Wir sind kein Einwanderungsland

„Von der grünen Glaskuppel der Spielbank wehte die Trikolore; ungeduldige Spieler drängten sich schon zu dieser nachmittäglichen Stunde auf der breiten Freitreppe; vor den kleinen Cafes saßen braungebrannte Menschen bei milchig-grünen Aperitifs; über die Promenaden am See bewegten sich langsam, wie unter der Zeitlupe, alte Männer und Frauen. Der Geruch des Seewassers vermengte sich mit dem leisen, aber konstanten Geruch von Schwefel und Schokolade, diesem Duftduett der alten Heilbäder; Architektur und Gartenanlagen erinnerten an den Beginn des neuen Jahrhunderts – der Professor aber fragte sich, warum man just dieses Gewächshaus der Vergangenheit gewählt hatte, um darin die Schrecken der Gegenwart zu verhandeln.“ So beschreibt Hans Habe in seinem Roman „Die Mission“ die Atmosphäre in Evian-les-Bains, dem Städtchen auf der französischen Seite des Genfersees, das am 6. Juli 1938 ins Rampenlicht der internationalen Politik rückte. Habe, damals als Korrespondent des „Prager Tageblattes“ beim Völkerbund in Genf akkreditiert, gehörte zu den über 200 Journalisten, die angereist waren, um über die internationale Flüchtlingskonferenz zu berichten, zu der Diplomaten aus aller Welt im Kurort eingetroffen waren.

Es war gerade knapp vier Monate her, daß sich Österreich Deutschland angeschlossen hatte. Kaum daß die Wehrmacht die österreichischen Grenzen überschritten hatte, war die Wiener Bevölkerung zur Tat geschritten. Der Anschlußpogrom dauerte mehrere Wochen. Juden wurden von einem fanatischen Pöbel verprügelt und verschleppt, mußten mit Zahnbürsten die Straßen reinigen oder die Plünderung ihrer Läden mitansehen. Mißhandlungen und Erniedrigungen trieben Hunderte in den Selbstmord. Tausende und Abertausende versuchten ins Ausland zu entkommen.

Alle Staaten klagten über die prekäre Wirtschaftslage

Doch wohin? Die Tschechoslowakei war bereits ein höchst unsicheres Pflaster geworden, in Ungarn ein antisemitisches Regime an der Macht. Im faschistischen Italien zeichnete sich eine antijüdische Politik ab, die im Sommer Gesetz werden sollte. Und die Schweiz verfügte schon zwei Wochen nach dem Anschluß den Visumszwang für Inhaber österreichischer Pässe, bevor sie dann im Sommer die Grenze ganz sperrte. Auch die übrigen westlichen Staaten versuchten nach Kräften, Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich mit gesetzlichen und administrativen Maßnahmen fernzuhalten. Ein Krieg in Europa wurde immer wahrscheinlicher, und so schien es ratsam, in Übersee Exil zu suchen.

Von ebendort schien nun ganz unerwartet Rettung zu kommen, aus Amerika. Zwölf Tage nach der formellen Annexion Österreichs lud Franklin D. Roosevelt eine Reihe von Regierungen ein, ein Komitee zu bilden, um die Emigration von Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich zu erleichtern. Unter den Juden und in Kreisen der vielen Hilfskomitees kam Optimismus, ja vielerorts geradezu Euphorie auf: Während ganz Europa vor dem Diktator kuschte, hatte Amerika die Initiative ergriffen. „Tausende blicken auf diese Konferenz als Richter über ihr Schicksal“, schrieb die amerikanische Publizistin Dorothy Thompson. „Es wäre eine Katastrophe sowohl für die Emigranten als auch für die demokratischen Nationen, wenn die Aktion des Präsidenten lediglich auf Propaganda hinausliefe und falsche Hoffnungen geweckt würden.“

