ATHEN. Ein Gespenst geht um in Athen. Es verbreitet Angst und hat einen Namen: Grexit. Dies ist das Kürzel für Griechenlands Exit aus der Eurozone. Die Griechen räumen ihre Konten. Dreistellige Millionenbeträge werden täglich von den Banken abgezogen. Wenn die vom charismatischen Alexis Tsipras geführte Linkspartei Syriza am Sonntag die Wahlen gewinnt, werde das Land zur Drachme zurückkehren müssen und letztlich kollabieren: Mit dieser bald offen, bald unterschwellig vorgetragenen Botschaft werden die Griechen seit Tagen bombardiert – aus dem Inland mit Vorliebe von jenen Parteien, die den Schlamassel zu verantworten haben, aus dem Ausland vor allem von den Deutschen, auf die manch einer seine Aggression projiziert.
Angst vor dem Kollaps? Ilias Katsogiannis setzt ein gequältes Lächeln auf. Bei ihm ist der längst angekommen. Der 35-Jährige raucht
wie ein Schlot, eine Zigarette nach der andern. Sein Geschäft, das der Gesundheit dienen soll, ist schrecklich verqualmt. Katsogiannis ist Apotheker. In der Freizeit tritt er als Rockgitarrist auf. Ein Hobby. „Aber jetzt habe ich ein zweites Hobby“, sagt er, „ein Hobby ist ja eine Beschäftigung, bei der man kein Geld verdient. Eigentlich kann ich meinen Laden zumachen.“ Macht er aber nicht, weil er seine Arbeit liebt. Im Keller stapeln sich Reagenzgläser, Tuben, Schächtelchen, auf Regalen liegen Pinzetten und Löffelchen. Katsogiannis mixt hier diverse Tinkturen, stellt Salben her – vor allem aus homöopathischen Substanzen.
Schulden und Kredite
Seit zwei Wochen verkaufen die griechischen Apotheker ihre Medikamente nur noch gegen Bares. Von Ärzten ausgestellte Rezepte nehmen sie nicht mehr an. Schuld ist die öffentliche Krankenkasse (EOPYY), zu der im vergangenen November die verschiedenen Berufskrankenkassen zusammengeschlossen wurden und bei der nun neun der elf Millionen Griechen versichert sind. Früher schickten die Apotheker die Rezepte an die Krankenkassen, diese beglichen die Rechnungen. Oft mit Verspätung. Dann borgte sich Katsogiannis bei seiner Bank einen Überbrückungskredit. Aber jetzt wartet er schon seit vier Monaten auf Erstattung von der Kasse. Die Bank gibt ihm keinen Kredit mehr, weil sie aus gutem Grund fürchtet, das Geld nicht zurückzuerhalten. Und die Lieferanten der nationalen wie der ausländischen Pharmaindustrie, die ihm früher eine Zahlungsfrist von vier Monaten einräumten, wollen jetzt ihr Geld nach zehn Tagen sehen. Also ordert er teure Medikamente nur noch auf Bestellung von Patienten, die vorab bezahlen. „Die Krankenkasse schuldet mir inzwischen über 60000 Euro“, sagt Katsogiannis, „ich bin am Ende.“
Trotzdem kommt noch immer der bis auf die Knochen abgemagerte junge Mann, der vor der Tür wartet, bis kein Kunde mehr in der Apotheke steht. Zitternd, mit starrem Blick betritt er den Laden. Er sagt kein Wort. Katsogiannis geht zu einem Schrank, nimmt eine frische Spritze heraus und reicht sie dem Drogensüchtigen wortlos. „Das ist mein Junkie“, sagt er, als die Türe wieder ins Schloss fällt, „er kommt täglich, ich kann ihn doch nicht hängen lassen.“
Insgesamt schuldet die Krankenkasse den Apothekern über 500 Millionen Euro. Die Kasse hat kein Geld, weil in Jahresfrist fast 300000 Griechen ihren Job verloren haben und viele von ihnen ihre Beiträge nicht mehr bezahlen können.
Viele Patienten können sich die Medikamente, die früher die Krankenkasse bezahlt hat, schlicht nicht leisten. Ilias Katsogiannis Umsatz ist dramatisch eingebrochen. Vor der Krise hat er viermal so viel verkauft. Einer seiner Stammkunden leide an einer seltenen Art von Blutarmut, berichtet der Apotheker. Dreimal habe er ihm das teure Medikament ausgehändigt. „Zahlen konnte der arme Kerl nicht, und ich habe nun auch nicht mehr das Geld, es neu zu bestellen“, sagt er resigniert. „Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Wahrscheinlich pilgert er nun von Apotheke zu Apotheke, um zu schauen, ob es irgendwo noch vorrätig ist.“
Natürlich habe er Angst vor der Rückkehr zur Drachme, der alten Währung, gesteht Katsogiannis, eine Rückkehr, die sein bescheidenes Vermögen wohl halbieren würde, aber anderes fürchte er noch viel mehr. Die Parteien, die das Land 37 Jahre lang abwechselnd regiert und schließlich in den Ruin getrieben haben, sind für ihn jedenfalls definitiv nicht wählbar.
