Am Silvestertag 1958 hält Fidel Castro schriftlich fest: »Mich persönlich interessiert die Macht nicht, und ich denke auch nicht daran, sie zu übernehmen.« Neun Tage später zieht er unter dem Jubel der Bevölkerung mit seinen Guerilleros in Kubas Hauptstadt Havanna ein. Die Revolution hat gesiegt – und Castros Versprechen war passé –, für fast ein halbes Jahrhundert. Nur einer hat sich gehalten in all diesen Jahren neben ihm, hinter ihm, in seinem Schatten: Raúl Castro, der fünf Jahre jüngere Bruder und Stellvertreter, der Verteidigungsminister und die unbestrittene Nummer zwei. Jetzt, kurz vor seinem 80. Geburtstag am 13. August, ist Fidel an einem Darmleiden erkrankt. Und so legt der Staats-, Partei-, Regierungschef und große Bruder alle Ämter in die Hände des kleinen. Für einige Wochen jedenfalls, sagt Fidel. Vielleicht für immer, sagen Beobachter.


Fidel Castro hat die dynastische Erbfolge schon früh geplant, aber öffentlich äußerte er sich dazu erstmals im Sommer 1985, ausgerechnet im amerikanischen Magazin Playboy : »Mein Bruder Raúl« sei der Geeignete, »weil er der Fähigste ist und zahlreiche revolutionäre Meriten hat«. An dieser Einschätzung hat sich in den vergangenen 21 Jahren nichts geändert.
Die Brüder Fidel und Raúl wachsen in den dreißiger Jahren gemeinsam auf der Finca Mañacas in der Provinz Oriente im Süden der Insel auf. Die alten Männer des Buena Vista Social Club besingen diese wunderschöne Hügellandschaft in ihrem Lied Chan Chan. Der strenge Vater Angel, aus Spanien eingewandert, hat sich vom armen Landarbeiter zum reichen Großgrundbesitzer hochgearbeitet und nennt eine stattliche Zuckerrohrplantage sein Eigen. Die Familienverhältnisse sind zerrüttet, die erste Ehe wird geschieden, Fidel und Raúl sind zwei von fünf Kindern, die ihr Vater mit der Haushälterin der Familie zeugt.

Che Guevara verspottete Raúl wegen seiner steifen Art als Stockfisch
Fidel ist der stattlichere, größere, sportlichere und belesenere der beiden Brüder. Er besucht die Jesuitenschule und kommt bei den Mädchen gut an. Raúl, der jüngere, ist mit nur 1,65 Meter äußerst schmächtig, sieht hässlich aus und braust leicht auf. Ihm fehlt jedes Charisma, über das Fidel im Übermaß verfügt. Che Guevara verspottet Raúl später wegen seiner steifen Art als bacalao, als Stockfisch. Das Volk nennt ihn verächtlich el casquito, »das Helmchen«, oder Raúlito, den Kleinen, während Bruder Fidel ehrfurchtsvoll el Máximo Líder, »großer Führer«, heißt.
Psychologen mögen sich über diese Geschwisterbeziehung ihren Kopf zerbrechen, aber Raúl – hier ganz Lateinamerikaner – hat offensichtlich keine Schwierigkeiten, sich über ein halbes Jahrhundert dem älteren Bruder widerspruchslos unterzuordnen. Die beiden sind keineswegs immer einer Meinung, aber alle Gerüchte über mögliche Zerwürfnisse erweisen sich stets als falsch. Raúl und Fidel verbindet von Anfang an ein enges Vertrauensverhältnis, das alle Krisen übersteht. Die Vergangenheit, ihr gemeinsamer Kampf hat sie zusammengeschweißt.
Schon am gescheiterten Sturm auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba am 26. Juli 1953 nehmen die Castro-Brüder gemeinsam teil. Dieser Tag gilt bis heute als Beginn der Revolution und wird jedes Jahr groß gefeiert. Mit 130 Rebellen versuchen Fidel und Raúl den Militärstützpunkt der zweitgrößten Stadt des Landes einzunehmen. Fidel steuert selbst den zweiten von 16 Straßenkreuzern der Aufständischen. Doch just vor dem Kasernentor fährt er aus Nervosität den Wagen gegen den Bordstein, würgt den Motor ab und überlebt, wie auch Raúl, das Feuergefecht. Fidel entkommt mit 18 Leuten in die Berge und wird kurz darauf von einem Suchtrupp im Schlaf überrascht und verhaftet. Als der Kommandant von Santiago davon erfährt, befiehlt er, die Gefangenen sofort zu erschießen, doch der Dienst habende Leutnant weigert sich und bringt Castro und seine Mannen unversehrt ins Stadtgefängnis.
Die beiden Brüder werden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Fidel, inzwischen Rechtsanwalt, verteidigt sich selbst und spricht die berühmten Worte: »Verurteilt mich, das hat nichts zu bedeuten, die Geschichte wird mich freisprechen.« Im Gefängnis entgeht er einem Mordanschlag, weil ein Offizier sich weigert, dem Salat Arsen beizumischen. Ohnehin ist Fidel Castro ein Überlebenskünstler. Neun US-Präsidenten sieht er kommen und gehen und übersteht laut kubanischem Geheimdienst 637 Attentate, ein paar Dutzend davon sind verbürgt.

