Die Möglichkeiten einer Insel

Das majestätische Hotel Inglaterra steht am Rand der Altstadt von Havanna. Bei Touristen ist es beliebt, weil es eine große Terrasse zur Straße hin hat. Hier trinken sie ein eiskaltes Bier, Marke Cristal oder Bucanero, was so viel wie Seeräuber heißt. Sie schlürfen einen Mojito oder bändeln mit einer der Mulattinnen an, die vorbeischlendern und ihnen zulächeln. Man braucht hier nur einige Minuten zu warten, bis der alte Mann auftaucht. Seine schlohweiße Mähne ist imposant, sein rotes T-Shirt ziert das Porträt von Che Guevara, zwischen den gelben Zahnstummeln hängt eine dicke Zigarre. Das perfekte Bild fürs Fotoalbum oder für ein Posting auf Facebook.

Der Alte lässt sich gern fotografieren, verlangt kein Geld dafür, erwartet aber, dass man ihm eine Zeitung abkauft. Es ist die Granma, offizielles Organ des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas. Der erste Satz im ersten Artikel auf der ersten Seite dieser Ausgabe beginnt mit den Worten: „Der Genosse Kim Jong Un, Erster Sekretär der Partei der Arbeit Koreas, Erster Präsident des Nationalen Verteidigungskomitees der Demokratischen Volksrepublik Korea und Oberster Kommandant der Volksarmee von Korea, hat den Genossen Miguel Díaz-Canel Bermúdez, Erster Vizepräsident des Staats- und des Ministerrats, empfangen …“ Manchmal verkauft der Alte auch die Juventud Rebelde – Rebellische Jugend -, das offizielle Organ des Jugendverbandes der allmächtigen Partei.

In der Millionenstadt Havanna, in ganz Kuba gibt es keinen Zeitungskiosk. Das tut auch nicht not. Es gibt ohnehin nur vier Zeitungen, und die wenigen Magazine findet man gelegentlich in einer Buchhandlung. Und so bessern eben einige Alte ihre kärgliche Rente auf. Sie stehen morgens früh um sechs Uhr bei den Zeitungsverteilstellen Schlange und kaufen die Granma für 20 kubanische Centavos, was etwas weniger als einem Euro-Cent entspricht und verkaufen sie an Kubaner zum fünffachen Preis, an die Touristen in der Regel für einen CUC, einen konvertiblen Peso, etwa einem Euro, also zum hundertfachen Preis. Reich werden sie dabei nicht.

Oldtimer, gebaut in den 1950er Jahren, am Parque Central

Auf dem Parque Central, dem großen Platz unweit des Hotels Inglaterra , sind ein Dutzend blank geputzter amerikanischer Oldtimer geparkt, Limousinen, die die Eigentümer bei ihrer Flucht vor der Revolution 1959 nicht nach Miami mitnehmen konnten. Eine einstündige Fahrt im pinkfarbenen Fairlane, Jahrgang 1957, mit offenem Verdeck kostet 30 Euro – ein Selfie, auf der Kühlerhaube sitzend, inbegriffen. „Du kannst den Schlitten auch kaufen“, sagt Miguel, der Besitzer, ein smarter Mittdreißiger mit viel Gel im Haar, 55 000 Euro, no negiociable, nicht verhandelbar. Miguel hat die Limousine, die sein Großvater, ein erfolgreicher Geschäftsmann, erworben hat, von seinem jüngst verstorbenen Vater geerbt.

Der Zeitungsverkäufer und der Oldtimer stehen für das alte Havanna, das jetzt viele Touristen sehen wollen, so lange es noch steht. Sie fürchten, dass nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den ehemaligen Todfeinden USA und Kuba der Dollar rollt, dass das Kaputte kaputtsaniert wird und dass so das eigentümliche Flair der Altstadt von Havanna unwiederbringlich verloren geht. Über zwei Millionen Ausländer sind im ersten Halbjahr 2015 auf die Insel geflogen, 17 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum im Vorjahr.