Dimitris Karamanis ist 25 Jahre alt und Sekretär für internationale Beziehungen der Jugendorganisation der Linkspartei Syriza. Er gehört also zu denen, die derzeit so viel Angst und Hoffnung verbreiten. „Wenn Griechenland aus der Euro-Zone fliegt“, behauptet Dimitris Karamanis, „dann kommt es zu einem Domino-Effekt, am Schluss gibt es keinen Euro mehr und alle haben verloren. Das weiß auch Merkel, und deshalb wird Griechenland in der Euro-Zone bleiben – auch unter einem Premier Tsipras, der das Memorandum aufkündigen wird.“
Im Memorandum hat sich Griechenland als Gegenleistung für die internationale Finanzhilfe zu einem rigiden Sparkurs verpflichtet. „Wir weigern uns nicht prinzipiell, die Schulden zu bezahlen“, stellt Karamanis für seine Partei klar, „wir sagen nur: Die rigide Sparstrategie ist gescheitert. Griechenland ist in die Rezession getrieben worden. Wir müssen neu verhandeln.“ Syriza fordert als erstes die Rücknahme der Kürzungen von Mindestlohn und Arbeitslosengeld, die im Februar von der Troika durchgesetzt wurden. Wichtig sei es vor allem, die Einkünfte des Staates zu mehren. Immerhin entgehen dem Fiskus nach Angaben von Nikos Lekkas, dem Leiter der griechischen Steuerfahndungsbehörde jährlich 40 bis 45 Milliarden Euro. „Wenn wir nur die Hälfte davon eintreiben könnten“, hat der gesagt, „wäre Griechenlands Problem gelöst.“
Es sind offensichtlich die Begüterten, die dieses Loch in den Staatssäckel reißen. Ein Großteil ihrer hinterzogenen Steuern wird inzwischen wohl im Ausland geparkt sein. Es wird viel Mühe kosten, diese Gelder aufzuspüren und sie wenigstens zum Teil einzutreiben. Umso wichtiger sei es, meint der jugendliche Politiker Karamanis, diejenigen zur Kasse zu bitten, die von der Steuerbehörde systematisch geschont würden: die Reeder. Die Begünstigungen, die man ihnen zugestehe, müssten endlich gestrichen werden.
Michael Pateras ist einer von ihnen. Der Sitz seiner Reederei liegt in einem modernen Büropalast in Kifissiß, dem nobelsten Vorort von Athen. Das große Fenster im geschmackvoll eingerichteten Chefbüro gestattet einen Blick auf das ausufernde Häusermeer von Athen. „Wir haben dieselben steuerlichen Vergünstigungen, wie sie in den EU-Staaten nun mal üblich sind, gerade auch in Ländern mit großen Handelsflotten wie Großbritannien, Zypern, Deutschland“, sagt der 63-jährige Eigner von sieben Handelsschiffen, „ausschlaggebend für den Ort der Besteuerung ist die Flagge.“ Griechenland hat die größte Handelsflotte der Welt. Von den 4100 Schiffen der ungefähr 850 griechischen Reedereien aber fährt nur etwa ein Viertel unter griechischer Flagge. Wenn man ihnen die üblichen Steuervorteile beschneiden würde, wäre es den Reedern ein Leichtes, innerhalb von wenigen Tagen die Flagge zu wechseln.
Neunzig Prozent ihrer Einkünfte, sagt Pateras, würden die griechischen Reeder, die etwa ein Sechstel des gesamten maritimen Welthandels bestreiten, ohnehin jenseits von Griechenland erzielen – mit dem Warentransport zwischen den USA, China, Australien und Europa, fernab aller griechischen Gewässer. Und in dieser Welt ist der Dollar und nicht der Euro die Währung, in der Preise berechnet und Frachtraten wie Mannschaften bezahlt werden. Eine Rückkehr zur Drachme würde die Geschäfte der Reeder deshalb kaum tangieren, meint Michael Pateras, die Griechen jedoch in noch größere Armut stürzen. Überdies trügen die Reedereien, von denen etwa 200000 Arbeitsplätze abhängen, zum griechischen Staatsbudget in etwa gleich viel bei wie der Tourismus.
