TRIPOLIS. Wo kam der schwarze Mann in Tarnuniform her? Aus dem Tschad, aus Mali oder Niger? Wird dort jemand von seinem Schicksal erfahren? Und wer war der andere, dessen Kopf sich auf dem aufgedunsenen Bauch des Schwarzen auszuruhen scheint – einer jener Heckenschützen, die von den Dächern und aus Fenstern auf Passanten feuerten? Der Mann mit dem langen grauen Haar und den blaugrünen nackten Füßen sieht aus wie ein schlafender Guru. Die hochschwangere Frau hat sich bestimmt auf ihr Baby gefreut. Weshalb liegt sie hier? Und was waren die letzten Gedanken der beiden Kinder? Konnten sie zwischen Kriegsspiel und richtigem Krieg überhaupt unterscheiden?
Im Vorgarten des Krankenhauses von Abu Salim, einem Stadtteil von Tripolis, in dem bis Freitag besonders heftig gekämpft wurde, liegen 17 Leichen neben- und übereinander, zum Teil seltsam verkrümmt, offenbar achtlos hingeworfen. Auf den unbedeckten Teilen der Körper, auf Nasen, Augen, Händen und Füßen, auch auf Bäuchen, haben sich Fliegen niedergelassen. Es stinkt entsetzlich. Es sind 34 Grad im Schatten und die Leichen liegen seit mindestens zwei Tagen, vielleicht sogar schon doppelt so lange da, der gleißenden Sonne ausgesetzt.
Direkt vor dem Eingang des Krankenhauses liegen weitere sieben Leichen auf Liegen, ein grünes Tuch bedeckt sie. Gleich soll ein Lastwagen kommen und sie zum Leichenschauhaus fahren. Oder werden sie irgendwo verscharrt? Unten im Keller des Krankenhauses wischen junge Männer und Frauen den Boden auf. Dort unten sind jetzt keine Leichen mehr, aber der süßliche Geruch verwesenden Fleisches lässt sich nicht so schnell wegspülen. Ohne Mundschutz hält man es nicht aus.
Die Leichen im Garten sind ein furchtbarer Anblick – und doch nur ein Teil des Grauens, das sich in der Klinik den vergangenen Tagen abgespielt haben muss. Die Ärzte und Krankenschwestern seien geflohen, als die Kämpfe begannen, sagt Mourad Boukcita, der Apotheker des Krankenhauses. Als er die Klink betrat, seien da nur noch Tote gewesen, 72 hat er selbst gesehen. Bruno Steven, ein Fotograf aus Belgien, erzählt, er habe mehrere Stunden lang beobachtet, wie Lastwagen vorfuhren und Leichen abtransportierten. Er hat 130 Tote gezählt, ist aber sicher, dass deutlich mehr Menschen hier starben, zumal die Abtransporte schon in Gang waren, als er ankam. Im ersten Stock hat er viele Tote entdeckt, die – aus den Schusswunden zu schließen – wohl hingerichtet worden seien. Andere Patienten sind vermutlich gestorben, weil sie nicht mehr versorgt wurden.
Inzwischen wird davon ausgegangen, dass etwa 200 Menschen im Krankenhaus von Abu Salim starben und ihre Leichen tagelang verwesten. Wer aber waren die Täter? Wer die Opfer? Die schwarzen Männer in Tarnuniform waren wohl Söldner Gaddafis, vermutlich im Kampf erschossen, von den Rebellen. Wer aber hat sie so respektlos in den Vorgarten des Krankenhauses geworfen? Waren es Anhänger des untergehenden Regimes, die den Journalisten zeigen wollten, wozu die Rebellen fähig sind? Und die Toten aus dem ersten Stock? Waren es Patienten, ermordet von Gaddafis Getreuen, kurz bevor sie die Klinik räumten? Noch ist wenig geklärt und es ist fraglich, ob es je Antworten geben wird.