Das alte Havanna mag verschwinden, das neue aber ist längst da. Zum Beispiel in Vedado, dem modernen Geschäftsviertel, vor dem Hotel Habana Libre (Freies Havanna), das zehn Monate vor der Revolution als Hotel Hilton eröffnet wurde, es war das größte ganz Kubas. Nach seinem Sieg gegen die Diktatur von Fulgencio Batista richtete Fidel Castro hier sein Hauptquartier ein. Daran erinnern die Fotos im Foyer: Bärtige Revoluzzer mit Gewehr fläzen sich in noble Polstersessel. Heute sitzen auf den Mäuerchen und dem Bürgersteig vor dem Hotel an die hundert Jugendliche – mit Smartphones, Tablets und Laptops. Hier ist einer von etwa einem Dutzend öffentlicher Hotspots, die die Regierung im Juli in Havanna eingerichtet hat, in ganz Kuba sind es 35.

Auf dem Bürgersteig, auf der Parkbank, in Kneipen, im Lift, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, im Taxi, im Supermarkt – überall fingern Jugendliche an ihren Handys herum, tippen Nachrichten, spielen irgendwelche Computerspiele, zeigen sich kichernd Fotos. Seit 2008 dürfen die Kubaner Handys kaufen. Ein privater Internet-Anschluss aber ist auf der Insel bis heute verboten – nur eine sehr kleine Elite von Funktionären, Wissenschaftlern und Geschäftsleuten hat zu Hause Zugang zum Netz. Doch dürfen Kubaner immerhin seit sieben Jahren die Internet-Stationen internationaler Hotels benutzen. Dort aber kostet die Stunde zehn Euro, hier am Hotspot auf der Straße hingegen bloß zwei.

Auch dies ist viel bei einem monatlichen Durchschnittsverdienst von 20 Euro. „Es ist eine ständige Hetzerei“, klagt Ramón und schüttelt seine Dreadlocks. Seine Stunde ist gerade abgelaufen, eine neue Pin will er erst nächste Woche kaufen. Die Uhr, die im Display erscheint, kennt kein Erbarmen. Der Countdown läuft – Sekunde für Sekunde. Ramón benutzt das Internet vor allem, um über Facebook mit Freunden in Kuba und über IMO, einem Videotelefondienst wie Skype, mit seinen Verwandten in Miami zu kommunizieren. Eine Stunde Internet pro Woche. „Mehr ist nicht drin“, sagt er, „acht Euro im Monat.“ Das Geld verdient der 20-jährige Ramón als Paquetero, als Paketbote

Mit der Post hat dies allerdings nichts zu tun. Unter Paket versteht die kubanische Internet-Community ein digitales Paket von 500 Gigabytes bis zu einem Terabyte, das auf CD gebrannt oder auf einem USB-Stick gespeichert ist. Dieses Paket wird wöchentlich irgendwo zusammengestellt. Es enthält vor allem amerikanische Serien, die aus ausländischen Fernsehsendungen heruntergeladen werden, aber auch Dokumentarfilmmaterial und Werbung kubanischer Dienstleistungsanbieter. Auslandssender können in Kuba nur über Satellit empfangen werden. Der Besitz von Satellitenschüsseln aber ist verboten und wird streng geahndet. Es gibt sie trotzdem, getarnt im Blätter- und Mauerwerk. Das Wochenpaket kostet zwischen einem und zwei Euro. Es ist teurer, wenn es gerade frisch auf dem Markt ist, und billiger, kurz bevor das nächste angeboten wird. Das Paquete hat, über die ganze Insel verstreut, Tausende, wahrscheinlich Zehntausende Kunden.

Beliebt bei den fast durchweg jugendlichen Internet-Surfern vor dem Hotel Habana Libre ist auch die Website www.planeta.com/amistad.html. Dort preisen sich einsame Herzen auf der Suche nach Abenteuer oder Partnerschaft an. Über www.cubisima.com kann man alles kaufen, was auf dem kubanischen Markt zu haben ist: Kosmetikartikel, Laptops, Bücher, Fahrräder, Autos, Wohnungen, Häuser und Tiere, zwei Affenbabys für 3 000 Dollar. Der seit Juli verbilligte Zugang zum Internet belebt Geschäfte jeder Art. Hier vor dem Hotel Habana Libre hat man den Eindruck, Kuba schalte in den nächsten Gang und trete auf das Gaspedal.

