Viele Strassen im Zentrum der Millionenstadt sind nur noch mit einem Jeep zu schaffen. Knietiefe Löcher zwingen die Fahrzeuge zu einem Slalom im Fussgängertempo. An einigen Stellen haben die Anwohner das Pflaster aufgerissen, um Trinkwasser abzuzapfen. Herrenlose Hunde wühlen in Bergen von Abfall, der unter der tropischen Sonne dahinmodert. Und nachts drohen dem Ortsfremden, der sich trotz der bewaffneten Banden aus dem Haus getraut, zusätzliche Gefahren: Keine Laterne erhellt die Strassen, und vielerorts sind die Gullideckel gestohlen worden. Port-au-Prince, die Hauptstadt des völlig heruntergekommenen Karibikstaates Haiti, bietet ein Bild der Tristesse. Nichts als Dreck und Elend.
Doch an drei Tagen des Jahres ist alles anders, sind die Sorgen vergessen, wird die Gleichmut, mit der die Haitianer ihr scheinbar unabänderliches Schicksal hinnehmen , von einer überschäumenden Freude verdrängt. Die ganze Stadt vibriert. Karibische Rhythmen dröhnen durch die Strassen. Menschenmassen drängen sich, schieben sich, Körper an Körper, tanzend übers Pflaster. Es ist Karneval. Der Duft von Schweiss, billigem Fusel und gebratenen Hühnchen schwängert die Luft. Alle lachen: Supercoole, schlaksige Männer in Hip-Hop-Kluft, in der Hand ein Plastikbecher voll Zuckerrohrschnaps. Mädchen und Frauen, in engen Klamotten, die mehr zeigen, als sie verbergen. Kinder, die etwas ungelenk mithüpfen.
Auf farbig angemalten und reich geschmückten Lastwagen, die zu fahrenden Kulissen ausgebaut sind, trommeln Musikgruppen Wirbel durch die Nacht, wiegen maskierte Menschen ihre Hüften, deuten Paarungsversuche an. Baron Samedi, der Voodoo-Gott des Todes, und seine Frau, die Grande Brigitte, die Pfeife raucht und über die Lebenden lästert, trotten als trauriges Paar einem Wagen hinterher. Heute haben sie verloren. Denn heute herrscht Freude. Es ist der Tag des Lebens. Die Gesetze des Alltags sind ausser Kraft gesetzt.
Doch nicht ganz. Vor jedem Musikwagen schreitet eine Gruppe schwer bewaffneter Männer in kugelsicherer Weste, Helm auf dem Kopf, Gewehr im Anschlag, und erinnert an die wirkliche Welt. Seit Tagen war von Angriffen der „Chimären“ auf das Volksfest die Rede. Am Morgen des ersten Karnevalstages wurden am Rand der Stadt vier Polizisten erschossen, die den Lastwagen der Band „Mass Kompa“ des inzwischen weltberühmten haitianischen Sängers Gracia Delva ins Zentrum begleiten sollten. Der Mord geht Augenzeugen zufolge auf das Konto von Jean Anthony René alias „Grenn Sonnen“ (kreolisch für „läutende Hoden“). Der gilt heute als einer der gefährlichsten Anführer der „Chimären“.
In der griechischen Mythologie sind Chimären schnaubende Ungeheuer. Im Kreolischen, der Landessprache Haitis, heisst „m’an chimé“ soviel wie „ich bin wütend.“ Die „Chimären“ sind die bewaffneten Schlägerbanden , auf die Präsident Jean-Bertrand Aristide, der vor einem Jahr – im Morgengrauen des 29. Februar 2004 – das Land fluchtartig verliess, seine Macht abstützte. Der einst äusserst populäre Armenpriester hatte 1990 die ersten freien Wahlen nach 30 Jahren Diktatur der Duvaliers („Papa Doc“ und „Baby Doc“) gewonnen. Doch schon nach neun Monaten Amtszeit wurde er durch einen Militärputsch gestürzt. 1994 kehrte er quasi auf den Bajonetten der US-Army in den Präsidentenpalast zurück. Die Amerikaner waren auf der Karibikinsel einmarschiert war, um der blutigen Repression und vor allem der Massenflucht von boat people nach Florida Einhalt zu gebieten. Nach seiner Rückkehr löste Aristide die putschfreudige Armee kurzerhand auf. Je mehr er aber an Popularität verlor, weil sich für die Armen nichts änderte und in seinem Umfeld die Korruption wucherte, desto mehr stützte er nun seine Macht auf bewaffnete Gangs ab. Er rekrutierte sie vor allem unter seinen Anhängern in den ausufernden Elendsvierteln.