Bis Freitag noch hingen in Abu Salim viele grüne Fahnen, Fahnen des Regimes von Muammar el Gaddafi. Nach Gefechten, bei denen möglicherweise über hundert Menschen starben, haben die Rebellen nun auch diesen Stadtteil unter Kontrolle – und damit, nur fünf Tage nach Beginn der militärischen Angriffe auf Gaddafis Truppen in der libyschen Hauptstadt, ganz Tripolis. Die Herrschaft des Diktators ist zu Ende, Tripolis erobert, es war ein Kampf, der seinen Preis gefordert hat, wie das Beispiel des Krankenhauses von Abu Salim zeigt.
Doch noch herrscht Unsicherheit in der Stadt. Gaddafis Einheiten scheinen wie vom Erdboden verschluckt. Sind sie nur abgetaucht, um zu günstigerer Stunde wieder loszuschlagen? Junge Rebellen kontrollieren an eilig errichteten Barrikaden die Autos, die durch die Millionenstadt fahren. Alle sind sie bewaffnet – mit Pistolen, Karabinern und Kalaschnikows. Einige sehen wie brave Schüler aus, andere verwegen, sie tragen Fliegerbrillen und schusssichere Westen. Den Stolz auf ihre Waffen sieht man ihnen an, die einen haben sich das Gewehr lässig umgehängt, andere haben es schussbereit im Griff, wieder andere halten ihre Gewehre in die Luft und schießen drauflos. Sie freuen sich wie Kinder und kommen sich vor wie Erwachsene. Vielleicht fühlen sich zum ersten Mal in ihrem Leben ernst genommen. Ohne all diese gleichermaßen leichtsinnigen wie todesmutigen Jugendlichen wäre Gaddafi noch immer in Bab al-Asisija, seiner schwer befestigten Residenz in Tripolis.
Auch Achraf Bouchagoure hat eine Kalaschnikow, der 37-Jährige wirkt ernsthafter, nachdenklicher als viele der jüngeren Kämpfer. Er ist schon am 17. Februar auf die Straße gegangen. An diesem „Tag des Zorns“ kam es in zahlreichen Städten Libyens zu Kundgebungen gegen Gaddafi. Es war der Beginn des Aufstands gegen das Regime. „Wir wurden sofort beschossen“, erinnert sich Bouchagoure, „es gab Tote.“ Danach richtete Gaddafis Polizei Kontrollstellen entlang des Küstenboulevards ein. Seit knapp zehn Tagen stehen dort die Barrikaden, die Bouchagoure organisiert hat. Alle tausend Meter eine, jede wird von etwa einem Dutzend Rebellen bewacht, rund um die Uhr.
„Wie habt ihr Gaddafis Polizei am Ende vertrieben?“ – „Bewaffnet natürlich“, sagt Achraf Bouchagoure ruhig. „Und woher habt ihr die Waffen?“ Er pfeift einen Jungen herbei, der ein kleines, gebogenes Stück Wasserrohr aus der Tasche kramt. Er hat es mit Dynamit gefüllt, wie es Fischer hier bei ihrer Arbeit benutzen, er hat ein kleines Loch gebohrt, in das Loch einen Zünder hineingesteckt – fertig war die teuflische Waffe. Der Junge fuchtelt mit dem Feuerzeug herum. „Mit diesen Sprengsätzen haben wir Kasernen der Armee überfallen und Gewehre geplündert“, sagt Bouchagoure, „und nicht nur Gewehre.“
„Und was hast du in deinem früheren Leben gemacht, Achraf?“ Der Mann, der für die militärische Verteidigung seines Viertels zuständig ist, zögert , dann sagt er: „Haschisch verkauft.“ Er hat nichts dagegen, dass dies in der Zeitung steht, zusammen mit seinem Namen. „Bei uns hat die Jugend viel gekifft, aber das ist jetzt vorbei. Wir haben eine Aufgabe.“
Auf dem Grünen Platz, den die Aufständischen in Platz der Märtyrer umgetauft haben, wird geschossen. Es sind Salutschüsse. Bärtige Männer marschieren auf. Die Verstärkung aus Bengasi, der Hauptstadt des befreiten Ost-Libyen, ist nach zwanzigstündiger Schifffahrt eingetroffen. Noch nicht angekommen sind die über 30 Schiffe, die, so die Rebellen, Wasser und Medikamente für Tripolis bringen sollen. Das Leben in der Stadt wird schwieriger: Immer wieder fällt der Strom aus, Lebensmittel und Benzin werden teuer und 70 Prozent der knapp zwei Millionen Bewohner von Tripolis sollen nur wenig oder gar kein fließendes Wasser haben.