„Jetzt gibt es kein Zurück mehr, und das Land wird sich weiter öffnen“, sagt Dimas Castellanos, „zwar mosert und stänkert Fidel Castro in seiner Kolumne in Granma, aber die Macht liegt nun bei seinem Bruder Raúl. Er ist Staats-, Regierungs- und Parteichef. Er kontrolliert die Armee und das Innenministerium, also auch die bewaffneten Kräfte und die Staatssicherheit.“ Der heute 72-jährige Castellanos ist diplomierter Politologe und Theologe und dozierte an der Universität von Havanna einst marxistische Philosophie. Lange Zeit hat er beim Aufbau eines neuen Kuba mitgeholfen. Doch wurden Überzeugungen nach und nach von Zweifeln verdrängt, bis er – wie so viele Intellektuelle und Schriftsteller – mit dem Regime brach

Dimas Castellanos dozierte einst marxistische Philosophie. Mit dem Regime hat er längst gebrochen.

„Castros Projekt ist komplett gescheitert“, urteilt Castellanos heute, „und zwar auf der ganzen Linie, auch im Bildungs- und Gesundheitswesen, wo die Revolution einst die größten Erfolge vorweisen konnte.“ Überall fehlen an den Schulen die Lehrkräfte, weil man eben von 20 Euro im Monat nicht leben kann. „Viele Lehrer, die geblieben sind, verdienen mehr mit dem privaten Nachhilfeunterricht, den sie ihren eigenen Schülern geben, als über die reguläre, vom Staat bezahlte Lehrtätigkeit, und oft müssen die Examina wiederholt werden, weil die Lehrer die Lösungen der Aufgaben vorab verkaufen.“

Noch katastrophaler sieht es im Gesundheitswesen aus. „Wer ins Krankenhaus kommt, muss die Bettlaken und oft auch noch die Medikamente selber mitbringen“, sagt Castellanos, „und ohne Bakschisch kannst du lange auf eine Operation warten.“ Auch im Gesundheitswesen fehlt das Personal. Etwa 50 000 kubanische Ärzte arbeiten in den sogenannten Missionen im Ausland – vor allem in den Slums von Venezuela, aber auch in Bolivien, Brasilien, Angola, Haiti und vielen anderen Staaten. Die Verschickung von Ärzten gilt offiziell als Ausdruck internationaler Solidarität, und manch armer Haitianer oder Venezolaner wird froh sein, dass er zum ersten Mal in seinem Leben Zugang zu einem Mediziner hat. Die allermeisten Ärzte aber gehen nicht aus Solidarität in die Missionen, sondern weil sie im Ausland oft mehr als doppelt so viel verdienen oder hoffen, sich vom Gastland aus in die USA durchschlagen zu können.


Seit zwei Jahren ist es den Kubanern erlaubt, die Insel zu verlassen. Das neue Emigrationsgesetz sieht allerdings Ausnahmen vor. „Qualifizierten Arbeitskräften, die für die wirtschaftliche, gesellschaftliche und wissenschaftlich-technische Entwicklung des Landes“ gebraucht werden, kann die Regierung die Ausstellung eines Passes verweigern. Viele Ärzte können also nicht ausreisen, weil sie im Land gebraucht werden. Und sie werden umso mehr gebraucht, als viele Ärzte – aus wirtschaftlichen Gründen – ins Ausland geschickt werden. Der Export von Dienstleistungen – damit sind vor allem die Ärzte, aber auch Ingenieure, Sicherheitsbeamte und andere Fachkräfte gemeint – ist für den kubanischen Staat heute laut offizieller Statistik die wichtigste Devisenquelle. Er bringt jährlich wohl über sieben Milliarden Dollar ein, etwa doppelt so viel wie der Tourismus.


So bezahlt Brasilien Kuba für jeden der über 11 000 im Land stationierten kubanischen Ärzte monatlich 4 100 Dollar, nur 1 200 davon werden dem Arzt ausgezahlt. Für die Dienstleistungen von 30 000 kubanischen Ärzten liefert Venezuela pro Jahr Öl im Wert von 3,2 Milliarden Dollar an Kuba. Im vergangenen Jahr hat nun Kuba angesichts des dramatischen Mangels an Medizinern im eigenen Land die Saläre für Fachärzte mit mehrjähriger Erfahrung von monatlich 20 Euro auf 60 Euro verdreifacht. „Die Lage ist so dramatisch, dass das Regime jüngst öffentlich erklärt hat, Ärzte, die sich ins Exil abgesetzt haben, könnten jederzeit zurückkehren“, sagt Dimas Castellanos, „früher wurden sie als Deserteure beschimpft.“


