ATHEN. Der alte Mann hat eine Botschaft. In kariertem Barchenthemd und mit schwarzer Baskenmütze hat er sich vor dem ehemaligen Königspalast aufgestellt, in dem heute das griechische Parlament tagt. Reglos wie eine Statue steht er da, spricht mit niemandem, schaut niemanden an. Auch unter dem Blitzlichtgewitter der Fotografen zuckt er mit keiner Wimper. In der rechten hochgereckten Hand hält er offene Handschellen, in der linken ein Plakat: „Diebe ins Gefängnis“. Mit den Dieben meint er ganz offensichtlich die korrupte Politikerkaste, die mit ihrer Vetternwirtschaft das Land in den Ruin getrieben hat.
Unterhalb des Palastes, in den als erster König von Griechenland einst ein Deutscher, der bayrische Prinz Otto, einzog, sind auf dem weitläufigen Syntagma-Platz über 20.000 Menschen zusammengekommen, Junge und Alte, die einen ärmlich gekleidet, die andern ausgesprochen schick. Sie demonstrierten nicht gegen die Regierung, sondern für sie, für Alexis Tsipras, den neuen Premier, der Europa, vor allem den Deutschen, die Stirn bietet. Es herrscht Feststimmung. Einige tragen Plakate, auf denen die schlichte Botschaft steht: „in Würde atmen“.
Am Syntagma-Platz liegt auch das Luxushotel Grande Bretagne, in dem eine Suite über tausend Euro kostet. Auf der Treppe zur Edelherberge sitzen einige Frauen mit roten Gummihandschuhen. Es sind entlassene Putzfrauen, die monatelang das Finanzministerium belagerten. Ihre roten Gummihandschuhe wurden zum Symbol des Widerstands. 400 Putzfrauen, die die Finanzämter sauber gehalten hatten, waren gefeuert und durch eine Reinigungsfirma ersetzt worden. Jetzt sollen sie wieder eingestellt werden. Die alte Regierung hatte ihrer Entlassung kaum Geld eingespart, war aber der Forderung der Troika nach einer Verschlankung des öffentlichen Dienstes nachgekommen.
Aber die Troika gibt es nicht mehr, sie soll jedenfalls nicht mehr so heißen. Jetzt reden Brüsseler Diplomaten von den „Institutionen“, wenn sie das Trio von EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds meinen. Mit dem Wort Troika verbindet der gewöhnliche Grieche ein Monstrum, das sein Land im Würgegriff hält und wie eine Zitrone auspresst. Und so ließ Wolfgang Schäuble vor einer Woche verlauten: „Wir nennen die ‚Troika’ aus Rücksicht auf unsere griechischen Freunde neuerdings nicht mehr ‚Troika’, sondern: ‚Die Institutionen’.“ Das neue Etikett ändere aber nichts an deren Prüfauftrag. Wer den Schaden hat, braucht offenbar für den Spott nicht zu sorgen.
So einfach lässt sich der widerspenstige Tsipras allerdings nicht zähmen. In einer vom Fernsehen übertragenen Rede riet er dem deutschen Finanzminister, der sein Mitleid für die Griechen wegen ihrer „ziemlich unverantwortlichen Regierung“ geäußert hatte, er möge sein Mitleid für jene Leute aufzusparen, die mit gesenktem Kopf einhergehen. Griechenland werde nicht kapitulieren, lasse sich nicht erpressen und auch nicht wie eine Kolonie behandeln. Am Vortag hatte die Euro-Gruppe Griechenland ein Ultimatum bis heute Freitagabend gestellt: Wenn die griechische Regierung keine Verlängerung des Hilfsprogramms mit seinen Sparauflagen beantrage, werde der Geldhahn zugedreht. Schluss, aus. Heute wollen die Eurokraten beraten, ob ihnen das Schreiben reicht, das der griechische Finanzminister Gianis Varoufakis ihnen gestern zukommen ließ.
