THESSALONIKI. Der schlaksige Mann bückt sich, zupft einige Blättchen von seinen Pflanzen, zerreibt sie zwischen Daumen und Zeigefinger und hält dem Besucher Krümel unter die Nase. „Hier, riech mal!“ Thymian, Oregano, Rosmarin, Lavendel. Grigoris ist stolz auf sein kleines Paradies, in dem auch Rhabarber und Rote Bete wachsen. Und mitten zwischen Salaten und Tomaten steht ein junger Olivenbaum. Noch ist sein Holz geschmeidig und glatt. Früchte wird er bestenfalls in fünf Jahren tragen, vielleicht auch erst in zehn. Ob Grigoris sie je pflücken wird, weiß er nicht. Wie lange wird er, der seinen Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen will, es hier allein aushalten? Der 19-Jährige, aufgewachsen in Thessaloniki, der zweitgrößten Stadt Griechenlands, ist nach dem Abitur aufs Land gezogen, nach Epanomi, ins leer stehende Haus seiner Großeltern auf der Halbinsel Chalkidiki.


Grigoris träumt von einer Zukunft als Koch, Bauer und botanischer Forscher. Nicht entweder oder. Alles will er eines Tages gleichzeitig sein. „Wir müssen neue Wege gehen“, sagt er, „die ausgetretenen Pfade verlassen.“ Gewiss, er wird am Sonntag seinen Zettel einwerfen. Griechenland wählt ein neues Parlament. Wer die neue Regierung bilden wird, ist ungewiss. Doch was kümmert es ihn? „Es wird sich sowieso nichts ändern“, sagt Grigoris entschieden, „die Änderung kann nur von unten kommen.“


Bienen züchten, Hühner füttern


Kostas Mavromatakis ist Logopäde. Zwei Jahre lang hat er in Thessaloniki in fester Anstellung gearbeitet. Dann wurde seine Stelle eingespart. Zunächst versuchte er, sich als Freiberufler über Wasser zu halten. Geklappt hat es nicht. So ist der 29-Jährige vor Kurzem zu seinen Eltern aufs Land gezogen, wo er Reben schneidet, Bienen züchtet und Hühner füttert. „Was soll ich in der Stadt rumhängen und Däumchen drehen“, sagt er, „nein, auf dem Land lebt es sich besser.“

Kostas Mavromatakis sagt dies in der Stadt, in Thessaloniki, in einem kleinen Bioladen, dessen Gründung sich einem bewaffneten Aufstand von Indianern im Süden Mexikos verdankt. 1994 hatten die Zapatisten in Chiapas ganze Landstriche erobert. Den dort angebauten Kaffee vertreiben die indianischen Rebellen bis heute über Solidaritätsgruppen.
„Eines Tages entschieden wir uns, neben dem revolutionären Kaffee aus dem fernen Mexiko auch Öl und Wein griechischer Bauern in die Regale zu stellen“, sagt Kostas Mavromatakis, „vor allem Erzeugnisse von Bauern aus der Umgebung – aus ökologischen Gründen, je weiter die Transportwege, desto höher der Energieverbrauch.“ Heute gibt es in dem kleinen Laden auch Honig, Marmelade und Fetakäse – alles direkt bei den Produzenten auf dem Land eingekauft. Der Erlös geht zu 90 Prozent an die Bauern. Mit dem restlichen Zehntel werden Ladenmiete und die Elektrizitätsrechnung beglichen. 23 Freiwillige betreiben das Geschäft. Die meisten arbeiten nur an einem Tag der Woche, auch Kostas. Lohn erhält keiner. Für vier Stunden Arbeit gibt es Lebensmittel im Gegenwert von zehn Euro.

Grigoris und Kostas Mavromatakis sind Flüchtlinge. Stadtflüchtlinge. Seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise vor zwei Jahren ist die Arbeitslosenquote von offiziell elf auf 22 Prozent gestiegen. Im Großraum Athen, wo heute vier Millionen Menschen leben, und in Thessaloniki, eine Million Einwohner, ist sie noch höher. Und am höchsten ist sie unter den Jugendlichen. In den Innenstädten schließen die Läden, im öffentlichen Dienst werden Stellen gestrichen. Und so hat sich nun die Landflucht, die zu städtischen Molochen geführt hat, in eine Stadtflucht verkehrt. Der griechische Bauernverband spricht von 40000 neuen Landwirten in den beiden vergangenen Jahren. Der Landwirtschaftsminister hat angekündigt, den Neubauern Ackerflächen zur Verfügung zu stellen.

