Sie wurden geschlagen, gedemütigt und missbraucht. Zehntausende von Schweizern mussten in ihrer Jugend wie Leibeigene auf Bauernhöfen schuften. Nach langem Schweigen verlangen die ehemaligen Verdingkinder nun Wiedergutmachung.


BERN. Es ist ein erhabenes Panorama. Am Horizont leuchten Eiger, Mönch und Jungfrau, das majestätische Dreigestirn der Berner Alpen. Föhnlage herrscht, der Fallwind sorgt für klare Fernsicht. Die verschneiten Berge, scharf konturiert, sind zum Greifen nahe, davor zieht sich eine sanfte Hügellandschaft dahin. „Dort“, sagt Hugo Zingg und zeigt auf den grünen Streifen vor dem strahlenden Weiß, „dort liegt das Gürbetal.


Zingg ist ein Mann von robustem Körperbau, mit kantigem Gesicht und kräftigen Händen. Man sieht ihm an, dass ihm im Leben nichts geschenkt wurde. Geboren wurde er 1936 in Bern, im Mattequartier, unten an der Aare, wo damals vor allem ärmere Leute wohnten. Die Eltern gaben ihn schon früh weg zu einem Friseur, der Kinder gegen ein Kostgeld in Pflege nahm. Als der kleine Hugo das schulfähige Alter erreichte, wurde er auf einen Bauernhof in Wattenwil im nahen Gürbetal untergebracht. Er wurde verdingt, so hieß das damals. Und fast täglich verprügelt.

Der Junge ohne Namen

Das alles liegt Jahrzehnte zurück, doch erst jetzt kämpfen ehemalige Verdingkinder wie Hugo Zingg gegen das Vergessen und Verschweigen: Über einen Betroffenenverein fordern diejenigen, die in ihrer Kindheit wie Leibeigene ausgebeutet worden sind, eine offizielle Entschuldigung, dringender noch als eine Entschädigung.

Zingg redet gelassen über die längst vergangenen Zeiten. Doch sind sie wirklich vergangen? Manchmal verkrallen sich seine Finger, wenn er von seiner gestohlenen Jugend erzählt. Manchmal stockt ihm die Sprache und er hilft sich mit einem schnellen, etwas schrägen Lächeln darüber hinweg. Manchmal scheint sich sein Blick in der Ferne zu verlieren, und er redet von sich, als ob er von einem andern sprechen würde. Dann wieder schließt er die Augen, denkt nach. Vielleicht sucht er ein Bild.

Das Bild von einem Jungen, der jeden Morgen um vier Uhr früh aufstand, Holz in die Küche schleppte fürs Feuer, über dem er die Schweinetränke kochte. Von einem Jungen, der den Kuhstall ausmistete, die Pferde fütterte, 80 Liter Milch schulterte, um sie zur Käserei zu bringen, bevor er zur Schule hochstapfte, wo er in der Klasse dann oft einschlief. Von einem Jungen, der nach der Schule Böden schrubbte, die Wiesen mähte, das Heu einbrachte. „Zehn Jahre lang habe ich auf dem Hof gearbeitet, geschuftet bis zum Umfallen“, sagt Hugo Zingg, „ein Bett kannte ich nicht. Ich schlief zusammen mit dem Knecht in einem Holzrahmen, der mit Stroh gefüllt war. Nicht einmal Unterwäsche hatte ich. Ich stopfte einfach das Hemd in die Hose.“

Fast täglich verdrosch ihn die Bäuerin mit dem Lederriemen. Einen Grund fand sie immer: der Boden war nicht sauber gefegt, ein Eimer war umgestürzt, eine Kuh wollte nicht kalben, ein Blitz war in den Baum eingeschlagen. „Sie war ein Sauluder“, sagt Zingg, „und das ist noch zurückhaltend ausgedrückt.“ Und der Lehrer? Der Vormund? Der Pfarrer? Die haben doch alles mitgekriegt. Hat denn niemand eingegriffen? Die Frage nötigt dem ehemaligen Verdingbub nur ein müdes Lächeln ab. „Es waren eben andere Zeiten, auf den Dörfern herrschte Armut“, sagt er, „der Lehrer erhielt vom Bauern einen Sack Kartoffeln und schwieg, der Vormund wollte auf den Speck nicht verzichten und schwieg auch.“

Hat er denn nie daran gedacht, einfach abzuhauen? Wieder so eine naive Frage. „Abhauen? Wohin? Ich war ein Kind, ich kannte doch niemanden. Ich war es gewohnt, mich zu ducken, Schläge einzustecken.“ Dass er nichts konnte, nichts wert sei, nur ein Niemand – das war die Botschaft, die Hugo Zingg tagtäglich mit dem Lederriemen eingebläut wurde. Nicht einmal einen Namen hatten die Bauern für ihn, es habe einfach „Bueb, mach das, mach säb“ geheißen. Junge, mach dies, mach jenes. Und zwar plötzlich.