Vor anderthalb Jahren wechselte eine dieser Gangs – sie trug den absonderlichen Namen „Armee der Kannibalen“ – die Seite, nachdem ihr Anführer vom Regime ermordet worden war. Im Januar 2004 zettelte sie in Gonaives, der drittgrössten Stadt des Landes, einen Aufstand gegen Aristide an. Im Februar kamen ihr einige hundert Soldaten der zehn Jahre zuvor aufgelösten Armee zu Hilfe, die aus der benachbarten Dominikanischen Republik einsickerten. Der Aufstand weitete sich innerhalb von wenigen Wochen auf das ganze Land aus. Aristide flüchtete, und eine von den USA angeführte internationale Streitmacht marschierte, versehen mit einem Mandat des UN-Sicherheitsrates, noch am selben Tag in Haiti ein, um einen drohenden Bürgerkrieg abzuwehren.
Am 1. Juni des vergangenen Jahres wurde die internationale Streitmacht von UN-Blauhelmen abgelöst. Sie sollen, so sieht es die Resolution 1542 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vor, der haitianischen Regierung bei der Entwaffnung illegaler Gruppen und Verbände und bei der Ausbildung und Neustrukturierung der Polizei helfen, um so die staatliche Autorität über das ganze Territorium Haitis wiederherzustellen . Schliesslich sollen im November und Dezember Wahlen abgehalten werden. Oberkommandierender der etwas mehr als 6.000 Soldaten, die vor allem aus Lateinamerika kommen, aber auch aus Kroatien, Spanien, Marokko, Sri Lanka, Togo, Rumänien und einer Reihe weiterer Länder, ist Augusto Heleno Ribeira Pereira. Der 57jährige brasilianische General, der sich in Kampfuniform präsentiert, entspricht dem Bild, das man sich von einem Kommandanten schlechthin macht, ganz und gar nicht. Er ist eher Diplomat als Feldherr, keine Spur von Arroganz. Er wirkt nachdenklich, ja – auf eine durchaus sympathische Weise – geradezu sanftmütig.
„Gewalt erzeugt immer neue Gewalt“, sagt General Heleno, „ich bin gegen den blinden Einsatz von Gewalt, der nur das Leben unschuldiger Menschen kostet.“ Er wägt die Worte sorgfältig ab. „Man muss sehr vorsichtig vorgehen, man muss Geduld haben, wir müssen den Handlungsspielraum der schwer bewaffneten Gangs einschränken, sie isolieren, in die Ecke treiben“, sagt er, „und natürlich könnten wir – auf der andern Seite – die zurückgekehrten Soldaten der alten Armee sofort entwaffnen, aber das würde die Leute gegen uns aufbringen.“ In der Tat: Diese Soldaten sind weithin beliebt, weil sie auf dem Land dem Terror von Aristides Banden ein Ende gemacht haben und nun für Ruhe und Ordnung sorgen.
Der General ist in einer heiklen Lage. Greift er durch, könnte das nicht nur das Leben unschuldiger Haitianer kosten, sondern auch das Leben eigener Soldaten. Dann aber würde wohl die Stimmung in Brasilien kippen, wo das Parlament nur zögernd dem internationalen Einsatz zugestimmt hat. Einem Einsatz, mit dem Brasilien auf der internationalen Bühne seine Rolle als führende Nation Lateinamerikas und seinen Anspruch auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat untermauert.