Die tiefe Rezession, die die Griechen beutelt, hat aber nicht nur Elend und Depression erzeugt, sondern auch landesweit Bürgerinitiativen hervorgebracht. Wo der Staat versagt, erwacht vielerorts die Zivilgesellschaft. In Thessaloniki versorgen in einer jüngst gegründeten Sozialklinik 120 Ärzte unentgeltlich Patienten. Landesweit werden Hunderttausende Griechen in Suppenküchen gratis verköstigt. Altes wird in Frage gestellt und es wird nach neuen Lösungen gesucht. Man mag einwenden, dass die paar Dutzend armen Bauern, denen Kostas Mavromatakis und seine Genossen Käse, Wein und Olivenöl abkaufen, wirtschaftlich eine Quantité négligeable seien. Man mag über Grigoris und seine Utopie, gleichzeitig Forscher und Bauer zu sein, lächeln. Aber auch die Geschichte mit der Kartoffel haben am Anfang viele für eine Schnapsidee gehalten.

Die Kartoffelbewegung ging von Katerini aus, einer Kleinstadt am Fuß des Olymps, 70 Kilometer von Thessaloniki entfernt. Einer ihrer Gründer ist Ilias Tsolakidis, 53, von Beruf Sportinformatiker, ein Mann mit dichtem, ergrauten Haar. „Ich hörte, dass in Nevrokopi, einem Dorf nahe der bulgarischen Grenze, Bauern 70 Prozent ihrer Kartoffelernte nicht los geworden waren“, erzählt er, „andererseits überschwemmten Kartoffeln aus Ägypten, Frankreich, Deutschland und Zypern die Regale unserer Supermärkte.“ Für das Kilo Kartoffeln erhalten griechische Bauern von den Großhändlern je nach Qualität zehn bis 13 Cent. Im Supermarkt kostet dasselbe Kilo dann 70 bis 90 Cent.

Tsolakidis tat sich Ende Februar mit einigen Freunden zusammen. Übers Internet boten sie Kunden in Katerini und Umgebung Kartoffeln für 25 Cent das Kilo an. Innerhalb von nur acht Stunden, sagte Tsolakidis, seien auf dem Formular, das er ins Netz stellte, insgesamt 24 Tonnen Kartoffeln bestellt worden. Er rief einen Bauer von Nevrokopi an. Schon eine Woche später fuhr dieser mit einem Lastwagen vor und verkaufte die Ware an die Leute, die mit ihren von der Website heruntergeladenen Bestellzetteln in der Hand um Kartoffeln anstanden. „Wir haben kein Geld genommen, wir waren nur Mittler des Geschäfts“, sagt der Informatiker, „wir hatten keine Ausgaben, für den Transport kam der Bauer selbst auf, er verkaufte auf dem Platz seine Kartoffeln eigenhändig und nahm 25 Cent pro Kilo cash mit nach Hause.“ Immerhin 6000 Euro.

Es war nur der Anfang. Am folgenden Sonnabend trafen bereits drei Laster aus Nevrokopi in Katerini ein. Insgesamt vermittelte die von Tsolakidis und seinen Freunden gegründete Bürgerinitiative übers Internet den Verkauf von 225 Tonnen Kartoffeln. Das Beispiel machte im ganzen Land Schule. Und als die Ernte der Erdknolle im März zu Ende ging, war das Mehl an der Reihe. Die beiden Mühlen von Katerini importieren Getreide aus Russland, Polen und Ungarn. In ganz Griechenland gibt es nur zwei Mühlen, die ausschließlich griechisches Getreide mahlen. „Bei denen orderten wir 110 Tonnen Mehl“, sagt Tsolakidis, „wir wollen ja unseren griechischen Bauern helfen und der Staat soll doch Devisen sparen.“

Und nun also das Olivenöl. Mitte April rief die Bürgerinitiative interessierte Bauern dazu auf, ihre Produkte öffentlich testen zu lassen. Die Kunden tunkten auf dem Platz von Katerini Brotbrocken in die Öle von über 40 Bauern, kosteten das Angebot und entschieden dann in geheimer Abstimmung darüber, wer den Zuschlag bekam. Am 12. Mai wird geliefert: Der Fünfliterkanister mit hochwertigem kaltgepressten Olivenöl wird 15 Euro kosten, im Supermarkt bezahlt man dafür 28 Euro. 1200 Bestellformulare wurden ausgefüllt. Viele orderten auch für Familien mit, die keinen Computer haben. „40 Prozent der Stadtbevölkerung kaufen das Öl über uns“, schätzt Tsolakidis und zeigt auf die andere Straßenseite, „Massoutis, der Supermarkt da drüben, die Filiale einer der größten Ketten des Landes, könnte Öl in solchen Mengen gar nicht ordern oder würde, wenn er es könnte, jedenfalls nie bar bezahlen.“