Zweiunddreißig Staaten schickten ihre Vertreter in den Kurort am Genfer See, und neununddreißig Organisationen und Hilfskomitees, über die Hälfte von ihnen jüdische, ließen sich akkreditieren. Daß als Konferenzort Evian statt des Völkerbundsitzes Genf gewählt wurde, ist im übrigen der Schweiz zu verdanken. Die Regierung in Bern wollte nicht als Gastgeberin einer Zusammenkunft auftreten, die man in Berlin als eine deutschfeindliche Veranstaltung betrachtete. So wurde dann beschlossen, das Treffen auf der französischen Seite des Sees, etwa fünfzig Kilometer von Genf entfernt, abzuhalten. Dort also, im luxuriösen „Hotel Royal“, das auf einem Hügelzug über dem Städtchen liegt, eröffnete Myron C. Taylor, der die amerikanische Delegation anführte und gleichzeitig Präsident der Konferenz war, die Debatte. Schon im Einladungsschreiben hatte die US-Regierung – um allfällige Befürchtungen zu zerstreuen – versichert, daß für die Finanzierung der Emigration private Organisationen in den verschiedenen Ländern aufzukommen hätten und daß „von keinem Land erwartet oder gefordert wird, eine größere Anzahl von Emigranten aufzunehmen, als es seine Gesetzgebung erlaubt“. Dies war auch an die eigene Adresse gerichtet. Jedenfalls machte Taylor in seinem einleitenden Referat klar, daß die Vereinigten Staaten nicht gewillt seien, ihre eigene Quote zu erhöhen, die 27 370 Einwanderer aus Deutschland und Österreich jährlich zuließ – vorausgesetzt, sie waren in der Lage, die strengen Visabedingungen zu erfüllen.

Lord Winterton, der nach ihm für Großbritannien das Wort ergriff, wurde deutlicher. „Das Vereinigte Königreich ist kein Einwanderungsland“, sagte er unumwunden. Was die Kolonien und Besitzungen in Übersee betreffe, müsse man die klimatischen, rassischen und politischen Bedingungen bedenken, die einer Einwanderung entgegenstünden. Immerhin eröffnete er die vage Aussicht, daß möglicherweise „eine begrenzte Zahl ausgewählter Familien zumindest für einen Anfang“ in gewissen Gegenden Ostafrikas unterkommen könnten.

Über Palästina, das damals britisches Mandatsgebiet war, verlor er – zur großen Enttäuschung der zionistischen Organisationen – kein Wort. In den ersten Jahren nach Hitlers Machtantritt war Palästina das wichtigste Aufnahmeland für jüdische Emigranten aus Deutschland gewesen. Doch seit den arabischen Unruhen, die im Frühjahr 1936 begonnen hatten, versuchten die Briten, die jüdische Einwanderung zu drosseln – nicht zuletzt auch, um eine Annäherung zwischen den arabischen Staaten und den Achsenmächten zu verhindern. So hatten sie sich denn auch ausbedungen, die Emigration nach Palästina aus der Debatte in Evian herauszuhalten.

Der dritte Redner, der Franzose Henry Bérenger, wies darauf hin, daß sein Land 200 000 Flüchtlinge aufgenommen habe – eine Millionen Francs teure Großherzigkeit. Doch die Ressourcen seines Vaterlandes seien leider nicht so unbegrenzt wie dessen unbändiger Wille, der menschlichen Gemeinschaft zu dienen. Einen Ausweg aus dem Dilemma sah er in fernen Ländern. Schließlich verdankten Nord- und Südamerika sowie Australien ihre Entwicklung in den letzten drei Jahrhunderten „dem ständigen Zufluß von Emigranten, Flüchtlingen und Verbannten aus Europa, die der neuen Welt die kostbaren Fermente der alten brachten“.

Die Großmächte hatten gesprochen und auch den Ton vorgegeben. Sie sprachen von Flüchtlingen, aber nie von Juden. Das Wort sollte auf der ganzen Konferenz höchst selten fallen, obwohl es bei den Flüchtlingen 1938 zum allergrößten Teil um Juden ging. Auch war nicht von der Naziherrschaft die Rede, ja selbst das Wort Deutschland ging vielen nur schwer über die Lippen, in der Regel sprach man unverfänglich vom „Herkunftsland“ (der Flüchtlinge).

In Deutschland lebten noch etwa 540.000 Juden, davon 190.000 im angeschlossenen Österreich. Ohnehin diskriminiert und ihrer bürgerlichen Rechte beraubt, waren sie durch eine Reihe von Gesetzen aus ihren beruflichen Positionen verdrängt, im Wirtschaftsleben benachteiligt und gezielt ausgeplündert worden. Gerade ihre rapide Verarmung aber stand einer Emigration entgegen. Denn die Befürchtung, sie könnten zu Fürsorgeempfängern werden, war für viele Staaten einer der wichtigsten Gründe, ihnen die Aufnahme zu verweigern. Die deutsche Politik war insofern paradox. Sie forcierte die Emigration und erschwerte sie gleichzeitig. „Gelöst“ wurde dieser Widerspruch durch noch mehr behördliche Schikanen und polizeilichen Terror. Es war unübersehbar: Für die Juden gab es in Deutschland keinen Platz.