In Port-au-Prince aber macht sich Enttäuschung über die Blauhelme breit. Vielerorts ist die Sicherheitslage heute schlimmer als unter Aristide. Zwei ganze Stadtteile – das riesige Slumviertel Cité Soleil am Rand der Stadt und Bel Air, ein Elendsviertel im Zentrum – werden von schwer bewaffneten Gangs kontrolliert. Seit die „Chimären“ am 30. September ihre „Operation Bagdad“ starteten, eine Terroroffensive zur Unterstützung ihrer Forderung nach Rückkehr des „entführten“ Präsidenten Aristide, sind über 400 Menschen den Kugeln zum Opfer gefallen, unter ihnen auch 30 Polizisten. Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren nicht mehr in diese Viertel, und auch kein Taxifahrer will das Risiko auf sich nehmen. Dutzende ausgebrannter Fahrzeuge beim Fort National, am Rand von Bel Air, sind ein deutliches Warnzeichen.
Das Viertel Nazon mit seinen 25.000 Einwohnern grenzt an Bel Air. „Seit September wurden allein in unserem Quartier 30 Menschen erschossen“, berichtet ein ausländischer Pater, der hier seit Jahren arbeitet und ungenannt bleiben möchte, „die meisten fielen den Kugeln ‚Chimären’ zum Opfer, einige auch jenen der Polizei.“ Sämtliche 13 Schulen sind geschlossen, weil niemand für die Schutzgelder aufkommen kann. Die letzte machte vor einer Woche dicht, nachdem eine mit Maschinenpistolen bewaffnete Bande ins Rektorat gestürmt war und vom Schulleiter 15.000 US-Dollar gefordert hatte. „Hier haben alle Angst, viele sind traumatisiert, und immer mehr verlassen das Viertel“, stellt der Pater fest. Jeden Dienstagabend lädt er zur offenen Aussprache in der Kirche ein. Um den öffentlichen Raum zurück zu gewinnen, hat er jüngst sogar einen Friedensmarsch organisiert. Immerhin etwa 300 junge Leute haben den Mut gehabt, singend durch die Strassen zu ziehen.
Wie so viele, hat auch Suzanne dem Druck nicht standgehalten. Wie ihre drei Brüder und vier Schwestern hat sie Nazon verlassen. Nur der Vater ist zurückgeblieben. Suzanne gehört zur Minderheit der Haitianer, die ein regelmässiges Einkommen haben. Sie arbeitet als Buchhalterin einer taiwanesischen Firma am Stadtrand. Aus Sicherheitsgründen holte sie ihr Freund jeden Tag zu Hause beim Fort National ab, fuhr sie zur Arbeit und am Abend wieder zurück. Bis eines Tages „Dread Moïse“, ein bekannter „Chimär“ , bewaffnet im Viertel auftauchte und sie zu entführen versuchte. Ihr Freund startete durch und gab Gas. „Er wollte wohl von meiner Familie Geld erpressen“, vermutet Suzanne, die Mulattin ist und schon deshalb den Chimären ein Dorn im Auge. Die übergrosse Mehrheit der Haitianer sind Schwarze. Die gesellschaftliche Elite des Landes aber bilden vor allem Mulatten, die vorzugsweise in den reichen Vierteln Pétionvilles wohnen, einer Stadt, die hoch über Port-au-Prince thront. Suzanne ist eine von Tausenden, wahrscheinlich Zehntausenden innerstädtischen Flüchtlingen.
Während weite Teile Nazons als unsicher gelten, ist Bel Air fest im Griff bewaffneter Banden, eine absolute no go area, völlig verkehrsfrei. Monatelang stapelten sich überall die Abfallberge, bis die Blauhelme im Januar schliesslich über 200 Lastwagen voll Müll aus dem Viertel karrten. Seit einigen Wochen patrouillieren UN-Panzer auf den Hauptstrassen Bel Airs, vorne und hinten auf dem Dach zwei schwenkbare Maschinengewehre. Reporter, die mitfahren wollen, müssen erst eine Erklärung unterschreiben, dass sie es auf eigenes Risiko tun. Man will sich gegen Schadenersatzforderungen absichern. Die Fahrt durch den Stadtteil ist eindrücklich. Vielerorts sieht es aus, als ob gerade eine Schlacht zu Ende gegangen sei: Verkohlte Autos, rauchende Abfallhaufen. Und immer wieder Kinder, die den Blauhelmen zuwinken, und Frauen, die Eimer schleppen. In Bel Air, das gleich hinter der Kathedrale im Zentrum der Stadt liegt, gibt es kein fliessendes Wasser. Erst hier vom Panzer aus, der einen Blick über die Häuser hinweg erlaubt, erschliesst sich, wie schwierig eine Entwaffnung ist. Das ganze Viertel ist ein Wirrwarr verschachtelter Hütten und Häuser, die nur durch schmale, verwinkelte Fusswege voneinander getrennt sind. Die Banditen haben hier bei jeder militärischen Auseinandersetzung ein Heimspiel. Eine Entwaffnung scheint nur möglich, wenn die ansässige Bevölkerung aktiv mithilft. Dazu müsste sie aber erst mal die Angst vor den Gangs verlieren. Und dies wiederum setzt voraus, dass die Blauhelme massiv auftreten und sich im Viertel festsetzen. Regelmässige Patrouillen sind da allenfalls eine erste Kontaktaufnahme. Beeindrucken werden sie die „Chimären“ kaum.