Auf dem Hof im Gürbetal hatten vor seiner Ankunft schon drei Verdingbuben Selbstmord begangen. Niemand schritt ein. Eines Tages hatte auch der Knecht, früher selbst Verdingkind, jeden Lebensmut verloren. „Am 1. Januar 1950 holte ich sein Gewehr“, sagt Zingg, „damals hatte ja noch jeder Schweizer Dienstwaffe und Munition zu Hause, ich reichte ihm den Karabiner, er ging in den Wald und erschoss sich. Am nächsten Tag war die Beerdigung.“ Schuldgefühle, sagt er, hätte er keine gehabt: „Ich war noch keine 14 Jahre alt, und mir hat ja niemand je gesagt, was gut und was schlecht ist.“

Um 1930, vermutet Marco Leuenberger, waren in der Schweiz über 60000 Kinder „fremdplatziert“, wie es offiziell hieß. Der Historiker erforscht das Thema seit acht Jahren an der Universität Basel und hat fast 300 Lebensgeschichten zusammengetragen. Verdingt wurde bis in die Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, es dürften noch mindestens 10000 ehemalige Verdingkinder leben. Zu seinem Forschungsgegenstand kam Leuenberger, weil sein Vater selbst ein Verdingkind war. „Und er hat Glück gehabt, zu Hause oder im Heim wäre es ihm wohl schlechter ergangen“, sagt Marco Leuenberger. Es gab ja durchaus auch Pflegefamilien, die die Mündel gut behandelten. Aber viele wurden sexuell missbraucht, die meisten körperlich und seelisch misshandelt – und alle mussten sie hart arbeiten, in der Regel weit mehr, als die Bauern ihren eigenen Kindern abverlangten.

Es war nicht Nächstenliebe, sondern Kalkül. Arme Bauernfamilien nahmen fremde Kinder auf, weil sie dafür von deren Eltern oder der Vormundschaft Geld erhielten und zudem eine Arbeitskraft bekamen, der sie nur Kost und Logis bieten mussten. Beides war oft von minderer Qualität: Sauerkraut und Strohsack. Bis 1912 gab es in der Schweiz sogar Verdingmärkte, auf denen Kinder denjenigen übergeben wurden, die am wenigsten Geld forderten – der Staat wollte ja sparen. Oft waren es unehelich geborene Kinder, die man ihren Müttern entrissen hatte. Eine allgemeine Rentenversicherung führte die Schweiz erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Vorher bedeutete der Tod eines Ehepartners oft den Absturz in die Armut. Da gab manche Mutter ihr Kind mehr oder weniger freiwillig her.

Heute, sagt Leuenberger, der Historiker, kämen Pflegekinder eher bei wohlhabenden Familien unter. „Während früher Kinder durch Fremdplatzierung traumatisiert wurden, versucht man heute, traumatisierte Kinder aus kaputten Familien zu retten.“ Früher durfte jedes Ehepaar, das nicht „armengenössig“ war, also nicht auf Gaben der öffentlichen Hand angewiesen war, Pflegekinder aufnehmen. Ohne dass die Familienverhältnisse überprüft wurden. Heute ist die Aufnahme fremder Kinder an zahlreiche Auflagen gebunden und die Aufsicht durch die zuständigen Behörden einigermaßen gewährleistet. Vor allem aber ist Gewalt gegen Kinder gesellschaftlich geächtet, während sie früher als Bestandteil einer normalen Erziehung galt.

„Noch schlimmer als die Prügel waren die täglichen Demütigungen, die vielen kleinen Gemeinheiten“, sagt Dora Stettler. „Ich war ein Fremdling, kein Bauernkind, der Bauer war nur scharf auf Kostgeld.“ Stettler ist 85 Jahre alt, Typ rüstige Rentnerin. Die Treppe zur Terrasse des Berner Bahnhofs steigt sie mühelos hinauf, ihr Gedächtnis funktioniert noch gut. Ihre Geschichte erzählt sie so detailreich, als ob alles erst gestern geschehen wäre. 1927 in Bern geboren, wurde sie 1934 auf einen Bauernhof verdingt. Die Eltern hatten sich scheiden lassen. Der Mutter war zwar das Sorgerecht zugesprochen worden, aber ihr neuer Liebhaber wollte keinen „Anhang“. „Eines Tages lud sie mich zu einem Sonntagsausflug ein“, erinnert sich Dora Stettler, „von dem es keine Rückkehr gab. Sie stellte mich einfach bei einer Bauernfamilie ab, sagte: ‚Das ist jetzt dein neues Zuhause‘ und ging weg. Ich war gerade sieben Jahre alt!“

Zur Einsamkeit kamen die endlose Schufterei und tägliche Prügel. Nach einem Jahr durften Dora Stettler und ihre Schwester, die auf dem selben Hof verdingt worden war, zu einer anderen Familie umziehen. Ihr Vater hatte die Misshandlungen bei einem Besuch bemerkt und ihre Versetzung erreicht. „Wir kamen jedoch vom Regen in die Traufe“, sagt Dora Stettler, „unsere neue Pflegemutter stellte sich bald als wahre Teufelin heraus. Es war die Hölle.“ Wieder Plackerei von früh bis spät, Prügel für jede Kleinigkeit und verdorbenes Essen. „Wir freuten uns aufrichtig, wenn es am Sonntag gebratenes Katzenfleisch gab.“