Schluss, aus? Wird hier nur gepokert, sind hier hartgesottene Zocker am Werk. Ist es diesmal wirklich ernst oder stolpert man bloß in die nächste Runde? Die Verunsicherung in Griechenland ist groß, und so ziehen immer mehr Leute ihr Geld von den Banken ab, transferieren es ins Ausland oder verstecken es in Sparstrümpfen oder unter dem Bett. Zur Zeit sind es wohl täglich an die 400 Millionen Euro. Noch herrscht in Athen keine Panik. Aber was passiert, wenn es zu keinem Agreement kommt? Werden dann die Bankfilialen wie vor zwei Jahren in Zypern vorsorglich schließen, bevor sie gestürmt werden, weil die Bankautomaten leer sind?
Deutschland bestimmt den Kurs der Troika, davon ist man in Athen weithin überzeugt. Und Schäuble ist auf dem besten Weg, als Beelzebub Merkel in Griechenland abzulösen. Der deutsche Kassenwart steht unter dem Druck von CSU, AfD und dem Bund der Steuerzahler. Tsipras muss auf seine Anhängerschaft Rücksicht nehmen. Er hat die Wahlen mit dem Versprechen gewonnen, das er nicht einfach brechen kann. Er kann die Politik seines konservativen Vorgängers nicht einfach fortsetzen. Dafür ist er nicht gewählt worden. Er hat ein anderes Mandat. Die Kosten für die Verwirklichung seines Wahlprogramms – Erhöhung der Mindestlöhne, 13. Rente für jene mit den niedrigsten Bezügen, Wiedereinstellung von 3.500 öffentlichen Bediensteten, Lebensmittelhilfe und Krankenversorgung – veranschlagt sein Team mit elfeinhalb Milliarden Euro. Um all dies zu finanzieren, will die neue Regierung nun konsequent gegen Steuersünder vorgehen.
Just das aber hat die Troika schon von der alten Regierung gefordert und ihr die Einrichtung eines Generalsekretariat für öffentliche Einnahmen abgerungen. Geleitet wurde dieses von Haris Theoharis. Der 44-jährige IT-Experte und ehemalige Banker bei Lehmann Brothers in London ist ein sportlicher Mensch. Zum Treffen auf dem Lykavitos, dem dreihundert Meter hohen Hausberg von Athen, zu dessen Gipfel eine Seilbahn hochfährt, kommt er zu Fuß. Die Aussicht ist großartig. Auf der einen Seite die Akropolis mit dem Parthenon-Tempel, die Hafenstadt Piräus, dahinter das Meer, auf der andern Seite frisst sich die Stadt wie eine Krake in die Landschaft hinaus. Am Horizont ist ein weißer Streifen zu erkennen. Dort, in Kifissia, leben die Superreichen, unter ihnen viele Reeder.
Dem Staat Griechenland seien im Jahr 2013 etwa 6,5 Milliarden an hinterzogenen Steuern entgangen, sagt Theoharis, im Jahr 2014 wieder deutlich mehr, ungefähr 9 Milliarden. Kein Wunder, im Januar 2013 hatte er sein Amt als oberster Steuerfahnder angetreten, im Juni 2014 hatte er den Bettel entnervt hingeschmissen, obwohl er fünf Jahre lang unkündbar war. Der umtriebige Spezialist hat gute Arbeit geleistet, für einige offenbar zu gute. Zur Steuerfahndung setzte er eine Spezialeinheit ein, die auch prominenten Steuersündern zu Leibe rückte . „Ich habe Drohanrufe erhalten“, sagt Theoharis und macht eine Handbewegung, als verscheuche er eine lästige Fliege, „man hat mir in E-mails alles Mögliche angedroht, aber gegangen bin ich, weil die Regierung nicht zu mir hielt. Man bedeutete mir, ich solle etwas vorsichtiger vorgehen, von gewissen Dingen die Hände lassen. Man hat es nicht so direkt gesagt, aber es war schon klar. Man schätzte meine Arbeit nicht besonders, um es vorsichtig auszudrücken.“ Genauer will er nicht werden.