Ganz anders stellt sich die Problematik der Entwaffnung auf dem Land dar. Zum Beispiel in Petit Goâve. Das Küstenstädtchen mit seinen 8.000 Einwohnern ist Verwaltungszentrum eines Distrikts mit 40.000 Einwohnern. Es liegt nur 70 Kilometer westlich von Port-au-Prince und trotzdem knapp zwei Autostunden entfernt. Am zentralen Platz des Ortes steht, hinter Stacheldrahtrollen, ein gelb leuchtendes Haus mit der Aufschrift: „Hauptquartier der Armee Haitis“. Zwei Soldaten mit Gewehr im Anschlag stehen Wache, Auch an den Fenstern im ersten Stock sind Bewaffnete postiert. Hacken werden zusammengeschlagen, man grüsst militärisch. Alle sind in Tarnuniform – mit Ausnahme des Kommandanten Alophène Michel. Der präsentiert sich im roten Hemd, hat aber eine mächtige Magnum umgeschnallt. Es sind Soldaten der vor zehn Jahren von Aristide aufgelösten Armee.
„Gemäss der Verfassung, der Mutter aller Gesetze, Artikel 263“, hebt der Kommandant bedeutsam an, „gibt es zwei bewaffnete Formationen: die Armee und die Polizei.“ Die Abschaffung der Armee per präsidialem Dekret sei verfassungswidrig gewesen. Wahrscheinlich hat er recht. Doch 1994 wurde der spektakuläre Schritt Aristides frenetisch begrüsst. Die Armee, die sich noch nie an eine Verfassung gebunden fühlte, war verhasst. Sie hatte 1991 gegen Aristide, den gewählten Priester-Präsidenten, den Helden der Elendsviertel, geputscht und eine grausame Diktatur errichtet. Allein in Petit Goâve wurden damals 50 Anhänger Aristides getötet. Doch heute ist die Armee, die weite Teile des Landes kontrolliert, hier durchaus beliebt. Nach der Flucht Aristides am 29. Februar des vergangenen Jahres herrschte Terror im Städtchen. Dann kamen Soldaten der alten Armee, die sich zum Teil in der Dominikanischen Republik neu gruppiert hatten, und befreiten Petit Goâve, das heisst vertrieben die verhasste Polizei und die mit ihr verbandelten „Chimären“. Die Einwohner selbst griffen zum Pinsel und übermalten das blau angestrichene Polizeikommissariat mit Gelb, der Farbe der Militärs. Nun herrschte Ruhe.
Bis zum Januar. Da versuchten die srilankanischen Blauhelme, die Mitte November sich im Ort festgesetzt hatten, das „Hauptquartier der Armee“ zu räumen, um neue Polizisten ins alte Kommissariat einzusetzen. Doch sie wurden bald von aufgebrachten Anwohnern umringt. Steine flogen, die Ex-Soldaten feuerten paar Schüsse ab. Die Blauhelme zogen sich zurück. Seit drei Wochen gibt es nun doch eine Polizeistation, blau angestrichen, am Ortseingang. „Wir helfen der Polizei, ihre Aufgaben zu erledigen“, sagt Kommandant Michel schelmisch und schaut auf die Handschellen, die auf dem Tisch liegen, „und wenn sich unsere Patrouillen mit jenen der Blauhelme kreuzen, salutieren wir.“
Unten, auf der neuen Polizeistation, ist Siesta-Zeit. Etwa ein Dutzend Polizisten schlafen in einem Raum mit drei Matratzen, andere spielen Karten. Und der Polizeichef jammert, er habe nur einen Jeep und ein Motorrad für 55 Mannen. Von denen sind übrigens die Mehrheit ehemalige Soldaten, die ins neue Polizeikorps integriert wurden. Nein, mit den Soldaten gebe es keine Kooperation. Das sei eine illegale Truppe. Aber leider sei sie nun mal besser ausgerüstet als die Polizei.
