GUATEMALA-STADT. Nebel hängt in den Bergwäldern. Am Horizont erheben sich majestätisch der rauchende Volcan de Fuego und sein längst erloschener Zwillingsbruder Volcan de Agua, der Feuervulkan und der Wasservulkan. Dunkle Kaffeesträucher klettern die Hänge hoch. Acatenango, nur eine Autostunde von der guatemaltekischen Hauptstadt entfernt, liegt in einer paradiesischen Landschaft. Doch der Alltag ist mühsam. Männer mit den scharfkantigen Gesichtern der Nachfahren der Maya schleppen schwere Bündel Brennholz durchs Dorf. Im Waschhaus schrubben Frauen in traditioneller indianischer Tracht Bettlaken, Hemden, Röcke und Hosen. Es ist eine Welt jenseits von Elektroherd und Waschmaschine.
Im unteren Teil des Dorfes aber ist die Moderne längst angekommen. Don Florencio, Präsident der Kaffeekooperative von Acatenango, zeigt die Verarbeitungsanlage, mit der die Kaffeekirschen geschält werden, die die Familien der 301 Genossenschaftsmitglieder auf tausend Hektar Land von Hand gepflückt haben, den Betonboden, auf dem sie an der Sonne getrocknet werden, und die aus Brasilien importierten Maschinen, die für die Trocknung sorgen, wenn die Sonne streikt. Die Schalen werden in lange Tröge geworfen, in denen eine Tonne Würmer – Kilopreis 25 Dollar – sie zu Kompost verdauen, mit dem danach die Kaffeesträucher gedüngt werden. Don Florencio streift sich einen Handschuh über, greift in einen Trog und hält dem Besucher eine Handvoll halbfertigen Kompost mit einigen hundert roten oder kalifornischen Würmern unter die Nase. Ziemlich unappetitlich, aber sehr gesund. „All dies haben wir Don Ulrich zu verdanken“, sagt er, „früher haben wir die Kaffeeschalen in den Fluss geworfen und das Wasser verseucht.“
Bestechungsversuch mit Folgen
Ulrich Gurtner, 54 Jahre alt, hat sein Büro in Guatemala-Stadt. Über seinem Schreibtisch hängen viele Fotos von Verwandten und Freunden und auch eines von Jacobo Arbenz. Der war Sohn eines Schweizers und 1951 zum Präsidenten Guatemalas gewählt worden. Er hatte versucht, brachliegende Ländereien des mächtigen US-Konzerns United Fruit Company zu verstaatlichen und wurde 1954 mit tatkräftiger Hilfe der CIA gestürzt. Arbenz war kein Revolutionär. Er wollte bloß mit einer Agrarreform das Elend der Campesinos mindern.
Auch Ulrich Gurtner ist Schweizer und kein Revolutionär. Nach Guatemala kam er 1982 als Repräsentant eines traditionsreichen Handelshauses mit Sitz in Winterthur bei Zürich, das sich auf den Import von Kaffee und Kakao spezialisiert hatte. Gurtner war damals 26 Jahre alt, hatte ein Jurastudium und ein dreijähriges Praktikum bei einer Großbank hinter sich. Gute Voraussetzungen für den neuen Job in Guatemala, dem Land, das weltweit drittgrößter Exporteur von Kaffee ist. Es war sein erster Arbeitsplatz im Ausland. Er gewöhnte sich an vieles. Andere Länder, andere Sitten.
Dennoch war Gurtner völlig überrascht, als ihm 1986 eines Tages die Exportlizenz entzogen wurde. Noch mehr erstaunte ihn, dass kurz danach die Anacafe, der mächtige Verband der Kaffeeproduzenten, ihn über Mittelsmänner aufforderte, 300 000 Dollar zu entrichten. Es war pure Erpressung. Ihm war klar: Würde er bezahlen, dürfte er wieder exportieren. Was tun? „Ich setzte mich mit meinem Handelshaus in der Heimat in Verbindung“, berichtet der Schweizer, „man riet mir ziemlich unverblümt, die lokalen Sitten zu respektieren.“ Doch Gurtner ließ sich von seinem moralischen Kompass leiten. Er zahlte nicht. Sein Arbeitgeber dankte ihm die Standhaftigkeit mit einer Kündigung. Schon kurz danach hagelte es Todesdrohungen. Gurtner verließ das Land.
Damit hätte die Geschichte ein Ende haben können. Doch Ulrich Gurtner hatte eine kleine Tochter in Guatemala. Also kam er schon bald zurück. Er fand eine Anstellung als Berater von Fedecocagua, deren demokratisch gewählter Geschäftsführer er seit 1998 ist. Die Fedecocagua ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, in der sich über hundert Kooperativen mit insgesamt mehr als 20 000 Familien von Kaffeepflanzern zusammengeschlossen haben. Der Verband sorgt für den Zugang zu Krediten, für technische Beratung, oft auch – wie in Acatenango – für eine rudimentäre Gesundheitsversorgung und vor allem für den Vertrieb der Produkte. Lastwagen von Fedecocagua transportieren den Kaffee nach San José und Puerto Barrios, zu den Häfen Guatemalas am Pazifik und am Atlantik. Jeder Lkw wird von zwei bewaffneten Privatpolizisten begleitet. Nicht selten kommt es zu Raubüberfällen.