Etwas über 30 000 Kubaner haben im vergangenen Jahr der Insel den Rücken gekehrt. Auch unter jenen, die auf dem Prado, der breiten Allee, die vom Hotel Inglaterra zum Meer führt, jeden Tag in Trauben zusammenstehen, denken die meisten an Auswanderung. Es sind vor allem ältere Frauen und Männer. Sie bieten ihre Wohnungen an. Ihr Angebot haben sie auf ein Stück Karton geschrieben, das um ihren Hals baumelt, oder auf ein Blatt, das sie sich vor die Brust halten. Einige wenige führen auch einen Katalog mit Fotos von Zimmern, Küche und Bad mit sich, alle Bilder fein säuberlich auf weißes Papier geklebt. „Verkaufe Einzimmerwohnung in gut erhaltenem kapitalistischem Haus“, steht auf dem Schild von Pedro, „Gas von der Straße, Wasser immer. 6 000 Euro.“ Unter kapitalistischem Haus versteht man hier ein Haus, das vor 1959, vor dem Sieg der Revolution, gebaut wurde, also ein stabiles Gebäude, kein sozialistischer Plattenbau, wo der Wind durch alle Löcher pfeift. Das Wort kapitalistisch ist – anders als in der staatlichen Propaganda – alles andere als abwertend gemeint.


Pedro ist 55 Jahre alt,
 hat eine stattliche Leibesfülle und arbeitete bis vor einem Jahr in einem staatlichen Unternehmen als Schweißer. Er musste aufhören, weil seine Augen nicht mehr mitmachten. Jetzt will er sich in den USA eine neue Existenz aufbauen. Bis vor zwei Jahren benötigten Kubaner, die die Insel verlassen wollten, ein Ausreisevisum, das die Behörden in der Regel verweigerten und das für viele ohnehin unerschwinglich war. Nun dürfen sie zwar ausreisen, aber fast nirgendwo visumfrei einreisen. Doch Pedro hat da kein Problem. Er besitzt einen spanischen Pass.


Ende 2008 hat das spanische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das allen Kindern und Kindeskindern von Spaniern, die wegen des Bürgerkriegs (1936-1939) oder der Diktatur Francos (1939-1975) ins Ausland fliehen mussten, die spanische Staatsangehörigkeit zugesteht. Pedros Vater ist zwar in Kuba aufgewachsen, sein Großvater aber hatte im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner gekämpft, war nach Francos Sieg ins französische Exil geflüchtet und nach dem Zweiten Weltkrieg nach Kuba übergesiedelt. Diese Geschichte hat Pedro nie sonderlich interessiert, aber sie wurde in der Familie immer wieder erzählt. Erst als das Gesetz in Madrid verabschiedet wurde, suchte er in den Papieren seines verstorbenen Vaters nach Beweisen seiner spanischen Abstammung.


Zehntausende haben inzwischen den spanischen Pass erhalten. Und noch immer bilden sich jeden Morgen vor dem Spanischen Konsulat in einer Seitenstraße des Prado zwei Schlangen: In der kürzeren steht man für ein Visum an, in der längeren für einen Pass. 150 000 bis 200 000 Kubaner haben vermutlich Anrecht auf das begehrte Dokument. Wer den spanischen Pass hat, will nicht unbedingt nach Europa emigrieren. Als Spanier kann man eben auch problemlos nach Mexiko oder Panama fliegen, dort einkaufen, was in Kuba fehlt, um es auf der Insel auf den Markt zu bringen. So ist inzwischen ein reger Handel legal oder illegal eingeführter Waren entstanden.


„Willst du dir die Wohnung anschauen?“, fragt Pedro – man duzt sich auf der Insel mit fast allen – „es sind nur zehn Minuten zu Fuß.“ Das kapitalistische Haus liegt in Centro, einem recht heruntergekommenen, armen Viertel zwischen der Altstadt und dem benachbarten Vedado. Auf der Mauer neben dem Hauseingang steht von Hand hingepinselt: „Renta noche y hora“ – vermiete über Nacht oder stundenweise. Der Mann, der seine Ellenbogen auf das Fenstersims der Parterrewohnung abstützt, unterhält kein anrüchiges Etablissement, kein Bordell. Er bietet ein Liebesnest an. Viele Jugendliche wohnen in sehr beengten Verhältnissen. Dann besuchen sie eine dieser Absteigen. Die Stunde kostet umgerechnet zwei Euro, Handtuch und ein Kondom inklusive. Früher gab es die staatlichen Posadas, Häuser, vor denen man oft pärchenweise Schlange stand.