Für die Juden gab es in Deutschland keinen Platz

Und außerhalb der Grenzen Deutschlands? Auch die kleineren westeuropäischen Staaten hoben vor allem hervor, was sie schon alles für die Flüchtlinge getan hätten, um dann ausführlich über die prekäre wirtschaftliche Lage und die hohe Arbeitslosigkeit zu jammern. Der belgische Delegierte sagte, sein Land wolle keine weiteren Juden mehr aufnehmen, weil sonst „gesellschaftliche Erschütterungen“, ja sogar eine antisemitische Welle zu befürchten sei. Und Heinrich Rothmund, der Chef der schweizerischen Fremdenpolizei, der sein Land in Evian vertrat, verwies darauf, daß die Schweiz nur ein Transitland sein könne und zudem keine Flüchtlinge hereinlasse, die über ein Drittland eingereist seien. Ein halbes Jahr später sollte er deutlicher werden. „Wir haben nicht seit zwanzig Jahren mit dem Mittel der Fremdenpolizei gegen die Zunahme der Überfremdung und ganz besonders gegen die Verjudung der Schweiz gekämpft, um uns heute die Emigranten aufzwingen zu lassen“, schrieb er im Januar 1939 dem Schweizer Gesandten in den Niederlanden.

So hofften denn die USA und die Staaten Westeuropas, das leidige Problem auf die britischen Dominions, vor allem Kanada, Australien und Neuseeland, sowie die Länder Lateinamerikas abwälzen zu können. Doch diese lehnten die ihnen zugedachte Rolle ebenfalls ab. Kanada etwa erlaubte die Einreise bloß jenen, die das Vermögen zur Bewirtschaftung einer Farm mitzubringen imstande waren.

Seit einem Monat aber, seit Juni 1938, durften Juden bei der Ausreise aus Deutschland nur noch Bargeld in Höhe von zehn Reichsmark mitnehmen.

Der australische Delegierte sagte mit frappierender Offenheit: „Man wird zweifellos verstehen, daß wir, die wir kein wirkliches Rassenproblem haben, auch nicht wünschen, ein solches bei uns einzuführen.“

Die zahlreichen Vertreter lateinamerikanischer Länder lobten in schwülstigen Worten die Initiative Roosevelts, um dann auf ihre desolate Wirtschaftslage aufmerksam zu machen. Diplomatisch besonders geschickt äußerte sich der peruanische Delegierte. „Wir wissen, daß der jüdische Einfluß als Hefe und Ferment allen Völkern von Nutzen ist“, hob er an, aber „die Vereinigten Staaten haben uns, wie immer, ein Beispiel der Klugheit und Weisheit gegeben“. Mitte der zwanziger Jahre hätten sie „durch eine weitsichtige Gesetzgebung die Einwandererflut gestoppt. Wonach trachten sie also? Wie wir, nach einer sicheren und ruhigen Eingliederung der Immigranten, und auch nach der Verteidigung ihres nordischen Erbguts, ihrer sächsischen Rasse, gegen die Invasion anderer Völker.“

Und zum Schluß gab’s noch ein schönes Feuerwerk

Wenn man den Reden glauben darf, brachten alle Staaten viel Verständnis für die Flüchtlinge aus Deutschland auf. Einige versprachen, das Problem prüfen zu wollen, nur Großbritannien sagte zu, jüdische Flüchtlinge in seiner Kolonie Kenia aufzunehmen – allerdings bloß „in geringem Maßstab“. Kein einziges Land war bereit, sich zur Aufnahme einer präzisen Anzahl von Emigranten zu verpflichten. Mit einer Ausnahme: Zur Überraschung aller Anwesenden verkündete der Vertreter der Dominikanischen Republik, sein Land könne bis zu 100.000 Flüchtlinge ansiedeln. Rafael Trujillo, der Präsident des Karibikstaates, einer der bizarrsten und blutrünstigsten Diktatoren, die Lateinamerika hervorgebracht hat, bestätigte diese Offerte sogar schriftlich.

Ob er mit jüdischen Einwanderern die zu Tausenden hingemetzelten haitianischen Wanderarbeiter „ersetzen“ oder sein dunkelhäutiges Volk durch Vermischung „aufweißen“ wollte oder gar beides, ist umstritten. Fest steht hingegen, daß letztlich gerade mal 500 Juden in der Dominikanischen Republik Aufnahme fanden.

