KIRKUK. Es ist ein bizarres Bild. Unter der Brücke, im seichten Wasser des Flusses, steht ein Bettgestell, und darauf sitzt ein Offizier der irakischen Polizei, in Kampfuniform. Er lacht, hält sich den staatlichen Bauch mit beiden Händen und sagt völlig entspannt: „Vor zehn Minuten haben wir hier einen Mörserangriff überstanden.“ Vor ihm, am Ufer sitzen 30 Männer, zur Hälfte in dunkelblauer Polizeiuniform, zur andern Hälfte Peschmerga, Soldaten der kurdischen Miliz.

Wir stehen am Maschroual-Fluss, 20 Kilometer westlich von Kirkuk, einer Stadt mit über einer halben Million Einwohnern im irakischen Norden. Eigentlich ist es ein Kanal, angelegt unter dem Regime des von den Amerikanern 2003 gestürzten Diktators Saddam Hussein. Er bildet die Grenze zwischen dem Gebiet, das die Kurden beanspruchen, und jenem, das seit einer Woche die islamistische Terrortruppe Isis (Islamischer Staat im Irak und in Syrien) kontrolliert. Wir sind also an der Front, jedenfalls in der Nähe.


Ein Mörserangriff? Nichts deutet darauf hin, dass von zehn Minuten hier eine Granate eingeschlagen hat. Von Aufregung ist nichts zu spüren. Niemand flüchtet, niemand rüstet zu einem Gegenschlag. General Shirku Fatih, ein Mann mit kantigem Gesicht, durchtrainiertem Körper und keinem Gramm Fett zuviel, ist ganz gelassen. Der Kommandant einer Peschmerga-Brigade ist gerade mit etwa 30 kurdischen Soldaten eingetroffen. Von einem Angriff weiß er nichts. Nein, die Peschmerga und Polizisten, die unter der Brücke sitzen, haben nicht den Schutz vor Granaten gesucht, sondern den Schatten, der vor der stechenden Sonne schützt.


„Es herrscht Ruhe an der Front“, sagt der General, „keine besonderen Vorkommnisse.“ Und das seit Tagen. Ab und zu paar Schüsse. Nicht der Rede wert. Keine Toten. Keine Verletzten. „Wir sind hier, um Kirkuk zu verteidigen“, fügt er hinzu. Aber alles deutet darauf hin, dass die Islamisten keinen Zweifrontenkrieg führen wollen, die Auseinandersetzung mit den schwer bewaffneten und kampferprobten Peschmerga scheuen und sich ganz auf den Krieg gegen die irakische Armee konzentrieren. Diese hatte in der vergangenen Woche zahlreiche Städte kampflos Isis überlassen. „Weshalb sind die 17.000 Soldaten, die vor Kirkuk stationiert waren, gegangen?“ Der General zögert kurz, dann sagt er: „Das müssen Sie die Regierung in Bagdad fragen.“



Die Kurden regieren im Norden Iraks ein Gebiet, das etwa so groß wie die Schweiz ist. Doch Kirkuk liegt außerhalb der Grenzen der „Autonomen Region Kurdistan“, die eine eigene Verfassung, eine eigene Regierung, ein eigenes Parlament und mit den Peschmerga eine eigene Armee hat. Nach der irakischen Verfassung, die die Amerikaner dem Land nach der Invasion geschenkt haben, hätte in Kirkuk wie in andern teilweise kurdisch besiedelten Städten und Dörfern bis 2007 eine Volksabstimmung stattfinden müssen, um über die Zugehörigkeit der umstrittenen Gebiete zu entscheiden. Doch dazu kam es nie. Man konnte sich nicht darauf einigen, wer abstimmungsberechtigt ist.