Die Griechen, sagt der Reeder, der seine Schiffe unter griechischer Flagge fahren lässt, sähen die Vorteile, die ihnen der Euro bringt, sie wollten aber nicht das Notwendige tun, um in der Euro-Zone zu bleiben. Das hört sich wie eine versteckte Wahlempfehlung an. Doch Pateras denkt weniger an ein Sparprogramm als an die überfälligen strukturellen Reformen in der staatlichen Verwaltung. Ohne solche komme Griechenland nicht aus der Talsohle heraus.
Da würde ihm auch Nadia Valavani zustimmen. Die 58-Jährige hat drei Gedichtbände, einen Roman und eine Sammlung von Essays über Kunst und Politik veröffentlicht. Vor sechs Wochen ist sie auf der Liste von Syriza ins Parlament gewählt worden, das sich am Tag nach seiner Konstituierung auflöste, um Neuwahlen zu ermöglichen. „Ich war eine One-Night-Stand-Parlamentarierin“, sagt sie kokett und ironisch. Am Sonntag wird sie nun wohl wieder gewählt werden. Auch sie wirft den beiden Systemparteien, der sozialdemokratischen Pasok und der konservativen Nea Dimokratia, die das Land seit 1974 abwechselnd regiert haben, vor, die notwendigen strukturellen Reformen nicht in Angriff genommen zu haben. Im übrigen hält sie die Querele um die Besteuerung der Reeder für ein nachrangiges Problem.
Als Jungkommunistin hatte sich Valavani am Widerstand gegen die Militärdiktatur beteiligt. Sie wurde festgenommen, fünf Monate in einem Haftzentrum des Geheimdienstes isoliert, gefoltert, verbrachte weitere zwei Monate in einem Gefängnis und kam erst nach dem Sturz der Diktatur im Herbst 1974 frei. Damals dachte sie, nun werde eine völlig neue Gesellschaft aufgebaut. Sie träumte von einem Paradies der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Wohlstands für alle. Sie war gerade 20 Jahre alt.
Heute sagt Nadia Valavani nüchtern: „Griechenland kann nur in der Euro-Zone bleiben, wenn es das Memorandum aufkündigt. Wenn es hingegen beim Sparkurs bleibt, wird es zur Drachme zurückkehren müssen.“ Wie bitte? Man glaubt, nicht richtig gehört zu haben. Doch die Syriza-Politikerin verweist auf eine Rede, die George Soros, die Börsenlegende, am vergangenen Sonnabend in Italien gehalten hat. Der milliardenschwere amerikanische Großinvestor geht davon aus, dass Syriza die Wahlen nicht gewinnt und das Sparprogramm fortgesetzt wird. Dann habe Deutschland, die wirtschaftliche Führungsmacht Europas, noch drei Monate Zeit, um den Euro zu retten. Soros befürchtet, dass Merkel bei ihrem ruinösen Kurs bleibt und der Euro dann verloren ist. Für alle.
Selbstmord und Suppe
Die rapide Verelendung drückt Nadia Valavani in Zahlen aus: 2000 Griechen nahmen sich im vergangenen Jahr das Leben. 485000 Ladenbesitzer mussten in den letzten zwei Jahren schließen. Täglich werden in den Armenküchen Griechenlands 500000 Suppen ausgegeben.
Mit der Wirklichkeit, die sich hinter diesen Zahlen verbirgt, hat Alkis Psychiagos jeden Tag zu tun. Er arbeitet seit drei Jahren als Neurochirurg in einem der größten Krankenhäuser Athens. Die Krankenkasse schuldet nicht nur den Apothekern Geld, sondern auch den staatlichen Krankenhäusern. „Wir haben zu wenig Spritzen und Plastikhandschuhe“, klagt Psychiagos, „und Watte bringen die Patienten inzwischen von zu Hause mit.“ Schon müssten viele Operationen abgesagt werden. Stents könnten oft nicht mehr implantiert werden. Auch fehle es an Medikamenten für die Behandlung von Krebs. „Wir bewegen uns Richtung Dritte Welt“, sagt der junge Arzt.
Seit vier Monaten wartet er auf die Bezahlung seiner Überstunden, die 30 Prozent seines Gehalts ausmachen. In einem Jahr wird Alkis Psychiagos seine Fachausbildung abgeschlossen haben. Dann läuft sein Vertrag aus. Eine Stelle als Facharzt wird er in Griechenland so schnell wohl nicht finden. Er plant, auszuwandern, wahrscheinlich nach Frankreich. Wie im letzten Jahr 3000 Absolventen der medizinischen Fakultäten des Landes. Griechenland blutet aus.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 15.06.2012