Dass im Jahr 2013 Griechenland zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder einen primären Haushaltsüberschuss – einen Überschuss vor Zinszahlung und Schuldentilgung – erwirtschaftete, schreibt sich Theoharis durchaus als eigenes Verdienst zu. Noch positivere Resultate hätte er wohl vorweisen können, wenn ihm das Finanzministerium die Lagarde-Liste ausgehändigt hätte. Es ist die Liste mit Namen von 2.062 vermögenden Griechen, die ihr Geld bei der Schweizer Niederlassung der Hongkong and Shanghai Banking Corporation (HSBC) mit Hauptsitz in London versteckt hatten. Ein Mitarbeiter der Bank hatte die Daten entwendet und der französischen Finanzministerin Christine Lagarde, der heutigen IWF-Chefin, zukommen lassen. Diese hatte die Liste im Jahr 2010 ihrem griechischen Amtskollegen Giorgos Papakonstantinou von der sozialistischen Pasok weitergereicht. Der aber ließ sie in einer Schublade verschwinden. Sein Nachfolger im Amt, Evangelos Venizelos, ebenfalls Sozialist und bis vor einem Monat Vizepremier, war auch im Besitz der Liste, hatte sie auf einen Datenstick geladen, diesen aber dann irgendwann verloren. Als die brisante Liste im Oktober 2012 wieder auftauchte, enthielt sie nur noch 2.059 Namen. Es fehlten – wie ein Vergleich mit dem Original ergab – zwei Cousinen Papakonstantinous und eine weitere Person.
Und die schwerreichen Reeder, die keine Steuern bezahlen und auf die fast jeder Grieche schimpft? Wollte Theoharis auch sie zur Kasse bitten? „Das ist doch die einzige Industrie, die in Griechenland funktioniert“, sagt er lachend, „die Reeder dürfen wir doch nicht vergraulen.“ Griechenland hat die größte Handelsflotte der Welt. Zehntausende, oft hochqualifizierte Arbeitskräfte, hängen von den Reedereien ab. Sie sind nach dem Tourismus die zweitgrößte Devisenquelle der griechischen Wirtschaft. Die Reeder müssen zwar eine geringe Steuer auf die Tonnage entrichten, ihre Gewinne aber, die sie in der Regel auf Finanzplätzen in London und der Schweiz realisieren, sind steuerfrei.
„Dieses Steuerprivileg der Reeder ist bei uns verfassungsrechtlich verankert“, sagt Theoharis, „aber man wird irgendeine Lösung anstreben, bei der sie etwas mehr Steuern abführen müssen.“ Theodore Veniamos, Präsident der Vereinigung Griechischer Reeder, hat jüngst unverhohlen auf die „attraktiven Angebote“ hingewiesen, die gewisse Länder griechischen Reedern machten, um sie zu einer Niederlassung zu bewegen. Nein, den Standort Griechenland, will weder Theoharis noch Tsipras in Gefahr bringen. Es wäre wohl ein wirtschaftliches Harakiri.
Dem Staat aber fehlen Steuern, vor allem die Steuern der Reichen. Und solange nicht auch die begüterten Bürger ihren Obolus entrichten, solange keine Steuergerechtigkeit herrscht, ist es auch um die Steuermoral der andern schlecht bestellt. „Die Menschen ächzen unter der Steuerlast“, sagt Revekka Basmatzidou, „sie können einfach nicht mehr.“ Hinter dem Schreibtisch der Präsidentin der Gewerkschaft der Steuereintreiber hängt ein Plakat von „Il Quarto Stato“ (der vierte Stand). Das Gemälde des Piemontesen Giuseppe Pellizza da Volpedo ist eine Hommage an die arbeitende Klasse, die aus dem Dunkel kommt und dem Licht entgegenschreitet, eine blühende Zukunft vor sich.
