TRIPOLIS. Dass am Schluss alles so schnell gehen würde, das hätte Moussa Boussnina nicht zu träumen gewagt. Die Schlagkraft von Gaddafis Spezialeinheiten, kommandiert von seinen Söhnen, ließ einen erbitterten Kampf um die Hauptstadt erwarten. Haus um Haus, Straße um Straße, Viertel um Viertel. Dass der Tyrann am Schluss verlieren und Tripolis frei, endlich frei sein würde, daran hatte der 29-jährige Flugzeugingenieur keinen Zweifel, aber er rechnete mit monatelangen Kämpfen. Und dann nahmen die Rebellen die Stadt in nur sechs Tagen ein.
Moussa ist ein Aktivist der ersten Stunde, aber die letzte hat er irgendwie verpasst. Vor zehn Tagen befreiten ihn die Rebellen aus dem Gefängnis von Abu Salim, dem Stadtteil, der als letzter fiel. Nun ist die größte Haftanstalt des Landes frei zugänglich. Das schwere eiserne Eingangstor ist beiseite geschoben, entlassene Häftlinge schauen sich die Zellen an, in denen sie schlimme Jahre verbracht haben. Kleider, Kekse und Wasservorräte liegen herum. Die Zellen wurden offenbar fluchtartig verlassen. Auch die Büros. Die Akten liegen auf den Böden verstreut. Niemand nahm sich die Zeit, sie zu verbrennen. Niemand bemüht sich heute, sie für weitere Nachforschungen sicherzustellen.
Leichen auf der Abfallhalde
So wenig wie Moussa ahnte, dass die Stadt innerhalb einer Woche an die Rebellen fallen würde, so wenig dachte er daran, nach drei Wochen Haft schon freizukommen. „Am 18.August gaben sie uns nur noch einige Datteln zu essen“, berichtet er, „danach nichts mehr.“ Am 20.August hämmerten und polterten die hungrigen Gefangenen aus Verzweiflung gegen die Türen. Vierzehn Häftlingen gelang es, ihre Gemeinschaftszelle aufzubrechen. „Sie wurden alle erschossen, bevor sie die Außenmauer des Gefängnisses erreichten“, sagt Moussa, der nur die Schüsse hörte, aber später die Leichen auf der Abfallhalde sah. Am folgenden Tag kamen die Rebellen und befreiten die Gefangenen. Einige Tausend waren es wohl, gezählt hat sie niemand.
Moussa kam dreizehn Jahre nach dem Putsch zur Welt, mit dem Gaddafi 1969 die Macht übernahm. Ein Tripolis ohne Gaddafi-Plakate kannte er nicht. Gaddafi gehörte zu seinem Alltag. Sein Porträt war überall, in Frisierstuben, Imbissbuden, Schulhäusern, Amtsstuben und auf öffentlichen Plätzen. Mal präsentierte er sich nachdenklich in brauner Beduinentracht, mal herrisch mit Sonnenbrille oder als Redner vor einem imaginierten Publikum. Doch Moussa kann sich nicht erinnern, Gaddafi je verehrt oder ihn auch nur für einen guten Politiker gehalten zu haben. In der Schule musste auch er das „Grüne Buch“ studieren, in dem der Bruder Führer über die Volksmacht, den Sozialismus und seine reichlich konfuse dritte Universaltheorie schwadroniert. „Wir haben uns alle darüber lustig gemacht, ernst genommen hat das keiner.“ Auch die literarischen Schriften Gaddafis hat Moussa gelesen. Aus purer Neugier. „Lohnt sich nicht“, urteilt er abschätzig. Gaddafi war für ihn immer ein alter, kauziger Mann. Nicht ganz ernst zu nehmen und doch äußerst gefährlich.