Wieder hört man Salutschüsse, der Platz der Märtyrer, dessen Boden bedeckt ist von Patronenhülsen, ist in diesen Tagen ein Ort der Freude über die neu gewonnene Freiheit. Kleinlaster umfahren den Platz, auf den offenen Ladeflächen Kanonen, Raketenwerfer und Flugabwehrgeschütze. Und überall die neue Fahne, die die alte des von Gaddafi 1969 gestürzten König Idris ist. Mit wehenden Fahnen sind sie auch an die Fronten gestürmt. Es hatte etwas Archaisches an sich. Archaisch aber ist für die Menschen hier die Herrschaft Gaddafis, dieses selbstverliebten Tyrannen mit seinem Kult um Beduinenzelt und Kamelmilch.
Auf einer Bank am Rande des Platzes sitzt Mustafa Khalifa, er ist 42 Jahre alt und eigentlich Chefkoch bei einer Ölgesellschaft. „Dort über der Treppe“, sagt Khalifa und zeigt auf das Haus der Polizeizentrale, „hat Gaddafi im April seine letzte öffentliche Rede gehalten. Hunderttausende applaudierten.“ Die Hälfte der Zuhörer sei aus Angst oder Pflichtgefühl gekommen, glaubt Khalifa, aber eben nur die Hälfte. Die anderen Hälfte habe ihre Unterstützung bekunden wollen. „Ich war auch ein Anhänger Gaddafis“, gesteht der Chefkoch ein, „bis vor zwanzig Tagen. Er sagte uns ja, die USA und die Europäer würden intervenieren, um wie im Irak die Kontrolle über das Öl zurückzugewinnen. „Vor drei Wochen erst ist mir klar geworden, dass er lügt.“ Nun ist Khalifa für die Opposition. Hundertprozentig.
Während der Grüne Platz der Ort der Öffentlichkeit, des Volkes war, war Bab al-Asisija der Ort des Geheimen, Privaten. Der dreifach ummauerte Militärkomplex mit Kasernen, Kommandozentralen und der Privatresidenz Gaddafis und seiner Familie blieb dem Volk so unzugänglich wie im Kaiserreich den Chinesen die verbotene Stadt. Jetzt treten die ersten von ihnen neugierig durch die zerstörten Mauern der sechs Quadratkilometer großen Anlage, um sich anzusehen, wie der Mann lebte, der so lange ihr Leben bestimmt hat. Den meisten aber ist der Weg nach Bab al-Asisija im Süden der Stadt wohl zu gefährlich, man trifft beim Rundgang dort vor allem Rebellen, die die Gebäude bewachen. Wie viele Menschen beim Kampf um den Komplex starben, kann niemand sagen, mehrere Dutzend waren es auf jeden Fall. Bis Donnerstag leisteten Gaddafis Spezialeinheiten Widerstand, dann gaben sie auf. Die Rebellen durchkämmten sofort den Komplex. Doch Gaddafi fanden sie nicht.
In Bab al-Asisija stand auch die alte Residenz Gaddafis. Sie wurde 1986 von den Amerikanern bombardiert, als Vergeltung für den Anschlag auf die Westberliner Diskothek La Belle, bei der ein US-Soldat starb. Vor die Ruine hat Gaddafi ein Denkmal stellen lassen: eine große goldene Faust, die einen amerikanischen Kampfbomber zerquetscht. Ruine und Denkmal sind den Menschen in Libyen gut bekannt, aus dem Fernsehen: Sie bildeten die Kulisse für die Reden des Diktators. jetzt sind sie mit Graffiti beschmiert.