Ulrich Gurtner sieht die Armut und die Ungerechtigkeit im Land, er kennt die Herrschaftsstrukturen, und er will etwas verändern, nicht als Politiker, da mischt er sich nicht ein, und schon gar nicht als Bauernführer. „Ich bin Unternehmer mit sozialer Verantwortung“, sagt er, „der Kaffee bringt keinen Gewinn mehr, die Verluste gleiche ich an der Börse aus. Sie können es Spekulation nennen.“ Ein Spekulant mit sozialer Ader. „Ich habe schon oft schlaflose Nächte gehabt“, sagt Gurtner, der die Fedecocagua geschickt durch schwierige Zeiten gesteuert hat, und man glaubt es ihm.
Die Fedecocagua ist eine Erfolgsgeschichte. Vor über 40 Jahren gegründet, hat sie Diktatur und Krieg überlebt und ist zu einem beachtlichen Wirtschaftsfaktor geworden. Sie verfügt über die modernsten Kaffeeverarbeitungsanlagen. Obwohl der Staat die Coyotes, die Hyänen, wie die Kaffeeaufkäufer genannt werden, steuerlich begünstigt, ist es Fedecocagua gelungen, im harten Konkurrenzkampf mitzuhalten. Im vergangenen Jahr hat sie für 55 Millionen Dollar Kaffee exportiert. Etwa die Hälfte davon war zertifiziert: Starbuck’s, Nespresso, Fair Trade. Mit Zertifikaten erhält man höhere Preise, ist aber an strikte Auflagen gebunden. „Bei Fair Trade sind es 61 Bestimmungen“, erklärt Gurtner, „wir müssen jetzt auch sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zum Thema machen.“
Der Erfolg von Fedecocagua schafft nicht überall Freude. Bei Anacafe, dem von den Kaffeebaronen kontrollierten Verband der Kaffeeproduzenten, dem auch Fedecocagua angehört, wittert Gurtner Missgunst. Bis im vergangenen November wurde Anacafe von Christian Rasch geleitet. Der schwerreiche Deutsche, Repräsentant der Besitzer großer Plantagen, und der engagierte Schweizer, Vertreter der Kooperativen von Kleinpflanzern, hatten das Heu nicht auf demselben Boden, wie man in Gurtners Heimat sagt – es gab viel Zwist zwischen den beiden. Im vergangenen Jahr dann beschlagnahmte die Polizei bei Fedecocagua Computer und Dokumente. Dahinter steckte – so mutmaßt Gurtner – der Anacafe-Präsident Rasch.
Rasch war sehr eng mit Rodrigo Rosenberg befreundet, einem Rechtsanwalt, der im Mai des vergangenen Jahres erschossen wurde. Am Tag nach dem Mord tauchte ein aufsehenerregendes Video auf. „Mein Name ist Rodrigo Rosenberg“, sprach da der 48-jährige Anwalt, „falls Sie diese Botschaft vernehmen, dann deshalb, weil ich vom Privatsekretär des Präsidenten mit dessen Einverständnis ermordet worden bin.“ Zehntausende zogen danach durch die Straßen der Hauptstadt und forderten den Rücktritt von Präsident Álvaro Colom.
Inzwischen ist der Mordfall, der beinahe zu Coloms Sturz geführt hätte, aufgeklärt. Rosenberg, offenbar nach der Ermordung seiner Geliebten von einer schweren Depression heimgesucht, hatte zwei befreundete Unternehmer gebeten, Killer anzuheuern, um einen Mann aus dem Weg zu schaffen, der ihn erpresse. Die beiden Freunde taten ihm den Gefallen und teilten dem Anwalt auch die Nummer eines gedungenen Killers mit. Rosenberg telefoniert mit diesem, beschrieb ihm, wie der angebliche Erpresser gekleidet sei – kurze blaue Hose, blaues T-Shirt, weiße Schuhe – und zu welcher Zeit er in der Regel an einer bestimmten Straße der Hauptstadt auftauchte. Dann setzte er sich in kurzer blauer Hose, in blauem T-Shirt und weißen Schuhen zur richtigen Zeit an diesen Ort und ließ sich erschießen. Es war gewissermaßen ein bestellter Selbstmord auf Umwegen. Einer der Mörder packte aus. Die anderen fünf wurden im vergangenen Monat in erster Instanz zu 38 Jahren Haft verurteilt.