Pedros Wohnung ist frisch renoviert, das Gas kommt aus der Leitung, muss also nicht in Gasflaschen herangeschleppt werden, und das Wasser fließt aus dem Hahn, was hier nicht selbstverständlich ist. Man trifft in Havanna immer wieder auf Tankwagen und Menschen, die mit Plastikeimern herbeieilen, um sich mit Wasser zu versorgen. Manchmal sind Rohre verstopft, manchmal sind sie erodiert, manchmal ist der Druck zu stark abgefallen, weil das Netz illegal angezapft wird. „Also 6 000“, sagt Pedro. Dass er die Wohnung nicht an Ausländer verkaufen darf, weiß er natürlich. „Aber das ist kein Problem“, sagt er, „da werden wir schon einen Weg finden.“ Wahrscheinlich meint er einen Strohmann.


Noch gibt es Schranken im Immobilienhandel. Aber der Wandel ist zumindest in Havanna unübersehbar, quasi mit den Händen zu greifen. Am Malecón, der Uferpromenade, über die bei stürmischem Wetter die Brandung hereinbricht und die jahrzehntelang vernachlässigt wurde, werden die alten, vom Meersalz zerfressenen Fassaden restauriert. Koloniale Prachtbauten in Pastellfarben vor dem azurblauen Ozean erinnern an die Zeiten, als Kuba die Perle der Karibik genannt wurde. Ein erstes Balkon-Restaurant mit Meeresblick hat dort schon eröffnet. Auch in der Altstadt, die von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde, wird kräftig restauriert – vor allem die Paläste, in denen einst spanische Adlige residierten, werden herausgeputzt. Die Kathedrale ist wegen Renovierung geschlossen.


In den Nebenstraen der Altstadt von Havanna verfallen die Häuser..

Während an malerischen Plätzchen alte Herrschaftshäuser in neuer Pracht erblühen, geht in den Nebengassen der Altstadt der Verfall unentwegt weiter. Zahlreiche Häuser werden mit dickem Balken vor einem Einsturz gesichert. Nur 50 Meter von der Flaniermeile Obispo entfernt, ist im Juli ein mehrstöckiges Haus zusammengekracht – just an dem Tag, an dem Marino Murillo, Mitglied des Politbüros der KP und Minister für Wirtschaft und Planung, den Bau von 30 000 neuen Wohnungen in diesem Jahr versprach. Es kam einem Wunder gleich, dass nur vier Menschen starben. Noch immer wird der Schutt weggetragen. Es ist nicht entschieden, ob hier in der Altstadt die Kräfte des Wiederaufbaus oder jene des Verfalls obsiegen.


Aber auch in der Altstadt ist der Wandel unübersehbar. In den engen Straßen haben überall Propiocuentistas – Leute, die auf eigene Rechnung arbeiten – ihre Läden und Ateliers eröffnet: Uhrmacher, Friseure, Brillenreparateure, Schuster, Wurstfabrikanten. Ein Mann repariert Handys und bietet 15 Tage Garantie, „aber nicht bei chinesischen Kopien“. Yolanda offeriert Massagen, und Ada, ausgebildete Tänzerin mit 17 Jahren Berufserfahrung, hat eine Tanzschule eröffnet, in der zehn Lehrer Salsa, Rumba, Yambu, Guaguanco, Makuta, Palo und weitere lokale Tänze lehren – 15 Euro pro Stunde im individuellen Unterricht, zwölf Euro in Gruppe. Das Angebot richtet sich offensichtlich an Touristen.

… und an Hauptplätzen werden die alten Paläsrte restauriert

Fidel Castro hatte schon in den 90er-Jahren erste Privatinitiativen erlaubt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war auch die von ihr weitgehend abhängige kubanische Wirtschaft in einen Abgrund gestürzt. Um die Versorgung der Bevölkerung zu verbessern und die Gemüter zu beruhigen, erlaubte das Regime private Märkte für Grundnahrungsmittel. Auch durften private Restaurants eröffnet werden. Die Kubaner nannten sie umgehend Paladares, weil damals im Fernsehen eine sehr populäre brasilianische Telenovela lief, in der es eine arme junge Frau über die Gründung einer Fast-Food-Kette mit dem Namen Paladar (Gaumen) zu großem Reichtum gebracht hatte. Paladar ist längst in den kubanischen Wortschatz eingegangen. Kaum einer kennt noch die Herkunft des Wortes.