Sich vorzustellen, dass Gaddafi, dieser alte Mann mit dem zottigen Haar, bei seiner Machtübernahme zwei Jahre jünger war, als Moussa jetzt ist, fällt schwer. Er muss mal ein schneidiger Offizier gewesen sein, drahtig, sportlich, athletisch gebaut wie Moussa. Damals, 1969, waren lange Haare ein Zeichen der Rebellion. Moussa trägt das Haar kurz und einen Dreitagebart.
Auch zu Hause sei über Gaddafi gelästert worden, sagt Moussa. Vater wie Mutter standen in Opposition zum Regime. Ganz privat, im Herzen. Wie so viele. Aber öffentlich schwieg man. Was sollte man auch tun? Jeder kannte irgendjemanden, der wegen einer Kleinigkeit großen Ärger bekommen hatte. Lohnte es sich, wegen eines losen Mauls Jahre im Gefängnis zu sitzen? Und die ältere Generation hatte ja noch mitgekriegt, wie in Tripolis und Bengasi 1984 aufmüpfige Studenten auf dem Campus der Universität öffentlich gehenkt wurden. Es waren bleierne Zeiten, die Angst lastete schwer. Jedes Aufbegehren schien sinnlos zu sein.
Moussa studierte Ingenieurwesen, spezialisierte sich im Flugzeugbau – und vielleicht wäre er auf seiner Karriereleiter hochgerutscht, hätte geheiratet, Kinder gezeugt und wäre ein Familienvater geworden, der nicht mehr nur für sein eigenes Leben verantwortlich ist. Aber da verbrannte sich im vergangenen Jahr in Tunesien ein junger arbeitsloser Gemüsehändler, und einen Monat später schon flüchtete Präsident Ben Ali ins saudische Exil. Die Welle der Revolution schwappte durch die arabische Welt und riss die Diktatoren mit sich.
„Der Erfolg der Revolution in Tunesien war in meinem Freundeskreis ein ganz großes Thema“, sagt Moussa, „wir redeten viel darüber, wir bewunderten die Tunesier und beneideten sie auch.“ Die Rebellion sprang nach Ägypten über und nun fassten auch in Libyen, weitaus totalitärer und terroristischer regiert als seine beiden Nachbarstaaten, junge Menschen Mut. Der Aufstand ging in Bengasi los, im traditionell rebellischen Osten des Landes. Dort hatte die Polizei zwei Tage vor dem angekündigten „Tag des Zorns“ vorsorglich am 15. Februar Fathi Tarbel festgenommen. Der Rechtsanwalt vertritt seit Langem die Interessen der Angehörigen des Massakers von Abu Salim. Im Gefängnis, in dem Moussa fast drei Wochen festgehalten wurde, waren 1996 über 1200 Häftlinge kaltblütig hingerichtet worden. Am 17. Februar, dem „Tag des Zorns“, wurden in Bengasi – nach offiziellen Angaben – 15 Menschen erschossen. Wahrscheinlich waren es doppelt so viele.
Auch in Tripolis wurde am „Tag des Zorns“ kurz demonstriert. Die erste große Kundgebung aber fand drei Tage später statt. „Wir hatten uns über Facebook organisiert“, berichtet Moussa, „und kamen nachts um 23.30 Uhr in zehn Gruppen aus vier verschiedenen Richtungen auf den Platz der Märtyrer.“ Das ist der Platz, an dem Gaddafi vor sechs haushohen Plakaten mit seinem eigenen Konterfei seine öffentlichen Reden zu halten pflegte. Er hieß damals noch Grüner Platz.
„Es standen nur einige Verkehrspolizisten herum. Wir waren etwa 3000 Leute und schrien: Es lebe das freie Libyen! Es lebe Bengasi! Tod für Gaddafi! Wir hatten eine einzige rot-schwarz-grüne Fahne bei uns“, sagt Moussa, „und die trug ich. Wir pflanzten sie auf einen Telefonmast. Dort blieb sie eine Stunde lang hängen.“ Dann erst schritten die von der Verkehrspolizei alarmierten Sicherheitskräfte ein – mit Knüppeln, auch wurde vereinzelt geschossen. Es gab viele Verletzte, aber keine Toten.