In Fidels Schatten hat sich Raúl sein eigenes Imperium aufgebaut
Ein gutes Jahr nach ihrer Verurteilung werden Fidel und Raúl wieder freigelassen, der Diktator Batista erlässt auf öffentlichen Druck eine Amnestie. Die beiden Brüder fliehen nach Mexiko, wo der argentinische Arzt Ernesto Guevara zu ihnen stößt, den alle nur Che nennen. Im Dezember 1956 landen die Castros mit ihrem Motorschiff Granma und 81 bewaffneten Genossen an Kubas Südküste. Batistas Armee spürt sie auf, und nur 21 Rebellen überleben, darunter Fidel, Raúl und Che. Sie ziehen sich in die Sierra Maestra zurück, ein schwer zugängliches Gebirge. Zwei Jahre später hat ihre Guerilla-Armee die ganze Insel erobert.
Fidel Castro ist am Tag seines Sieges gewiss kein Kommunist. Eher ein linksnationalistischer Caudillo, der auch in liberalen und bürgerlichen Kreisen Sympathie genießt. Er will die Demokratie wiederherstellen, die freiheitliche Verfassung von 1940 wiederbeleben – und das Land gerechter verteilen. Bruder Raúl allerdings hegt andere Pläne, und Fidel lässt ihn gewähren.
Schon 1953, vor dem Sturm auf die Moncada-Kaserne, trat Raúl der kommunistischen Jugend bei. Jahre später, bereits an der Macht, hievt er seine Genossen in strategisch wichtige Ämter. Er selbst wird Verteidigungsminister und baut die Armee zum wichtigsten Machtfaktor aus. Kubas Streitkräfte sichern die Insel und schicken Soldaten nach Lateinamerika und Afrika. Nach dem Ende ihrer Auslandsmissionen übernehmen sie die Regie in der Wirtschafts- und Tourismusindustrie. Die Armee kontrolliert heute zahlreiche staatliche Betriebe und überwacht die Versorgung mit Lebensmitteln im chronisch notleidenden Kuba. Ihr untersteht die Tourismusorganisation Gaviota, und sie setzt Offiziere an die Spitze der staatlichen Reiseagentur Cubanacán. In Fidels Schatten hat sich Raúl in all den Jahren sein eigenes Imperium aufgebaut.
Der Erste, der sich gegen Raúls kommunistischen Kurs auflehnt, ist Huber Matos. Er gehört dem fünfköpfigen Oberkommando der Revolution an und bittet Fidel Castro in einem freundlichen Brief um seine Entlassung, weil er diesen Weg nicht mitgehen möchte. Matos wird verhaftet und – die Revolution ist noch kein Jahr alt – zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Diese Strafe sitzt er bis zum letzten Tag ab. Es ist der erste große politische Prozess des neuen Regimes und eine juristische Farce sondergleichen. Als Zeuge der Anklage tritt Fidel Castro auf und redet sieben Stunden lang.
Dieses Verfahren markiert eine politische Zäsur, die liberalen Revolutionäre werden an den Rand gedrängt, die prosowjetischen übernehmen fortan die Regie. Raúl plädiert für eiserne Härte gegen die Kritiker, er begrüßt Massenexekutionen und macht sich stark für die Gründung einer politischen Partei. Immer wieder kommt es zu schrecklichen Säuberungsaktionen, und im Laufe der Jahrzehnte beseitigen Fidel und Raúl all ihre Widersacher, Neider und Konkurrenten. Sie sind wahrlich Überlebenskünstler – und in einigen Dingen politisch auch sehr erfolgreich. Es gibt keinen krassen Hunger mehr, das Gesundheitssystem ist vorbildlich für Lateinamerika, und alle Kinder lernen lesen, schreiben und rechnen. Die kubanische Revolution findet weltweit glühende Anhänger, die allerdings ihre Augen vor dem Terror verschließen.