Auch durften schon damals Kubaner Privatzimmer an Touristen vermieten. Doch als sich abzeichnete, dass eine schmale Schicht ein bisschen reich wurde, zog Fidel Castro, dem aus ideologischen Gründen die Entstehung einer neuen Klasse ein Gräuel war, die Schrauben wieder an. Die Steuern für Propiocuentistas wurden massiv erhöht. Viele gaben auf.


Raúl Castro, der seinen älteren Bruder 2006 faktisch und 2008 auch formal an der Macht abgelöst hat, ist da weit pragmatischer. Hunderttausende Kubaner sind aus dem Staatsdienst entlassen worden, weiteren Hunderttausenden steht dieses Schicksal noch bevor. So hat er den Sektor der Propiocuentistas weit geöffnet – als Ventil. Heute arbeiten über eine halbe Million Kubaner in 201 staatlich anerkannten Sparten auf eigene Rechnung.


Wer einen eigenen Laden aufmachen will, braucht Raum, Arbeitsinstrumente, Möbel, Rohmaterial. Werbekosten mögen hinzukommen. Das Startkapital lässt sich bei einem monatlichen Durchschnittslohn von 20 Euro nicht zusammensparen. Es kommt in der Regel aus den USA. Knapp zwei Millionen Mitglieder stark ist die kubanische Exilgemeinde in den USA. Sie schickt amerikanischen Schätzungen zufolge – amtliche kubanische Statistiken gibt es nicht – jährlich 1,5 bis 2 Milliarden Dollar an kubanische Freunde und Verwandte. Das ist mehr, als der Export von Zucker, Nickel und Tabak einbringt. Ein großer Teil dieses Geldes fließt letztlich in das kubanische Staatssäckel. Denn die Kubaner kaufen damit in staatlichen Warenhäusern und Supermärkten Waschmaschinen, Kühlschränke, Computer oder Handys, Güter, die im Ausland produziert wurden und auf die eine Importsteuer von 240 Prozent erhoben wird, die der Kunde zu bezahlen hat.


Ein beträchtlicher Teil 
der aus dem Ausland überwiesenen Gelder erlaubt vielen Kubanern den Start in die Selbstständigkeit. „Aus dieser Schicht von einer halben Million Propiocuentistas entsteht langsam eine Mittelklasse“, sagt Dagoberto Valdés, „aber sie darf nicht investieren.“ Nach dem neuen Gesetz dürfen nur Ausländer in Kuba investieren, aber keine Kubaner, auch keine Exilkubaner. „Beide Embargos müssen aufgehoben werden“, fordert Valdés, „das Wirtschaftsembargo der USA und das Embargo des kubanischen Regimes, das es Kubanern verbietet, im eigenen Land zu investieren.“


Valdés ist aus Pinar del Río, einer Stadt im äußersten Westen Kubas, nach Havanna gekommen, um mit 25 kubanischen Oppositionellen einen Thinktank zu gründen. Zentrales Thema der neuen Institution wird der Übergang Kubas von einer Diktatur in eine Demokratie sein. Valdés, 60 Jahre alt, ist gut gelaunt, lacht viel und strahlt Optimismus aus. Er gehört nicht zu den verbissenen oder gar verbitterten Dissidenten. Er will das Regime nicht frontal bekämpfen, sondern fordert die Regierung zum Dialog mit der zivilen Gesellschaft auf. Convivencia (Zusammenleben) heißt die Zweimonatszeitschrift, die er seit acht Jahren in Kuba herausgibt und die vor allem im Internet gelesen wird, von denen, die zu ihm Zugang haben.

Der Dissident Dagoberto Valdés gibt die Zeitschrift „Convivencia“ (Zusammenleben) heraus.


