ALQOSH. Es herrscht eine andächtige Stille. Man würde eine Nadel fallen hören. Dann fällt der Mann auf die Knie und beginnt zu singen, bald klagend, bald jubilierend. Es ist ein Jahrhunderte alter Psalm. Im Chorgestühl der kleinen Kirche des Heiligen Georg nehmen 15 Männer die Melodie auf, verstummen schon bald und werden von den Frauen abgelöst, die auf den hinteren Bänken Platz genommen haben. Vorne, am Altar, schwenkt ein Ministrant ein Weihrauchfass und nebelt die ganze Apsis ein. Alqosh, ein christliches Dorf im Norden des Irak, feiert Fronleichnam.
Es sind nur 30 Kilometer hinüber nach Mossul, der Dreimillionenstadt am Tigris, die seit bald zwei Wochen von den Dschihadisten des Isis (Islamischer Staat in Syrien und im Irak) kontrolliert wird. In Alqosh fühlt man sich trotzdem sicher. Schwer bewaffnete Peschmerga, kurdische Soldaten, bewachen den Zugang zum Dorf, das sich mit seinen eng verschachtelten Steinhäusern an den Berg anschmiegt. Auf der Überlandstraße, die unten im Tal längs führt, haben die Peschmerga Checkpoints eingerichtet. Ein junger Kurde mit umgehängter Kalaschnikow bringt den Besucher zum Priester.
Ghazwan Baho, 43 Jahre alt, erscheint in schwarzer Hose und schwarzem Hemd mit weißem Kollar, dem ringförmigen Stehkragen. Jeden Tag um 6.30 Uhr hält er seinen Frühgottesdienst. Außer im Oktober und im November. Dann doziert er an der Päpstlichen Universität Urbaniana in Rom semitische Sprachen: Arabisch und auch die Sprache, die hier in Alqosh alle sprechen, weil es ihre Muttersprache ist: Aramäisch, das in einer eigenen Schrift geschrieben wird. „Das älteste Evangelium, dasjenige von Matthäus, wurde auf Aramäisch verfasst“, sagt der Pater und Professor. Es ist die Sprache, in der – gewiss in einer älteren Variante – wahrscheinlich Jesus gesprochen hat. Es ist auch heute noch die Alltagssprache der chaldäischen Katholiken, der größten der fünf christlichen Gemeinschaften des Irak. Sie erkennen den Papst im Vatikan als ihr Oberhaupt an, haben aber ihre eigene, orientalische Liturgie.
„Es gibt hier drei Kirchen und fünf Klöster, das älteste stammt aus dem Jahr 627“, sagt Ghazwan Baho, der selbst aus dem Ort stammt, in Alqosh leben ausschließlich Chaldäer.“ Lebten. Denn die 6.000 Christen – im wesentlichen Bauern- und Hirtenfamilien, Industrie gibt es keine – haben 1.500 Flüchtlinge aufgenommen, vier Fünftel von ihnen Muslime. Sie sind in einem der beiden Schulhäuser untergekommen oder eben bei Familien. Die UNHCR, das Internationale Rote Kreuz und die deutsche Caritas liefern Lebensmittel.
„Wir leiden keinen Hunger“, sagt der 70-jährige Ahmed, der wie alle Flüchtlinge hier seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung sehen will, „es geht uns gut. Man hilft uns. Aber wir sind hier eben doch Fremde. Sie haben hier eine andere Kultur. Wir wollen nicht stören. Wir gehen wieder zurück. Wir danken für die Aufnahme.“ Sein Sohn, Mohammed, ein Ingenieur, der eine rot-weiße Kefija um seinen Kopf geschlungen hat, ist gesprächiger. Er berichtet, wie die 14-köpfige Großfamilie am Tag, an dem die Dschihadisten in Mossul einfielen und überall Schüsse fielen, Lebensmittel und Kleider zusammenrafften und in drei Autos nach Alqosh flüchteten. Und Loqman, Ahmeds 20-jähriger Enkel, Student, sagt, er habe zehn erschossene Polizisten gesehen, die ersten Toten in seinem Leben.
Es ist eine schiitische Familie, die sich, nach Geschlechtern getrennt, in zwei Zimmern des Schulhauses eingerichtet hat. Die Dschihadisten von Isis, die sich selbst zu den Sunniten zählen, halten Schiiten für Häretiker, vom rechten Glauben Abgefallene, und mit Ketzern haben sie kein Erbarmen. Schiit ist – wie 60 Prozent der Iraker – auch Nuri al Maliki, der Ministerpräsident im fernen Bagdad. Die Sunniten hält er von der Macht fern. Und sie werden von Isis offenbar in Ruhe gelassen, sofern sie nicht Amtsträger, Polizisten oder Soldaten sind. Vorerst jedenfalls.
„Wenn sie ihre Machtposition einmal gefestigt haben, werden sie durchgreifen“, befürchtet Fadi, der mit seiner Frau und den beiden Kindern bei einer christlichen Familie untergekommen ist, „man kennt das aus Syrien.“ In der Tat haben die Dschihadisten dort in den von ihnen kontrollierten Gebieten, Rauchen und Musik verboten und schon öffentliche Hinrichtungen durchgeführt. Fadi ist Buchhalter. Als assyrischer Christ kann er nicht zurückkehren. Hilda, seine Frau, eine Lehrerin, telefoniert täglich mit ihrem früheren Nachbar, einem der wenigen Assyrer, die in Mossul geblieben sind. Die Frauen müssten jetzt den Schleier tragen, habe er ihr erzählt, aber die Lebensmittelpreise seien gefallen, und in Mossul herrsche nun Ruhe.
Als die Dschihadisten in die Stadt einfielen, flohen die Soldaten der irakischen Armee. „Viele warfen die Uniform weg und tauchten in der Bevölkerung unter“, berichtet Hilda, „niemand schützte uns. Und als dann innerhalb von nur zwei Stunden sechs Autobomben hochgingen, eine direkt vor unserem Haus, sind wir kurz nach Mitternacht aus der Stadt geflohen.“ Sie knipst das Handy an und zeigt ein Foto ihres Autos. Sämtliche Scheiben sind geborsten. Die Familie, bei der sie hier in Alqosh untergeschlüpft sind, kannten sie nicht. Ein Hilfskomitee des Dorfes, in dem Kirche, Parteien und Peschmerga zusammenarbeiten, weist den aufnahmewilligen Familien Flüchtlinge zu.
In der kleinen Kirche singen Männer und Frauen ihre Psalmen. Dann formieren sie sich zur Fronleichnamsprozession. Sie führen ein Banner des Heiligen Georg mit sich, des Drachentöters, des Siegers über das Böse. Fadi und Hilda treten mit ihren beiden Kindern vors Haus. In ihrer Stadt, in Mossul, wird es in diesem Jahr keine Prozession der Christen geben. Aber immerhin haben sie sich gerettet. Bei ihrer Gastfamilie jedoch ist es eng. „Es ist eine Zumutung – für sie noch mehr als für uns“, sagt Fadi, „wir sind froh um die Aufnahme, aber wir können hier nicht bleiben. Wir wollen nur noch weg aus dem Irak. Wir haben hier keine Zukunft.“ Und dann fragt er, wie so viele hier, wie denn die Chancen stünden, in Deutschland Asyl zu erhalten.
Copyright: Berliner Zeitung (Der Beitrag erschien in der „Berliner Zeitung“ unter dem unpassenden Titel „In Mossul liegen die Toten auf der Straße“)
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 21.06.2014