Kirkuk ist multikulti. Hier leben Kurden, Turkmenen, Araber und auch noch einige wenige aramäische Christen. Für die Kurden aber, die seit langem einen eigenen Staat anstreben und immer wieder bewaffnet gegen die Herrschaft in Bagdad rebellierten, ist Kirkuk die Wiege ihrer Nation, ihr Jerusalem. Doch solche Metaphern taugen allenfalls für politische Fensterreden. In Wahrheit geht es ums Geld. Bei Kirkuk liegen riesige Erdöl- und Erdgasfelder. Ohne Kontrolle über diese ist ein unabhängiger Staat Kurdistan wirtschaftlich kaum überlebensfähig. Saddam Hussein hat die Stadt deshalb über eine Ansiedlungspolitik gezielt arabisiert. Aber nach seinem Sturz sind viele Araber wieder weggezogen. Kurden sind nachgerückt. Heute ist Kirkuk zu 56 Prozent von Kurden bewohnt.



Nun soll Kirkuk samt seiner Umgebung Kurdistan angeschlossen werden. Dies befürchtet jedenfalls Hassan Turan. Er ist Turkmene und Präsident des Provinzrates, in dem die Kurden 26 von 41 Delegierten stellen. Tatsächlich haben die Peschmerga vor einer Woche die Kontrolle über die Stadt übernommen. Um mit Turan im hochgesicherten Gebäude des Provinzrates zu reden, muss man sich dreimal nach Waffen abtasten zu lassen. Es herrscht Nervosität. Der Turkmene, der ruhig und bescheiden wirkt, kann seine Verbitterung schlecht verbergen. Er hat keinen Zweifel: Die Kurden haben die Chance genutzt, die ihnen die Offensive der Islamisten bot, um sich Kirkuk und weiterer Gebiete zu bemächtigen. „Na ja, im Stadtzentrum hat sich nichts geändert, da patrouilliert weiterhin die irakische Polizei“, gesteht Turan zu, „aber außerhalb der Stadt sind nun überall Peschmerga stationiert. Sie behaupten, uns vor Angriffen von Isis zu schützen. Aber wir haben sie nicht gerufen.“ Die Turkmenen Kirkuks, zur Hälfte Sunniten, zur Hälfte Schiiten, wollen nicht in einem kurdischen Staat leben. Aber ihre Schutzmacht, die Türkei, wird wegen ihnen keinen Krieg riskieren, sie hat sich mit der Regierung der Autonomen Region Kurdistan längst arrangiert.



Muhammed Khalil al Joubouri, Araber und Vizepräsident des Provinzrats, ist in seiner Kritik an den Kurden deutlich schärfer als der Turkmene. „Die Peschmerga kontrollieren auch das Stadtzentrum“, behauptet er, „sie haben sich auch die öffentlichen Unternehmen unter den Nagel gerissen, und über die Politik in Kirkuk wird in Erbil, der Hauptstadt Kurdistans, entschieden.“ Joubouri wirkt in weißem Hemd und Krawatte äußerst seriös. Doch dann blitzt unter dem Jackett eine Pistole auf. „Die kostet auf dem Schwarzmarkt tausend Dollar“, sagt er lachend.



Auch Joubouri will kein Bürger Kurdistans werden. „Was die Kurden auf legalem Weg nicht schaffen, den Anschluss Kirkuks an die Autonome Region“, sagt er, „das versuchen sie nun auf bewaffnetem Weg.“ Aber dass es so weit kam, dass die Peschmerga die Kontrolle von Kirkuk übernommen haben, dafür macht er Nuri al Maliki im fernen Bagdad verantwortlich. Der irakische Ministerpräsident ist – wie etwa 60 Prozent der Iraker – Schiit und hat die Sunniten an der Macht nie beteiligt. Noch schlimmer: er hat ihren friedlichen Protest gegen die Diskriminierung militärisch bekämpft. In Al-Hawija, das nur wenige Kilometer jenseits der Brücke des Grenzflusses liegt, unter der irakische Polizisten und kurdische Peschmerga Schutz vor der stechenden Sonne gefunden haben, massakrierten Soldaten der irakischen Armee vor einem Jahr an einem einzigen Tag 42 Zivilisten. Heute wird das Städtchen von den Islamisten kontrolliert.