Wie verabredet, versammelte man sich schon wenige Stunden später, am frühen Morgen um vier Uhr wieder auf dem Grünen Platz. Um sechs Uhr früh rückten Spezialeinheiten der Armee an. Es wurde ohne Warnung sofort scharf geschossen. „Etwa hundert Demonstranten starben“, sagt Moussa, dem es gelang, in die Gassen der Medina, der historischen Altstadt, zu entkommen, „ich selber habe gesehen, wie wimmernde Verletzte mit einem Kopfschuss erledigt wurden. Gleich danach rückte ein Putzkommando an, um den Platz zu säubern.“
Im Untergrund
Danach war Tripolis ruhig wie ein Friedhof – bis zum August, als dem Regime in der Hauptstadt der Gnadenstoß verpasst wurde. Moussa hatte seine Arbeit am Flughafen nach der Demonstration aufgegeben und sich in den Untergrund abgesetzt, nachdem einige Freunde aus seinem engsten Umkreis festgenommen worden waren. „Vier Monate lang schlief ich mal hier, mal dort, aber nie zu Hause“, berichtet der Ingenieur, „über Facebook organisierte ich Gruppen. Ich firmierte als Omar Mukhtar. Wir hatten alle Pseudonyme.“
Omar Mukhtar kennt in Libyen jeder. Er war der große Rebell. In den Zwanzigerjahren hatte er mit seinen bloß 2000 Wüstenkriegern der italienischen Besatzungsmacht einen erbitterten Krieg geliefert. Erst 1931 gelang es Mussolinis Faschisten, den fast 70-jährigen „Löwen der Wüste“ festzunehmen, nachdem er im Gefecht vom Pferd gefallen war. Er wurde in Ketten gelegt, in einem Schnellverfahren zum Tod verurteilt und öffentlich gehenkt. Als Gaddafi vor drei Jahren nach Rom zu einem Staatsbesuch kam, prangte eine tellergroße Medaille mit dem Porträt Omar Mukhtars auf seiner Brust, als er seinem Gastgeber Berlusconi entgegentrat. Eine Provokation, die der Italiener souverän wegsteckte.
Ab Ende April vernetzte Moussa alias Mukhtar aus dem Untergrund den Widerstand in den einzelnen Stadtteilen von Tripolis. Als Kuriere dienten vier Frauen: eine Rechtsanwältin, eine Ärztin, eine Universitätsprofessorin und eine Friseurin. Ab Ende Juli ließ er Waffen verteilen. „Ich hatte ungefähr 50 Kämpfer unter meiner Verantwortung, denen ich Kalaschnikows und auch Handfeuerwaffen zukommen ließ, die sie dann in ihren Stadtteilen weiter verteilten“, erzählt Moussa. „Wir hatten Kontakt zu Offizieren der Sicherheitskräfte, die gegen Gaddafi waren und uns vor bevorstehenden Razzien warnten.“
„Für eine Kalaschnikow bezahlten wir korrupten Militärs 5000 Dinar“, berichtet Moussa freimütig, umgerechnet sind das 3000 Euro, „auch aus Misrata und Zintan erhielten wir Waffen.“ Misrata ist eine Hafenstadt 200 Kilometer östlich von Tripolis, die von Gaddafis Truppen lange belagert und beschossen wurde. Zintan, 120 Kilometer südlich von Tripolis, war die erste befreite Stadt im westlichen Teil Libyens überhaupt. „Mit beiden Städten standen wir über Satellitentelefon in Kontakt“, sagt Moussa. Besitz oder Gebrauch von Satellitentelefonen wurde unter Gaddafi mit langjährigen Haftstrafen geahndet.