Auch 24 Sprecher, die 39 jüdische und andere Hilfsorganisationen vertraten, wurden in Evian angehört. „Es war ein trauriger Vorgang“, schrieb der Emigrant Salomon Adler-Rudel vom britischen Council for German Jewry. „Die in Frage kommenden Sprecher standen an der Tür des Sitzungszimmers, jeder, der hereinkam, hatte drei bis vier Minuten Zeit, um seine Wünsche vorzutragen, Fragen wurden an ihn nicht gestellt, bei den ersten wurde noch eine Übersetzung ins Englische oder Französische vorgenommen, bei den später Kommenden entfiel sogar diese Höflichkeitsbezeugung, und die diversen Sprecher sahen sich wieder im Vorzimmer der Kommission, noch ehe sie begriffen hatten, daß sie bereits vor der Kommis sion erschienen waren.“ Dabei waren diese Sprecher nicht nur Personen, die das Problem, das verhandelt wurde, wahrscheinlich am besten kannten. Den privaten Organisationen, die sie vertraten, sollten ja auch, wie Roosevelt in seiner Einladung versichert hatte, sämtliche Kosten der Emigration aufgebürdet werden. Auch die deutschen Juden hatten eine Delegation nach Evian entsenden dürfen. Sie war von Heydrichs Judenexperten zusammengestellt worden und hatte diesen ihr Memorandum zur Genehmigung vorlegen müssen. Ihr Appell an die übrigen Nationen verhallte wie so viele andere in Evian auch.

In der Schlußresolution der Konferenz wurde auf jeden Protest gegen die Reichsregierung, wie ihn etwa der Jüdische Weltkongreß gefordert hatte, verzichtet. Man wollte schließlich das Regime, das das Problem geschaffen hatte, das zu lösen die Konferenz zusammengekommen war, nicht verprellen, sondern dafür gewinnen, mitzuarbeiten. So wurde nun also an das „Herkunftsland“ (der Flüchtlinge) appelliert, „seinen Beitrag zu leisten und es den unfreiwilligen Emigranten zu erlauben, ihre Güter mit sich zu nehmen“.

Doch noch während der Konferenz hatte Staatssekretär Ernst von Weizsäcker in einem Rundschreiben an die deutschen Auslandsvertretungen den Standpunkt seines Dienstherrn Ribbentrop klargemacht: „Der Herr Reichsaußenminister hat … erwidert, daß er eine Zusammenarbeit mit andern interessierten Staaten in der deutschen Judenfrage grundsätzlich ablehnen müsse. Es handle sich um ein innerdeutsches Problem, das außer jeder Diskussion stehe … Ein Transfer des von Juden angesammelten Kapitals (könne) Deutschland nicht zugemutet werden.

Eine Zusammenarbeit mit den zurzeit in Evian tagenden Mächten käme daher für Deutschland nicht in Frage.“

Das einzige praktische Ergebnis der Zusammenkunft war denn die Gründung des Intergovernmental Committee (IGC), das die Arbeit der Konferenz fortsetzen sollte und bis zum Kriegsausbruch noch dreimal tagte. Immerhin gelang es dem Direktor des IGC, George Rublee, erstmals direkte Verhandlungen mit der deutschen Regierung aufzunehmen. Im Dezember 1938 traf er sich mit Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht in London. Ein formelles Abkommen kam jedoch nicht zustande, da die deutschen „Zugeständnisse“ nicht annähernd den Vorstellungen des IGC entsprachen.

Zehn Tage lang hatten die Delegierten in Evian getagt – mit desaströsem Ergebnis. Es war offenkundig geworden, daß kein Land die jüdischen Flüchtlinge aufnehmen wollte. Um so eiliger hatten es die potentiellen Aufnahmestaaten, die letzten Lücken in ihren Einwanderungsgesetzen und bei ihren Grenzkontrollen zu schließen. Auch die deutsche Regierung interpretierte das Signal entsprechend. Evian sei „ein großer Reinfall“ gewesen, spottete der Leitartikler des Völkischen Beobachters. Niemand wolle die Juden haben, statt dessen „trifft man also Vorsorge, sich vor einem Zustrom jüdischer Einwanderer zu schützen, weil man die Nachteile einer Verjudung klar erkannt hat“.

So war die Konferenz letztlich nicht viel mehr als ein bizarres Feuerwerk. Und ein Feuerwerk wurde denn auch zu Ehren der Delegierten veranstaltet, im Anschluß an das üppige Schlußbankett. Danach gehörte Evian wieder den Spielern und den Kranken.

Susanne Heim/Thomas Schmid, „Die Zeit“, 02.07.1998