„Es geht nicht bloß um einen Angriff islamistischer Terroristen gegen das Regime in Bagdad“, sagt Joubouri, der wie fast alle Araber Kirkuks Sunnit ist, „Isis ist nur die Speerspitze, es handelt sich um einen Aufstand der Sunniten gegen die schiitische Herrschaft.“ In der Tat ist inzwischen offensichtlich, dass einige sunnitische Stammesführer Isis unterstützen und dass auch die Nakschbandi-Miliz, die aus einem Sufi-Orden hervorgegangen ist, am Aufstand beteiligt ist. Diese wiederum ist mit Offizieren der von den Amerikanern zwangsaufgelösten Armee des gestürzten Baath-Regimes Saddam Husseins verbandelt. Mossul, die von Isis vor zehn Tagen überrannten Dreimillionenmetropole unweit der Grenze zur Autonomen Region Kurdistan, war eine Hochburg des Baath-Regimes.



Hunderttausende sind vor Isis geflohen – oder aus Furcht vor Vergeltungsschlägen und Bombenangriffen der irakischen Armee. Jedenfalls sind nicht wenige Flüchtlinge nach Mossul, das von Isis kontrolliert wird, zurückgekehrt. „Die Islamisten verteilen Süßigkeiten an die Bevölkerung“, hatte Peschmerga-General Fatih am Maschroual-Fluss erzählt. Und auch Flüchtlinge berichteten, dass die schwarz vermummten Kämpfer die Bevölkerung durchaus in Ruhe ließen. Vorerst. Was die Terroristen von Isis in Wahrheit anstreben, haben sie in Syrien gezeigt. Dort errichteten sie in ihrer Hochburg Raqqa ein Terrorregime, in dem die Frauen sich verschleiern müssen, Musik verboten ist und der lokale Führer der mit ihnen verfeindeten Nusra-Miliz, ein Ableger von Al Kaida, aber weniger radikal als Isis, öffentlich hingerichtet wurde.



Es mag durchaus sein, dass Isis die zivile Bevölkerung in Mossul und anderen eroberten Städten in Ruhe lässt. Andererseits hat die islamistische Terrortruppe Fotos ins Internet gestellt. Sie zeigen Männer in irakischer Uniform, die in einem Graben liegen. Neben ihnen stehen maskierte Männer mit angelegtem Gewehr, offensichtlich Isis-Kämpfer. Das Fernsehen zeigt die Bilder immer wieder. 1.700 Soldaten sollen die Islamisten hingerichtet haben. In Kirkuk geht die Angst um. Auf dem Markt kommt es zu Hamsterkäufen.



Doch die Islamisten werden Kirkuk nicht angreifen. „Sie wissen, was ihnen andernfalls blüht“, sagt Abdulrahman Hoshyar , „die Grenze am Maschroual-Fluss wird von beiden Seiten respektiert.“ Hoshyar trägt einen beigen Scharwal, ein traditionelles, mit einem breiten Stoffriemen gegürtetes kurdisches Gewand mit Pluderhose. Er ist bei der PUK, der stärksten kurdischen Partei in Kirkuk, für Außenbeziehungen zuständig. Hinter seinem Schreibtisch hängt ein Porträt, des schwerkranken irakischen Staatspräsidenten Dschalal Talabani, der 1975 in West-Berlin die Partei gründete und bis heute ihr Vorsitzender ist. Die Parteizentrale in Kirkuk wird von Dutzenden bewaffneten Peschmerga bewacht. Auf dem Balkon sind Sandsäcke gestapelt.



„Ich bin Österreicher“, hatte sich Hoshyar in fast perfektem Deutsch vorgestellt. Der Kurde hat eine Zeit lang in Salzburg gewohnt. Sein Philosophiestudium hat er mit einer Diplomarbeit über die Vorsokratiker abgeschlossen. Nun sitzt er da und beugt sich über die Landkarte, sucht mit dem Zeigefinger die Orte und sagt mit dem Tonfall des Feldherrn: „Bartala, Daquq, Tuz Khurmatu… all das gehört uns.“ Er meint: uns Kurden. Es sind Gebiete außerhalb der Autonomen Region, die kurdisch besiedelt sind und die die Peschmerga wohl nicht wieder hergeben werden. Und dann sagt er ganz offen: „Es ist ein Krieg ums Öl – zwischen Bagdad und uns.“ Dass die Peschmerga nicht nur außerhalb der Stadt Position bezogen haben, gibt er unumwunden zu. „Allein auf dem Gelände unserer Parteizentrale sind tausend Peschmerga stationiert.“