Den Eltern erzählte Moussa nichts von seiner Tätigkeit im Untergrund. „Sie waren zwar auch gegen Gaddafi, aber aus Sicherheitsgründen hatte ich vier Monate lang keinen Kontakt mehr zu ihnen.“ Doch alle Vorkehrungen nützten nichts. Unter Folter packte ein Freund aus und verriet die Handy-Nummer von „Mukhtar“. Moussa wurde geortet und vor einer Moschee verhaftet. Das war vor einem Monat, am 2. August. Die ersten fünf Tage verbrachte er auf dem Polizeikommissariat.
„Zwei Tage lang wurde ich gefoltert“, berichtet Moussa über die Zeit seines Lebens, die er am liebsten vergessen möchte, die ihn aber täglich wieder einholt. “ Abdullah al-Senoussi verhörte mich persönlich. Er war vor allem an meinen Kontakten zu den Offizieren der Sicherheitskräfte interessiert.“ Senoussi ist der zweitmächtigste Mann Libyens, Schwager von Gaddafis Ehefrau und Chef aller Geheimdienste. Wie Gaddafi und dessen zweitältester Sohn Seif al-Islam wird er vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag mit Haftbefehl gesucht. Vermutlich hat er sich in eine Stadt in der Wüste Südlibyens geflüchtet. Zwei Tage lang ordnete Senoussi immer wieder Folter mit Strom an. Wo genau, will Moussa nicht sagen, und auch nicht, was die Schwarzafrikaner mit ihm machen sollten, die kommen würden, wenn er nicht reden wolle. Nach fünf Tagen wurde er ins Gefängnis von Abu Salim gebracht.
Gerne hätte er nach seiner Befreiung zusammen mit den Rebellen, gekämpft, sagt Moussa. Aber er konnte nicht mehr. Er kann nicht länger als drei Stunden schlafen, wacht nachts schweißgebadet auf. Gibt es keine psychologische Betreuung? Er schüttelt lächelnd den Kopf. Tausende Gefangene sind freigekommen, Tausende Rebellen sind kriegsversehrt. Woher all die Psychologen nehmen?
„Niemand stiehlt die Revolution“
Mit Waffen will Moussa nichts mehr zu tun haben. Nicht dass er das Militärische generell ablehnen würde. „Aber wir müssen jetzt das Militärische und das Politische trennen, und ich habe mich für die Politik entschieden.“ Moussa will in seinem Land, in dem es seit vier Jahrzehnten keine Partei mehr gibt, eine Partei gründen. In der Großen Sozialistischen Libysch-Arabischen Volks-Dschamahirija, wie das von Gaddafi gegründete System offiziell hieß, waren alle Parteien verboten, weil das Volk ja über die „Massendemokratie“ seine Herrschaft direkt ausübte. Gaddafi war in diesem System nicht Präsident, er hatte überhaupt kein öffentliches Amt inne, er war nur der Bruder Führer, der alle wichtigen Entscheidungen traf.
„Wir sind schon hundert Freunde aus allen Stadtteilen von Tripolis und werden noch in diesem Jahr unsere Partei gründen“, verspricht Moussa. Was für eine? Eine islamisch geprägte, eine linke oder eine rechte? „Eine demokratische und progressive Partei“, sagt Moussa mit bestimmtem Ton. Was soll er mehr sagen? Er lebt in einem Land, das keine öffentliche politische Debatte kannte. Begriffe müssen erst mit Vorstellungen und Inhalten verknüpft werden.
Moussa befürchtet, dass nun Stämme die politische Leere füllen. Möglicherweise würden die alten Eliten versuchen, die Revolution zu vereinnahmen. Aber ist Abdul Dschalil, der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats, des höchsten Gremiums der Rebellen, der am „Tag des Zorns“ noch Gaddafis Justizminister war, nicht auch ein Wendehals? „Wenn jemand uns unsere Revolution stehlen will“, sagt Moussa, „dann wird es eine zweite Revolution geben.
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 02.09.2011
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