Hinter dem Denkmal steht das Krankenhaus – ausschließlich für Gaddafi und seine Familie gebaut, behaupten die Rebellen. Die Zahnklinik, die ophthalmologische Abteilung, der Gebärsaal – alles ist mit hochmodernen Instrumenten ausgerüstet, Computertomographie inklusive. Doch die meisten Räume sind verwüstet und geplündert. Man stolpert über Schutt und zerbrochene Fenster.
Auch die eigentliche Residenz der Familie sieht aus, als hätten gerade Einbrecher einen Besuch abgestattet. Im Zimmer der Tochter Hana liegen Fotos auf dem Boden, eines zeigt sie mit ihrem Vater in seinem braunen Beduinengewand, ein anderes, wie sie in einem Swimmingpool mit Delphinen spielt. Im Zimmer ihres einen Bruders liegen europäische Markenhemden, im Zimmer eines anderen ein Stadtplan von Wien, eine Karte der Schweiz und eine drei Jahre alte „Bild“-Zeitung.
Dort, wo es zu den Privatgemächern Gaddafis geht, steht Feisal Zaalouk, eine Kalaschnikow in der Hand. Niemand dürfe hinein, sagt er. Zu viele Besucher schon hätten etwas aus den Zimmern mitgenommen. Vielleicht, weil sie glauben, Gegenstände aus dem Privatbesitz des Diktators ließen sich verkaufen, vielleicht, weil sie das Gefühl haben, ihn auch jetzt noch, da er sich vermutlich in irgendeinem Loch versteckt, exorzieren zu müssen. „Wir wollen hier eines Tages vielleicht ein Museum über die Gaddafi-Diktatur eröffnen“, sagt Feisal Zaalouk.
Er erzählt, dass er am „Tag des Zorns“ vor einem halben Jahr nicht dabei sein konnte. Am 17. Februar saß er wieder einmal im Gefängnis seiner Heimatstadt Misrata – wegen Drogengeschichten. Noch am selben Tag seien Agenten des Regimes zu ihm in die Zelle gekommen und hätten ihm eine Waffe angeboten. Die sollte er benutzen, um um die protestierenden Jugendlichen zu bekämpfen. Er habe die Pistole genommen, das Gefängnis verlassen und sich schon am nächsten Tag den Rebellen angeschlossen. Doch jetzt interessieren Waffen Feisal Zaalouk nicht mehr. „Ich will studieren“, sagt er, „und danach ein ganz normales Leben führen – ohne Angst, ohne Drogen, ohne Haschisch.“ Die neue Zeit ist zum Greifen nahe, begonnen hat sie für ihn noch nicht – das wird sie erst, sagt er, wenn Gaddafi gefasst und in Handschellen abgeführt wird.
Feisal Zaalouk zeigt auf ein viereckiges Loch im Rasen. Unweit der Stelle, wo einst Gaddafis legendäres Beduinenzelt stand, wo er Staatsgäste empfing, beginnt ein Schacht. Steigt man hinab, soll man in ein Tunnelsystem gelangen, das angeblich aus der Stadt führt, 30 Kilometer weit. So behaupten jedenfalls die Leute hier. Ist Gaddafi, den die Eroberer von Bab al-Asisija auf dem weitläufigen Gelände vergeblich suchten, auf diese Weise entkommen?
Nur einige hundert Meter entfernt vom Schacht kommt wieder penetrant süßlicher Gestank auf. Drei Leichen liegen in der Hitze. Es sind Schwarzafrikaner, vermutlich Söldner Gaddafis, erschossen bei der Eroberung seiner Residenz. Sie liegen schon seit mindestens vier Tagen hier. Niemand hat sie weggebracht, niemand hat sie beerdigt. Wahrscheinlich ist einfach niemand zuständig. Den libyschen Staat gibt es nicht mehr. Und die Familien der drei Toten leben vermutlich jenseits der Sahara und wissen von nichts.
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 29.08.2011
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