Auch der Parteisitz der KDP, der andern kurdischen Partei, gleicht einer militärischen Festung. Peschmerga in voller Kampfmontur, Taschenlampe auf den Helm montiert, lungern im Innenhof herum. An dessen Frontseite hängt ein riesiges Porträt von Mustafa Barzani, dem legendären Peschmarga-Führer und Gründer der KDP , der das Regime in Bagdad in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts herausforderte. Um den bewaffneten Widerstand zu ersticken, brannten die irakischen Streitkräfte 1961 über tausend kurdische Dörfer nieder. Es hat nichts genutzt. Heute ist Masud Barzani, Sohn des alten Haudegen, Ministerpräsident der Autonomen Region. Schon oft haben sich die Peschmerga der beiden kurdischen Parteien heftige militärische Gefechte mit vielen Toten geliefert. Aber seit geraumer Zeit schon arbeitet man zusammen.



Mohammed Kamal, KDP-Chef von Kirkuk, empfängt in einem riesigen, mit schweren Sesseln und Sofas ausgestatten Büro. An der Wand hängen die Porträts von Vater und Sohn Barzani. „Wie sieht die militärische Situation aus?“ Kamal überlegt nur kurz und sagt: „Ich bin kein Militär, ich bin Politiker.“ Aus dem breiten Stoffgürtel seines Scharwal schaut der Knauf einer nur schlecht verborgenen Pistole hervor. Werden die Peschmerga nach dem Krieg die von ihnen besetzten Gebiete wieder räumen? „Was heißt nach dem Krieg?“, fragt Kamal zurück und deutet an, dass für die Kurden doch seit Jahrzehnten immer Krieg herrscht, der Krieg quasi ein Normalzustand ist. Das ist nur leicht übertrieben. Krieg gegen Bagdad, Einfälle der türkischen Armee, Giftgasangriff der irakischen Luftwaffe, kurdischer Bruderkrieg. Frieden war für Kurden immer nur eine Pause zwischen Kriegen. Kamal sagt nicht offen, dass die Peschmerga in Kirkuk bleiben. Aber auch für ihn ist völlig klar: Kirkuk ist kurdisch.


Und es soll kurdisch bleiben. Dies zeigt sich auch zehn Kilometer außerhalb von Kirkuk. Der Weg zum Maschroual-Fluss, der wohl die künftige Grenze der erweiterten Autonomen Region Kurdistan oder gar eines unabhängigen kurdischen Staates bildet, führt an Schafherden vorbei. In der Ferne leuchten die Flammen der Bohrtürme von Gasanlagen. Dann gelangt man zum Checkpoint, wo sich auf einem Kilometer Autos stauen. Matratzen und Möbel stapeln sich auf den Dächern der Fahrzeuge. Es sind Flüchtlinge, die nach Kirkuk wollen. Doch die Asayish, die Sicherheitspolizei der Autonomen Region Kurdistan, lässt umgehend nur herein, wer nachweisen kann, dass er Kurde ist. Alle andern werden erst mal überprüft.



Gewiss mag die Angst vor einem Einsickern der Islamisten eine Rolle spielen. Aber auch viele Frauen, Kinder und alte Männer lagern im Schatten der Lastwagen. Es ist offensichtlich: Man ist auf die arabischen Flüchtlinge nicht erpicht. Umsoweniger, als der Krieg von vielen Kurden als Chance begriffen wird, endlich ihren Traum von einem eigenen Staat, zu dem auch das Kirkuk, das kurdische Herz mit seinen Ölquellen gehört, zu verwirklichen. Man mag es ihnen angesichts ihrer tragischen Geschichte nicht einmal übelnehmen.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 18.06.2014

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