Jusuf ist vor den Islamisten geflüchtet. In seiner Heimat, Somalia, herrscht Krieg. Als er hörte, dass im Nachbardorf die al-Shabaab-Milizen Jugendliche zwangsrekrutieren, ist er nach Äthiopien getürmt. Von dort hat er sich über den Sudan nach Ägypten durchgeschlagen. Auf einem Seelenverkäufer ist er schließlich an der Südküste Kretas gestrandet. Nun verkauft er im Zentrum von Athen Ledertaschen, die er bei einem chinesischen Großhändler an der Peripherie der griechischen Hauptstadt erworben und auf einem weißen Bettlaken ausgebreitet hat. Ledertaschen verkauft auch Omar aus dem Sudan, der neben ihm steht, und Ledertaschen verkaufen auch die drei Nigerianer, die sich dazu gesellt haben. Sie alle haben Ängste durchgestanden, Grenzer bestochen, Schlepper bezahlt, wurden von Polizisten verprügelt und sind auf abenteuerlichen Wegen in Europa angekommen.
Es sind junge Männer, die mehr erlebt haben als andere in einem ganzen Leben. Sie sprechen alle zwei oder mehr Sprachen. Sie wissen, wo man billig in die Heimat telefonieren kann und wie man über Western Union oder Moneybookers Geld überweist. Doch von der Schuldenkrise und den Sparmaßnahmen, die auf die Griechen zukommen, haben sie nichts gehört. Betroffen sind sie nicht. Den Gürtel können sie ohnehin nicht enger schnallen, da gibt es kein weiteres Loch.
Das Gespräch endet abrupt. Die fünf Afrikaner falten ihre Bettlaken mit den Lederwaren in Windeseile zu Bündeln, werfen diese über die Schulter und hasten los. Wenige Sekunden später ist die Polizei zur Stelle. Irgendeiner der Flüchtlinge hat die Ordnungshüter rechtzeitig erspäht oder wurde über Handy gewarnt. Eine Viertelstunde später verkaufen die fünf ihre Lederwaren ein paar Straßenzüge weiter. Die Polizisten wissen, dass sich die allermeisten afrikanischen Kleinhändler illegal im Land aufhalten. Aber weshalb sollen sie sie festnehmen? Sie müssten sie ohnehin schon bald wieder freilassen. Viele Flüchtlinge haben keine Reisepässe, weil sie diese aus Angst vor einer Festnahme und Ausweisung weggeworfen haben. Viele kommen aus Bürgerkriegsstaaten, in die sie nicht abgeschoben werden können, und die meisten waren schon in Aufnahmelagern – oder Haftzentren, wie sie in Griechenland heißen – und mussten nach drei Monaten auf freien Fuß gesetzt werden.
„Die Polizei jagt die Händler, weil sie keine Verkaufserlaubnis haben“, behauptet Ahmed Moawia, „wer erwischt wird, bezahlt das Zehnfache des Werts der Ware, die er mit sich führt.“ Oder eben ein saftiges Bakschisch. Doch das hat nicht Moawia gesagt. Der Sudanese, ein hagerer Mann mit grauen Haaren und Brille, ist Präsident des „Griechischen Forums der Migranten“, ein Netzwerkes von zehn Organisationen, die sich um gestrandete Flüchtlinge kümmern. Er kam vor 30 Jahren nach Athen, um griechische Philosophie zu studieren. Ein Schwarzer, der sich mit Plato und Sokrates abplagt, da mussten viele Griechen erst schlucken. Moawia sieht sein Forum als eine Art Lobby der Migranten beim Parlament und als Brücke zwischen Ausländern und Griechen, deren Großeltern und Eltern ja selbst oft ausgewandert sind und zu Ausländern wurden.
„Immer wieder rufen die Ladenbesitzer die Polizei mit dem Argument, die unerlaubte Konkurrenz auf dem Bürgersteig beeinträchtige ihr Geschäft“, berichtet Moawia, „das ist Unsinn. Sie wollen die Schwarzen einfach weg haben.“ Hunderte Afrikaner verkaufen auf den 900 Metern zwischen dem Parlament am Syntagma-Platz und dem Flohmarkt am Monastiraki-Platz ihre Lederwaren. Meistens tauchen sie in Gruppen auf. Wer aber möchte schon nach Einbruch der Dunkelheit einem Trupp von Schwarzen in spärlich beleuchteten Nebengassen begegnen? Die Athener haben Angst vor Kriminalität, und die Afrikaner fürchten sich vor Überfällen der Rechtsextremisten. Auch deshalb gehen sie lieber in Gruppen. Man fühlt sich sicherer unter seinesgleichen.
Bei den Parlamentswahlen vom vergangenen Oktober wählten fast sechs Prozent der Griechen die völkisch-orthodoxe Laos, und rund 25 000 Griechen gaben sogar der militanten rechtsextremen Partei Hrisi Avgi (Goldene Morgendämmerung) ihre Stimme, deren Schlägerbanden in Athen ausländerfreie Zonen schaffen wollen. Dimitris Parsanoglou, Soziologe und Migrationsforscher an der Athener Panteion-Universität, fürchtet, dass die aktuelle Schuldenkrise der nationalistischen Rechten, die den Mythos von der ethnischen und religiösen Homogenität Griechenlands aufrechterhält, Auftrieb gibt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Türken Thraziens gegen die Griechen Kleinasiens ausgetauscht. Die slawischen Mazedonier Nordgriechenlands wurden zwangsassimiliert. Ein Volk, eine Nation, eine Religion, eine Sprache – das Ziel schien nahe, doch dann kollabierte der Kommunismus. Und es strömten Hunderttausende Albaner über die Grenze nach Griechenland.