Sie hat ihre Geschichte aufgeschrieben. „Im Stillen klagte ich die Welt an“, heißt ihr Buch, das vor acht Jahren erschien. Es ist eine Geschichte von abgrundtiefer Einsamkeit, die Geschichte einer geraubten Kindheit. Zahlreiche Lesungen hat die alte Frau gehalten, immer wieder hat sie von ihrem Leben erzählt. Schon oft ist sie danach von Menschen angesprochen worden, die ein ähnliches Schicksal hatten, die ebenfalls als Verdingkinder aufwuchsen – ohne emotionale Nähe, Zuneigung und Liebe zu erfahren, ohne einen Vater, der einen beschützt, oder eine Mutter, bei der man sich ausheulen kann.

Hugo Zingg und Dora Stettler haben sich im „Netzwerk Verdingt“ kennengelernt. Der Verein wurde vor vier Jahren zum Erfahrungsaustausch gegründet – und zur Wiedergutmachung. Aber was lässt sich denn wieder gut machen? Wie kann man vermasselte Karrieren, seelische Schäden, Traumatisierung mit Geld aufwiegen? Acht Forderungen erhebt das Netzwerk, unter anderem eine uneingeschränkte Akteneinsicht und die Errichtung eines Härtefallfonds. Ganz oben auf der Liste steht die Forderung nach einer offiziellen Entschuldigung der Regierung. „Wir verlangen das öffentliche Eingeständnis einer staatlichen Mitschuld an hunderttausendfach erlittenem Unrecht“, sagt Walter Zwahlen, der Präsident.

Eine solche Entschuldigung könnte viele ehemalige Verdingkinder ermutigen, aus dem Schatten herauszutreten. Noch wird erlittenes Unrecht oft als selbst verschuldetes Schicksal verstanden. Noch schweigen viele aus Scham. Auch Hugo Zingg hat lange gebraucht, um über seine Kindheit zu reden. Am Anfang schien es ihm schlicht nicht opportun: Wohl ein Dutzend Mal hat er sich um eine Stelle beworben und wurde abgelehnt, als man von seiner Zeit als Verdingkind erfuhr. „Bei Mädchen hätte ich ja auch keine Chancen gehabt, wenn ich davon erzählt hätte“, sagt Zingg, „nicht einmal meinem eigenen Sohn habe ich es gesagt.“

Mit 22 Jahren suchte er seine Eltern auf, die ihn als Kleinkind einem Heim anvertraut hatten. „Es war eine peinliche Situation“, erinnert er sich, „die Mutter heulte unentwegt.“ Ende der Fünfzigerjahre war das, sie sahen sich danach noch einmal wieder, doch da ließ sich nichts kitten. Vater und Mutter sind längst verstorben, aber vor drei Monaten holte Hugo Zingg die Familiengeschichte wieder ein: „Da klingelte es, ein Mann stand vor meiner Tür und sagte: ‚Ich bin dein Bruder.'“

Der wiedergefundene Bruder

Die beiden hatten sich vor 70 Jahren das letzte Mal gesehen, Heinz Zingg hatte mit seinen Pflegeeltern Hugo im Kinderheim besucht. Im vergangenen Dezember las er in einer Schweizer Zeitung einen Artikel, in dem vom ehemaligen Verdingkind Hugo Zingg die Rede war, wohnhaft in Lyss, geboren im Berner Mattequartier. Heinz wusste, dass er, bevor er den Familiennamen seiner Adoptiveltern annahm, auch Zingg geheißen hatte und im Mattequartier geboren wurde. Im Telefonbuch war in Lyss kein Zingg verzeichnet. So fuhr Heinz einfach hin und fragte sich im Dorf durch, bis er seinen zwei Jahre jüngeren Bruder fand.

Hugo Zingg hat es schwer gehabt im Leben. Er wurde verprügelt, gehänselt, ausgebeutet, zurückgestoßen, gedemütigt. Manchmal staunt er selbst darüber, dass er das alles überstanden hat. „Viele ehemalige Verdingkinder haben sich den Tod gegeben“, sagt er, „haben die Kurve nicht mehr gekriegt.“ Er selbst hat sich mit allerlei Arbeiten durchs Leben geschlagen. Mit 43 Jahren fand er bei einer Firma, die Frankiermaschinen herstellt, eine feste Anstellung und blieb bis zur Pensionierung 2001.

Vor einem Jahr hat Zingg doch noch mal einen Job angenommen – als Statist in Markus Imbodens Film „Der Verdingbub“, mit 230000 Zuschauern in neun Wochen der erfolgreichste Schweizer Film seit Jahren. Er erzählt die traurige Geschichte eines Jungen, wie Hugo Zingg einer war – eine Geschichte, so glaubte der ehemalige Verdingbub noch vor kurzem, die doch sowieso niemanden interessiert.


© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 10.04.2012

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