Tsolakidis erzählt dies in akzentfreiem Deutsch. Mit achtzehn ist er ausgewandert, um in Köln Sport und Sportverwaltung zu studieren. Eine Zusatzausbildung in Sportinformatik kam hinzu. Heute ist er technischer Leiter des European College of Sport Science und pendelt zwischen Köln und seiner Heimatstadt Katerini. „Natürlich werde ich am Sonntag wählen gehen“, sagt er, „aber ich bin sicher, dass erst mal alles noch viel schlimmer wird. Ich hoffe, dass wir bald mal ganz unten ankommen. Erst wenn man Boden unter den Füßen hat, kann man springen. Ich bin ein Optimist.“


„Ich kann ohne Euro“


Optimistisch gibt sich auch Kostas Nicolaou. Der promovierte Umweltchemiker ist 56 Jahre alt, er lehrt in Thessaloniki Stadtplanung. Daneben ist Kostas Nicolau aktives Mitglied der Bewegung K 136. Diese mobilisiert gegen die Privatisierung der Wasserwirtschaft. Zurzeit kommt in Griechenland nämlich alles unter den Hammer. Und die Stadt Thessaloniki will ihr Wasser verkaufen – genauer gesagt 40 Prozent ihrer Aktien an der Wasserversorgungsgesellschaft Eyath. Als aussichtsreichste Käufer gelten die Großkonzerne Suez und Veolia.

Doch Wasser ist ein öffentliches Gut und die Bewegung K 136 will deshalb die Privatisierung der Versorgung verhindern. Wenn ihr dies nicht gelingt, will sie selbst als Käufer einsteigen. „Wir sind dabei, in allen 17 Stadtteilen von Thessaloniki Kooperativen zu bilden, deren Mitglieder im Notfall für 136 Euro eine Aktie von Eyath erwerben“, sagt Kostas Nikolaou, „danach übernehmen die Bürger die Versorgung in eigener Regie.“

Michael Panagiodidis wiederum will das Wirtschaftsleben auf alternative Art organisieren. Das Credo des Religionslehrers und Philosophen lautet: „Wir müssen unser Schicksal selbst in die Hände nehmen. Die Gesellschaft muss von unten her reformiert werden.“ Zusammen mit Freunden hat er einen Tauschmarkt organisiert. Im Büro des kleinen Ladens in Thessaloniki, in dem sich alles sammelt, was man sonst auf Flohmärkten findet, verkündet ein Plakat: „Boro choris euro“ – „Ich kann ohne Euro“. Panagiodidis und seine Freunde sind dabei, die Eurozone freiwillig zu verlassen. Sie haben den Euro durch den Koino ersetzt.

Der Koino ist soziales Geld, das für ein bestimmtes Quantum gesellschaftlicher Leistung steht, eine virtuelle Währung also. Es gibt keine Koino-Münzen, keine Koino-Scheine, und trotzdem vermittelt der Koino Kauf und Verkauf – von Waren oder Dienstleistungen. Da will zum Beispiel jemand eine Jacke verkaufen und braucht für seinen Sohn zehn Nachhilfestunden in Mathe. Nun findet er jemanden, dem die Jacke gefällt, der aber von Mathe leider nichts versteht. Kein Problem. Der Mann verkauft ihm die Jacke gegen, sagen wir mal, 50 Koino. Mit diesen 50 Koino engagiert er einen arbeitslosen Mathelehrer für zehn Nachhilfestunden. Der geht mit den 50 Koino zum Mechaniker, um die Bremsbeläge seines Autos zu erneuern.


Ein Anarchist? Ein Spieler?


Der Koino wurde erst im Februar eingeführt, mehr als 120 Leute benutzen ihn mittlerweile als Währung. Die finanziellen Transaktionen laufen übrigens über das Internet. Um Spekulationen und Überschuldung vorzubeugen, gibt es ein siebenköpfiges Gremium, das die Zahlungen und die Konten aller Beteiligten kontrolliert. Über ein Dutzend ähnliche Tauschbörsen gibt es inzwischen in Griechenland.

Panagiodidis hofft, dass die Mitglieder der Koino-Gesellschaft dahin kommen, mindestens 30 Prozent ihrer Geschäfte in der sozialen Währung abzuwickeln. Eine zentrale Macht sei überflüssig, wenn alle aktiv seien, sagt er, auch brauche es dann keine Regierung, kein Parlament. Ist der 54-jährige Religionslehrer ein Anarchist? Oder nur ein Spieler? Was meint er ernst? Was ist Provokation? Schwer zu sagen. Nachfragen quittiert er mit einem freundlichen Lächeln. Vielleicht sieht er alles nur als pädagogisches Experiment, als Rollenspiel. Die Menschen sollen üben, aktiv zu werden, sich in die Lage des anderen zu versetzen, die Arbeit des anderen wertzuschätzen. „Die Gesellschaft muss von unten her reformiert werden“, wiederholt Panagiodidis zum Abschied. Wählen geht er am Sonntag trotzdem.


© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 05.052012

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