Valdés legt die neueste Nummer auf den Tisch. Im Editorial wird ein Mehrparteiensystem gefordert. Héctor Maseda Gutiérrez, der im Schwarzen Frühling 2003, als das Regime 75 unabhängige Journalisten und Menschenrechtler ins Gefängnis warf, zu 20 Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurde, von denen er acht absaß, schreibt über einen kubanischen Philosophen des 19. Jahrhunderts. Etwa ein Drittel des 64 Seiten dicken Heftes macht das Kapitel „Zivilgesellschaft“ aus. Es geht vor allem um das Thema Religion – rechtzeitig zum Papstbesuch.


Valdés gehört zu den prominentesten oppositionellen Intellektuellen Kubas. Von Beruf ist er Agronom. 26 Jahre arbeitete er in der staatlichen Tabakindustrie, die letzten fünf Jahre als Erster Ingenieur. In der Provinz Pinar del Río wächst der beste Tabak der Welt, aus ihm wird die Cohiba gedreht, die Königin aller Zigarren. Nebenbei gab Valdés auch noch Vidral, das Bulletin der Diözese heraus, das er selbst gegründet hatte und das immer wieder Themen aufgriff, die in der offiziellen Presse verschwiegen wurden. „1996 wurde ich zum Direktor gerufen“, erzählt er, „und der sagte mir: Deine Arbeitskollegen sind der Ansicht, du kannst nicht gleichzeitig Erster Ingenieur sein und ein konterrevolutionäres Blatt herausgeben. Entscheide dich!“ Valdés entschied sich fürs Bulletin, verlor seinen Job und wurde zur Arbeit auf dem Land verdonnert. „Zehn Jahre und einen Monat lang war ich Yagüero„, sagt er. Der Yagüero ist der Mann, der bei den Bauern die Yaguas, die Blätter der Königspalme, einsammelt, mit denen der Tabak zu Bündeln verpackt wird.

1999 wurde Valdés von Papst Johannes Paul II. zum Mitglied des Päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden ernannt, der Teil der Kurie ist. „Ich bin der erste Yagüero„, witzelt der ehemalige Königspalmblättereinsammler, „der Teil der Regierung des Vatikans war.“ Valdés pendelte acht Jahre zwischen Pinar del Río und Rom. Vier Gespräche hat er mit dem Papst geführt. Und was erwartet er vom Besuch von Papst Franziskus auf Kuba? „Die Kubaner sehnen sich nach einem Messias“, antwortet Valdés, „sie erwarten das Heil von außen. Von Obama, der die diplomatischen Beziehungen mit Kuba wieder aufgenommen hat, oder von Franziskus, der als Argentinier ja ihre Sprache spricht. Sie erwarten viel vom Papstbesuch. Das macht mir Angst.“ Und er zitiert Johannes Paul II., der 1998 als erster Papst Kuba besuchte und auf dem Platz der Revolution vor Hunderttausenden Kubanern gesagt hat: „Ihr seid die Protagonisten eurer eigenen und auch der nationalen Geschichte, und ihr müsst es sein.“

Auf dem riesigen Platz der Revolution steht bereits die Bühne für den dritten Papst, der Kuba besucht. Von der Mauer des Innenministeriums wird ihn Che Guevara anblicken, der Mann, der die Revolution in die ganze Welt hinaustragen wollte und von bolivianischen Soldaten erschossen wurde. Von der gegenüberliegenden Mauer des Informationsministeriums wird ihn Camilo Cienfuegos grüßen, einer der obersten Kommandanten der Revolution, dessen Tod bis heute nicht aufgeklärt ist. Er soll mit dem Flugzeug abgestürzt sein. Allerdings wurden weder ein Wrack noch die Leiche jemals gefunden.

Che und Camilo sind die Säulenheiligen des revolutionären Kuba, des alten Kuba. Das neue Kuba bricht sich nur mühsam Bahn. Fidel Castro ist 89 Jahre alt, sein regierender Bruder Raúl auch schon 84. Was wird passieren, wenn der letzte der beiden stirbt? „Nichts“, sagt Dagobert Valdés, „nichts Besonderes. Jedenfalls nicht, so lange sich die Kubaner nicht der Worte von Papst Johannes Paul II. erinnern, dass sie selbst Protagonisten der eigenen wie auch der nationalen Geschichte sein müssen.“ Man solle auf Kuba sein Heil nicht vom Papst erwarten, nicht von den USA und auch nicht vom Tod zweier alter Menschen.


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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 19.09.2015