Es ist Raúl, der seinen Bruder davon überzeugt, endgültig mit den Vereinigten Staaten zu brechen und sich unter Moskaus Schutzschirm zu begeben. Allerdings macht es ihnen die bornierte amerikanische Politik auch leicht. Raúl fährt 1960 in die Sowjetunion, schließt Verträge über Militärhilfen ab und setzt sich dafür ein, dass die UdSSR den Kubanern ihr Zuckerrohr abnimmt. Die Abhängigkeit von der UdSSR wächst. Und als Fidel ein wenig auf Abstand geht und mit dem chinesischen Kommunismus liebäugelt, fliegt Raúl zwischen Havanna und Moskau hin und her, um den entgeisterten Schutzpatron bei Laune zu halten. Raúl ist der ideologische Verbindungsmann und Blitzableiter. Als Mitte der achtziger Jahre in Moskau Michail Gorbatschow an die Macht kommt, die Berliner Mauer fällt und das Sowjetreich zerbricht, versteht Raúl die Welt nicht mehr. Und Fidel auch nicht. Noch 1989 lassen sie den auf Reformen drängenden General Arnaldo Ochoa, einen Helden aus dem Angola-Krieg, hinrichten. Angeblich wegen Drogenhandels und Geldwäsche.
Raúl ist zwar ein strammer Ideologe, aber anders als sein Bruder durch und durch ein Pragmatiker. Er versteht auch mehr von der Ökonomie, immer wieder bricht er zu Reisen quer über die Insel auf, um zu erfahren, wo der Schuh drückt. Die wirtschaftliche Öffnung, den Tourismus hat er mit angekurbelt. Allerdings fürchtet er ebenso wie Fidel, dass die neuen Freiheiten, das Internet und die vielen Touristen die Kubaner verderben könnten. Sähen die beiden irgendeine andere Einkommensquelle für ihr armes Land, sie würden das Rad sofort zurückdrehen.
Fidel geht, Raúl kommt. Jüngst ließ Letzterer scheu verlauten, dass eigentlich nur die Kommunistische Partei das politische Erbe seines großen Bruders antreten könne. Ein Zeichen, dass ihm die Schuhe Fidels eigentlich zu groß sind, sagen Beobachter. Es ist unwahrscheinlich, dass Raúl die alte Politik bruchlos fortsetzen kann. Die große Mehrheit der Kubaner kann mit der Revolution und ihrer hämmernden Rhetorik nichts mehr anfangen. Sie ist später zur Welt gekommen, sie will jetzt einfach ein besseres Leben und raus aus ihrer Isolation, die immer nur zwei Möglichkeiten zuließ: Socialismo o muerte – »Sozialismus oder Tod«.

Fidel und Raúl Castro

Am 13. August 1926 wird Fidel Castro in Birán, im Süden Kubas, geboren. Fünf Jahre später, am 3. Juni 1931, kommt sein Bruder Raúl zur Welt. Die Mutter ist die Haushälterin des Vaters

Am 26. Juli 1953 stürmen die Brüder gemeinsam mit anderen Rebellen die Moncada-Kaserne. Die Aktion misslingt, Fidel und Raúl kommen ins Gefängnis und fliehen nach ihrer Entlassung nach Mexiko

Am 8. Januar 1959 ziehen die Brüder Castro und ihre Rebellen unter Glockengeläut und dem Jubel der Menschen in Havanna ein. Dies ist der Beginn ihrer autoritären Doppelherrschaft – bis heute

Martin Klingst und Thomas Schmid – DIE ZEIT, 03.08.2006