekommen, um sich von seinen Söhnen zu verabschieden. Dann reiste er illegal nach El Salvador ein.
Von der Ermordung seines Vaters hörte Juan José zum ersten Mal Ende Juni 1975 in Havanna: „Die Mutter einer Schulkollegin arbeitete als Journalistin bei der kubanischen Presseagentur und hatte erfahren, dass die ERP-Guerilla in einem Flugblatt, das in der Universität San Salvadors auftauchte, die Verantwortung für die Hinrichtung übernommen hatte.“
Ein Jahr nach Ausbruch des offenen Bürgerkriegs in El Salvador kehrte Juan José 1981 in seine Heimat zurück – illegal über Honduras mit einem Trupp Guerilleros. Er war der FPL beigetreten, die seinen Vater abgewiesen hatte. Noch im selben Jahr wurde er schwer verletzt gefangen genommen. „Der Schuss ging knapp am Herzen vorbei, aber das Projektil hat meine Lunge durchschossen“, berichtet Juan José, zieht das T-Shirt hoch und zeigt eine riesige Narbe, „bevor man mich ärztlich behandelte, wurde ich an beiden Händen aufgehängt und gefoltert.“ Seine Finger zeigen noch heute Spuren der Misshandlungen. „Ein von einem Gringo gesteuerter Hubschrauber flog mich schließlich nach Ilopango, zum Militärflughafen außerhalb der Stadt. Dort wurde ich wieder gefoltert. Dann kam ich ins Gefängnis. Der Freund eines Mitgefangenen war Rechtsanwalt beim Obersten Gericht, und auf eine Intervention des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes kam ich Weihnachten 1981 frei.“
Juan José ging ins Exil nach Mexiko. Dort arbeitete er als Journalist und traf sich kurz vor Kriegsende 1992 mit Joaquín Villalobos, der ein Jahr nach dem Mord an Roque Dalton zum unumstrittenen Führer der ERP avanciert war und für diese die Friedensverhandlungen führte. Der Guerillachef gestand dem Sohn des Dichters, was inzwischen jeder wusste: Er gehörte dem „Kriegsrat“ an, der das Todesurteil gefällt hatte. „Mit roten Augen, den Tränen nahe, sagte er mir: -€öEs war der größte Fehler meines Lebens.‘.“, berichtet Juan José und zeigt sein Interview, das damals in der mexikanischen Presse erschien. „Ging der Mord an Roque Dalton auf eine kollektive Entscheidung zurück?“, fragte der Journalist. Villalobos: „Es war die Entscheidung der Führung von 1975: Alejandro Rivas, Jorge Meléndez, Vladimir Rogel, Alberto Sandoval, ein Genosse mit dem Pseudonym Mateo und ich. Wahrscheinlich habe ich einige Namen vergessen.“ Wer damals den Schuss abgab, wollte Villalobos nicht verraten. Es ist wohl auch nicht wichtig. Aber Juan José möchte es schon wissen.
Und was ist aus den Mitgliedern des „Kriegsrats“ geworden? Villalobos beriet in jüngster Zeit die konservativen Präsidenten von Kolumbien und berät jetzt den nicht weniger konservativen Präsidenten von Mexiko. Über das Schicksal von Alejandro Rivas, dem Gründer und ersten Chef der ERP, herrscht Unklarheit: Die einen sagen, er sei aus der Guerilla ausgeschlossen worden, andere sagen, er sei im Krieg gefallen, und wieder andere behaupten, er sei mit einem Großteil des Geldes, das die Guerilla dem von ihr entführten und ermordeten Unternehmer Roberto Poma abpresste, durchgebrannt und lebe heute an einem unbekannten Ort. Vladimir Rogel, der das Todesurteil gegen Roque Dalton ebenfalls mit fällte, wurde später vermutlich von der ERP selbst zum Tod verurteilt und erschossen. Und Jorge Meléndez hat unter der heutigen Linksregierung ein ziemlich hohes Amt inne. Er ist Chef des Zivilschutzes.
Mit Journalisten will Meléndez nicht mehr sprechen. Aber immerhin gab er gegenüber „Contrapunto“, der Online-Zeitung Juan José Daltons, zu, dass er am „Kriegsrat“ teilgenommen hat. Darauf sei er stolz, sagt er, abgedrückt jedoch habe er selbst nicht. „Wir sprechen nicht über einen armen kleinen Dichter, der ermordet wurde“, fügte der Ex-Guerillero lakonisch hinzu, „sondern über einen politischen Akteur, der in einem bewaffneten Konflikt zu Tode kam.“
Juan José Dalton hat im Lauf der Jahre viele Zeugenaussagen gesammelt. Heute geht er davon aus, dass Villalobos den zum Tode verurteilten Dalton erschoss und Rogel dessen Mitangeklagten Arteaga. Meléndez musste wohl als Zeuge zuschauen und Rivas, dem Chef, Vollzug melden.
Der Sohn des ermordeten Dichter-Guerilleros forderte Mauricio Funes, den linken Präsidenten El Salvadors, schon vor Monaten auf, Meléndez als Chef des Zivilschutzes zu entlassen. Funes, der selber nie in der Guerilla war, gewann im vergangenen Jahr die Wahl als Kandidat der FMLN. Diese war aus einem Zusammenschluss der ERP, der FPL und zweier weiterer Guerillaorganisationen hervorgegangen und hatte sich nach Kriegsende 1992 in eine Partei umgewandelt. Der Präsident gehört dem gemäßigten Flügel an. Einen Grund, Meléndez zu feuern, sieht er jedoch nicht. Die Sache Dalton sei verjährt.
Henry Fino hingegen, der Anwalt der Familie Dalton, behauptet, es gehe um ein nicht verjährbares Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weil die Mörder beabsichtigt hätten, eine bestimmte Form des Denkens auszumerzen. Vor vier Monaten schon verlangte er von der salvadorianischen Staatsanwaltschaft die Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens. Antwort erhielt er bis heute keine. So will nun die Familie Dalton den Fall der Kommission für Menschenrechte der Organisation Amerikanischer Staaten in Washington unterbreiten, die entscheiden muss, ob sie ihn zu einer abschließenden Beurteilung an den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica weiterleitet.
Dass Roque Dalton ein großer nationaler Schriftsteller ist, bestreitet auch Präsident Funes nicht. Er will sogar den Pressesaal der Regierung nach ihm benennen. Jorge Dalton, der jüngere der beiden noch lebenden Söhne, der in San Salvador als Filmemacher arbeitet, ist empört „Was ist das für eine Moral, der Präsident will einerseits den Mord an meinem Vater vertuschen, andererseits einen Saal nach ihm benennen?! Acht Monate lang ließ Funes unsere Briefe unbeantwortet, und dann sagte er: Roque Dalton gehört nicht der Familie, sondern dem ganzen salvadorianischen Volk. Die legitimen Erben aber sind mein Bruder und ich.“ Funes prämiere einen Mörder oder einen, der wisse, wer der Mörder ist, aber es nicht sage.
„Wir fordern die Regierung auf“, heißt es in einem offenen gemeinsamen Brief von Juan José und Jorge, „den Namen Roque Daltons nicht mehr in den Mund zu nehmen.“
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 16.10.2010