Von den Albanern, denen man damals alle Laster unterstellte und die heute etwa 60 Prozent der Ausländer Griechenlands ausmachen, spricht heute niemand mehr. „Sie sind gut integriert“, sagt Parsanoglou, „sie gelten als fleißige Arbeiter, gute Maurer.“ Mehr im Schussfeld der Nationalisten sind da schon die Pakistani, Afghanen und Inder. Aber ohne ihre Hilfe würden die Erdbeeren im Peleponnes und die Oliven im Epirus verfaulen. Und wer sollte all die philippinischen Frauen ersetzen, die die Häuser der Mittel- und Oberschicht putzen? Griechenland hat elf Millionen Einwohner und jeder zehnte ist Ausländer, in Athen sogar jeder fünfte. Hellas ist längst ein Einwanderungsland. Auch wenn Antonis Samaras, der neue Chef der in die Opposition verbannte Nea Dimokratia, dies noch nicht wahrhaben will. „Die Griechen sind ein Volk, keine Bevölkerung“, tönte er unlängst.
Das war klar gegen die Einbürgerungspläne der Regierung der sozialdemokratischen Pasok von Giorgos Papandreou gerichtet, die im Oktober ihr Amt angetreten hat. Früher, als er Ombudsman, Bürgerbeauftragter, war, hat Andreas Takis immer wieder auf die Not der Flüchtlinge hingewiesen. Nun ist er Staatssekretär für Migration im Innenministerium und will die Probleme selbst anpacken. Er empfängt den Besucher im offenen Hemd, den Motorradhelm hat er aufs Sofa gelegt. Den von der Opposition erhobenen Vorwurf, Griechenlands linke Regierung öffne nun der illegalen Einwanderung alle Schleusen, weist er zurück. „Wir dürfen nicht die Augen vor der Realität verschließen“, sagt er, „wir müssen für konkrete Probleme konkrete Lösungen finden. Die Ausländer sind hier und die allermeisten werden bleiben. Die Opposition setzt auf Polarisierung, wir setzen auf Integration, Wohlstand und soziale Sicherheit.“
Von den 1,1 Millionen Ausländern in Griechenland, so schätzt Takis, lebt etwa ein Drittel illegal in Griechenland, ohne Aufenthaltserlaubnis, ohne Arbeitserlaubnis, ohne soziale Absicherung. Die neue Regierung will Erwachsenen, die fünf Jahre legal und kontinuierlich in Griechenland gelebt haben, die Staatsbürgerschaft anbieten. Auch die rund 250 000 Kinder, deren beide Eltern sich seit mindestens fünf Jahre legal im Land aufhalten, sollen den griechischen Pass erhalten. Und wer fünf Jahre in Griechenland lebt, soll das Recht haben, an Gemeindewahlen teilzunehmen, selbst wenn er nicht eingebürgert ist. Ob der Regierungsvorschlag im Parlament durchkommt, ist ungewiss. Auch in der Pasok-Fraktion gibt es viele Nationalisten.
Was aber soll mit denjenigen geschehen, die in den letzten Jahren illegal eingewandert sind, „ohne Papiere“ in Griechenland leben, weil das Land weniger als ein Prozent der Asylgesuche positiv beantwortet, und die aufgrund des Völkerrechts nicht ausgewiesen werden können? „Es gibt zwei Möglichkeiten“, sagt Takis, „entweder errichten wir Konzentrationslager oder wir geben den Flüchtlingen einen speziellen Status.“ Den Status einer Duldung ohne die Perspektive einer späteren Einbürgerung. „Wir können unsere Grenzen nicht militärisch gegen Einwanderer komplett absichern.“ Vermutlich über die Hälfte der illegalen Immigranten, die in die Länder der Europäischen Union kommen, betreten deren Territorium in Griechenland.
Das ist auch eine Folge der rigiden Überwachung der Straße von Gibraltar und der völkerrechtswidrigen Rückführung von Flüchtlingen aus Italien nach Libyen. „Das Problem muss auf europäischer Ebene behandelt werden“, fordert Staatssekretär Takis. Ähnlich sehen es wohl auch die Afrikaner, die in der Innenstadt Athens Ledertaschen verkaufen. Die meisten würden gerne weiterziehen nach Großbritannien, Frankreich, Deutschland oder wenigstens Italien. In Patras, wo die Fährschiffe nach Brindisi, Bari, Ancona und Venedig übersetzen, ließ die Polizei im vergangenen Sommer zwei illegal errichtete Migrantensiedlungen niederreißen, in denen über 4 000 Flüchtlinge auf eine Gelegenheit warteten, nach Italien zu entkommen.
Thomas Schmid, „Berliner Zeitung“, 18.02.2010 (unredigierte Fassung)