In der Tat: Armeekommandant Michel verfügt über ein halbes Dutzend Jeeps und befehligt 273 Soldaten, von denen allerdings ein Teil gar nie der alten Armee angehörte, wie er zugibt. Trotzdem, die Soldaten sind die eigentliche Ordnungskraft im Ort. „Wenn die Justiz jemanden verhaften wollte“, erklärt Merlang Belabe, der Friedensrichter der Stadt, „hat sie nach dem Abzug der Polizei Aristides die Soldaten mit der Festnahme beauftragt. Doch jetzt, wo die Polizei wieder vor Ort ist, kann sie den Haftbefehl nicht weiterhin einer illegalen Truppe übergeben. Die Polizei aber wird in der Regel nicht aktiv, schon gar nicht, wenn sich der Gesuchte in einem entlegenen Dorf des Distrikts aufhält. So hat der Richter eine wahrlich salomonische Lösung gefunden. Er überreicht den Haftbefehl dem Nebenkläger, der geschädigten Zivilperson also, und der entscheidet dann selbst, wen er mit der Verhaftung beauftragt.“ Im neun von zehn Fällen, sagt Belabe, würden die Soldaten gebeten. Die Polizei gilt als korrupt. Die Militärs hingegen, wie illegal auch immer, haben den Ruf, ihre Aufgaben als Patrioten korrekt zu erfüllen.
Wem aber unterstehen die Soldaten von Petit Goâve? „Wir hören nur auf Ravix“, sagt Kommandant Michel, „nur er kann uns Befehle erteilen.“ Gegen Remissainthe Ravix, einen bereits vor der Auflösung der Armee wegen Drogenschmuggels entlassenen Offizier, besteht ein Haftbefehl, nachdem seine Soldaten jüngst fünf Polizisten kidnappten, um einen Kameraden freizupressen. Letzte Woche wollte ihn die Polizei in Pétionville, wo er sich mit über hundert Soldaten verschanzt hat, festnehmen. Sie rückte mit geballter Macht an, erschoss ein Schulmädchen und führte zwei Soldaten ab. Von Ravix keine Spur. Die Polizei stand danach als Kinderkiller und Ravix als schlauer Fuchs da.
Doch nun fällt noch ein anderer Schatten auf Ravix. Sein Chauffeur soll nach Angaben eines gewöhnlich sehr gut informierten westlichen Botschafters in Port-au-Prince „Grenn Sonnen“ zum Tatort gefahren haben, als der am ersten Karnevaltag die vier Polizisten ermordete. Eine Allianz zwischen Gegnern? Zwei Sachen haben „Grenn Sonnen“, der im Solde Aristides stand, und Ravix, der geholfen hat, Aristide zu verjagen, gemeinsam: Beide werden mit Haftbefehl gesucht, und beide widersetzen sich der Entwaffnung.
Der Karneval ging übrigens am dritten Tag in Schüssen unter. Tote gab es aber keine. Nach offiziellen Angaben wurden während des kollektiven Rausches nur sieben Personen erschossen, 107 erlitten Schussverletzungen. „Le Nouvelliste“, die seriöseste Zeitung Haitis, schlagzeilte danach: „Karneval gelungen, unerwarteter Erfolg.“
Thomas Schmid, „Facts“, 24.02.2005 (unredigierte Fassung)
(Nachtrag: Ravix, der in die Ermordung der vier Polizisten verwickelt gewesen sein soll, wurde am 9.4.2005 von der Polizei erschossen, „Grenn Sonnen“ am 10.4.2005)