Basmatzidou aber sieht schwarz. „Wie sollen wir mit weniger Steuerbeamten mehr Steuern eintreiben?“, fragt sie. Früher waren es 10.500, aufgrund der Sparmaßnahmen sind es noch 9.000. In Deutschland ist ein Steuerbeamter im Durchschnitt für 730 Steuerzahler zuständig, in Griechenland aber für 1.127. „Und in den letzten zwei Jahren wurde die Steuergesetzgebung 48 mal geändert“, klagt die Gewerkschaftlerin, „wie sollen da unsere Beamten noch mitkommen? Wir brauchen klare Vorgaben der Politik, wir brauchen Weiterbildungsmöglichkeiten. Schäuble hat angeboten, 500 deutsche Steuereintreiber zu schicken. Bitte sehr. Sie sind willkommen.“
Was kann Basmatzidou tun, nachdem Zehntausende, vielleicht Hunderttausende die verhasste Immobiliensteuer vorsorglich nicht gezahlt haben, weil auf deren Abschaffung unter der neuen Regierung hofften? Strafverfahren einleiten? Bis zu einem rechtskräftigen Urteil können bis zu 13 Jahren vergehen, denn bei Beginn der Krise waren bei den Verwaltungsgerichten 800.000 Verfahren aufgestaut? Wohnungen pfänden? Tsipras hat gerade angekündigt, dass seine Regierung ein Gesetz einbringen werde, das die Pfändung von Erstwohnungen verbietet und das erlaubt, geschuldete Steuern in bis zu hundert Raten zu entrichten.
Das ist alles schön und gut. Der Staat aber braucht Cash flow, einen Nettozufluss liquider Mittel, sonst ist er pleite. Spätestens Ende März könnte es so weit sein, wenn in diesen Tagen keine Lösung gefunden wird. In Griechenland kennt jeder das Diktum von 1893: „Dystichos eptochevsamen“ – „Leider sind wir bankrott“. Mit diesen dürren Worten konfrontierte damals Charilaos Trikoupis die Öffentlichkeit mit der harten Wirklichkeit, nachdem er einen Monat zuvor zum siebten Mal Ministerpräsident geworden war.
„Wann werden Sie ‚Dystichos eptochevsamen’ sagen müssen?“ Dimitris Mardas, Vizefinanzminister und zuständig für den Rechnungshof, ist amüsiert über die Frage. „Wir werden einen Weg finden“, sagt er in seinem schlicht eingerichteten Büro, „es wird mit den Geldgebern eine Übereinkunft geben.“ Mardas ist Professor der Wirtschaftswissenschaft – wie sein Chef Giorgos Varoufakis, das Enfant Enfant terrible der Brüsseler Diplomatie. Doch anders als der neue Politstar mit der Lederjacke und dem freundlichen Grinsen wirkt er bescheiden, geerdet in den Mühen des Alltags. Die Ärmel hat er hochgekrempelt. Vor Mitternacht kommt er selten nach Hause.
„Wir werden die Euro-Zone nicht verlassen“, sagt Mardas, der bis Januar, bis Ende des Semesters, noch an der Universität von Thessaloniki gelehrt, geforscht und geprüft hat, „die Drachme ist keine Perspektive.“ Sein wissenschaftliches Spezialgebiet sind die öffentlichen Finanzen. Ein Grexit, prophezeit er, würde für eine kaum kalkulierbare Dynamik auslösen, dann gehe es bald nicht mehr um Milliarden Euro, sondern um Billionen. Er meint dies nicht als Warnung an die andere Seite. Er ist nicht der Typ Zocker. Er gibt dies einfach als Wissenschaftler zu bedenken.
Nüchtern im Gedankengang, trocken im Ton, unaufgeregt. Wer Mardas reden hört, hätte ihm nie zugetraut, dass er neben einer Reihe von wissenschaftlichen Fachbüchern auch einen Roman geschrieben hat. Da geht es um Schwarzgeld, Erpressung und um ein Mitglied einer EU-Kommission, das sich in eine geheimnisvolle Person verliebt. Der Polit-Thriller, erschienen 2012, trägt den Titel „Der Charme eines Crash“.
(nicht redigierte Version, die publizierte Version mag von dieser hier geringfügig abweichen). In der publizierten Version habe ich geschrieben, dass Giorgos Papakonstantinou der Nea Dimokratia angehört. Das ist falsch. Er gehört der sozialistischen Pasok an. Das habe ich nun hier korrigiert.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 20.02.2015