Rosenberg wollte aus dem Leben scheiden und bei dieser Gelegenheit auch noch dem Präsidenten eins auswischen. Sein Tod sollte nicht umsonst sein. In seinem Video bezichtigte der Anwalt den gemäßigt linken Präsidenten, seine Geliebte ermordet zu haben. Der Banrural, der drittgrößten Bank des Landes, warf er Geldwäsche und Hinterziehung öffentlicher Subventionen vor, und Gerardo de León, den Marketing-Chef von Fedecocagua, bezeichnete er als Dieb und Mörder. Die Rede, abrufbar auf Youtube, war eine Suada gegen alle, mit denen sein Intimus, der Anacafe-Chef Rasch, über Kreuz lag.
Die Beschuldigungen waren völlig haltlos, zeitigten aber Folgen. Innerhalb einer Woche wurden von der Banrural, die gemeinhin als einzige sauber wirtschaftende Großbank gilt und die vor allem Kleinbauern und auch Fedecocagua Kredite gewährt, umgerechnet 170 Millionen Euro, ein Zehntel der Bilanzsumme, abgezogen, was sie an den Rand des Ruins trieb.
Aufgrund des Videos ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen die Bank. Sie fand nichts Belastendes und stellte die Untersuchungen ein. Bei Fedecocagua wurden auf der Suche nach Indizien für Mordpläne und Geldwäsche Computer und Geschäftsunterlagen beschlagnahmt – und all dies bloß, weil der todessüchtige Rechtsanwalt den Marketing-Chef des Verbands im Video zitiert hatte. „Dessen Namen hat ihm Rasch gesteckt“, vermutet Gurtner, „Rosenberg und de León kannten sich jedenfalls nicht.“
Empörter Protest
Der Schweizer protestierte bei der Cicig, der UN-Sonderkommission, die in Guatemala vor allem die Verwicklung von Sicherheitskräften in Verbrechen und Korruption untersucht und auch bei der Durchsuchung des Büros von Fedecocagua zugegen war. „Weder die Staatsanwaltschaft noch die Cicig haben uns mitgeteilt, was sie denn bei Fedecocagua überhaupt suchen“, schrieb Ulrich Gurtner empört und ließ seinen Brief auch den zwei Dutzend Botschaften und Konsulaten im Land zukommen. Gefruchtet hat der Protest nichts. Die Unterlagen des Verbands der Kaffeekooperativen liegen noch immer irgendwo bei der Staatsanwaltschaft. „Wie aber“, sagt Ulrich Gurtner, „soll ich auf der Jahresversammlung von Fedecocagua Rechenschaft abgeben, einen Jahresbericht vorlegen, wenn ich keine Unterlagen habe?“
Die Kaffeepflanzer von Acatenango sehen da keine Probleme. „Don Ulrich hat unser Vertrauen“, sagt Don Florencio, der die Kooperative von Acatenango mitgegründet hat, deren Präsident er nun ist, „der hat doch schon ganz andere Probleme gemeistert.“ Auch in der zentralen Kaffeeverarbeitungsanlage von Fedecocagua 20 Kilometer außerhalb der Hauptstadt, wo die roten Kaffeekirschen gewaschen, maschinell geschält, gehäutet, fermentiert, getrocknet und gelagert werden, hört man nur Gutes über Don Ulrich. Der Chef ist sehr beliebt. Pedro, einer der 18 Agronomen und technischen Hilfskräfte, sagt, ohne ihn gäbe es Fedecocagua wohl nicht mehr. Augusto, der in der größten Halle, wo auf 3 100 Quadratmeter 85 000 Zentner Kaffee gelagert werden, den Gabelstapler fährt, meint nur: „Tiene huevos“ – er hat Eier, was so viel heißt wie: der Mann hat Mut und lässt sich so schnell schon nicht unterkriegen.
Vor drei Jahren hat die Fedecocagua die Fundación Ulrich Gurtner gegründet, eine Stiftung, die den Kooperativen Baumaterial für Schulen und Krankenstationen zur Verfügung stellt. Gurtner selbst hat zumindest formell in der Stiftung nichts zu sagen. Er sitzt weder im Vorstand noch im Beirat. Auf der Website der Stiftung heißt es: „Aufgrund einer demokratisch gefällten Entscheidung nannte man die Stiftung nach dem Geschäftsführer der Fedecocagua, als Anerkennung für die Zeit und Energie, die Ulrich zugunsten der kleinen Kaffeeproduzenten Guatemalas investiert hat.“
Und Ulrich Gurtner? Hat er nicht ab und zu Lust, den ganzen Bettel hinzuschmeißen, sich nicht weiter mit korrupten Behörden herumzuplagen, nicht ständig gegen bürokratische Hürden anzurennen und sich in die Schweiz abzusetzen? „Ich kann doch nicht einfach das Handtuch werfen“, meint Gurtner, „ich muss mich gegenüber 20 000 Familien von Kaffeepflanzern verantworten. Ich bin ein Unternehmer mit sozialer Verantwortung.“ Er sagt es ohne jedes Pathos.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 11.08.2010