POSOLTEGA, im November. Als Mitch, der verheerendste Hurrikan, den Mittelamerika in den letzten 200 Jahren kennengelernt hat, Nicaragua attackierte, schwoll der Kratersee des Vulkans Casita unter den hereinstürzenden Regenmaßen so stark an, daß eine Wand des Berges platzte. Eine Schlammlawine raste den Hang hinunter und begrub unter sich ein halbes Dutzend Dörfer. Die breite Spur, die sie hinterlassen hat, ist schon aus Leon, der 30 Kilometer entfernten Provinzhauptstadt, zu erkennen. Der Schlamm ist inzwischen zumindest an der Oberfläche eingetrocknet. „Da, wo er Risse hat“, sagt Williams, „da kannst du hintreten, da ist er am festesten.“ Der zwölfjährige Junge hat sich ungefragt als lokaler Führer angedient. Moncho, sein um zwei Jahre jüngerer Bruder, ist auch mitgekommen. „Willst du die Leichen sehen?“ fragt er ziemlich unvermittelt und geht vorsichtig über den Schlamm. Auch da, wo er Risse zeigt, sinkt der Junge bisweilen bis weit über die Knöchel ein.
Die Kinder
Beißender Verwesungsgestank liegt über der braun-grauen Masse. Die Kadaver von zwei Pferden und einer Kuh tauchen auf und dann die Leiche einer Frau. Weiter oben ragen nur der Fuß und das Knie eines Kindes aus dem Schlamm. 174 Tote hat eine mit Spürhunden ausgestattete mexikanische Sonderbrigade am Wochenende auf dem rund fünf Kilometer langen und 500 Meter breiten Dreckbrei geborgen, der sich vom neuen Kraterrand bis ins Tal hinunter ergossen hat.
Die Leichen wurden mit Flammenwerfern verbrannt aus Angst vor Epidemien. Einige wurden offenbar übersehen. Hunderte Menschen sind wohl weggespült worden, Tausende werden noch im bis zu sechs Meter dicken Schlamm vermutet.
Die beiden Jungen reden über die Kadaver und die Leichen, als würde es sich um das Normalste der Welt handeln. Haben sie keine Gefühle? „Mein Vater hatte ein Hinkebein, die Mutter war krank“, sagt der Ältere, „nur wir beide haben es geschafft.“ Williams und Moncho sind Vollwaisen. Vorläufig schlafen sie in der Schule im Tal unten. Paula, eine etwa 18jährige Frau, kommt zu uns. Sie wohnt nun in einem Holzschuppen, direkt am Rand der Schlammasse. Bis vor zehn Tagen lebte sie mit ihrem Vater zu zweit. Sie hatten ein Pferd. Doch der Dreckstrom hat das Häuschen, den Vater und zwei Geschwister, die mit ihren Familien in der Nachbarschaft wohnten, fortgerissen. Nun ist sie allein und hat vier Pferde, das alte und drei neue, hinzugelaufene. Irgendwo hinter der toten Kuh streunt ein Hund. Die Behörden haben die Überlebenden aufgefordert, die Hunde zu töten. „Man muß schließlich verhindern, daß sie die Leichen anfressen“, sagt der kleine Moncho, und es hört sich etwas altklug an. Paula steht wortlos neben ihm und starrt unentwegt auf die tote Frau.
Auf der andern Seite des Schlammstreifens, der auf dieser Höhe vor zehn Tagen noch ein Erdnußfeld war, geht ein Paar. Er trägt einen Spaten, sie eine Machete. Es sind Fabio und Marta, die gekommen sind, um nach ihrem neuen Häuschen zu schauen. Um elf Uhr früh des Unglücktages hörte Fabio einen Lärm, den er für das Geräusch eines Hubschraubers hielt. „Als ich vors Haus trat, um nachzuschauen“, erinnert er sich, „sah ich in etwa 400 Meter Entfernung einen riesigen grauen Strom, der mit rasender Geschwindigkeit auf mich zukam.“ Das junge Ehepaar zögerte keine Sekunde, rettete nichts, nur das nackte Leben. Es war eine Frage weniger Sekunden.
Ein Trauma
Vom Haus ist außer dem Fundament nichts geblieben. In über hundert Meter Entfernung entdekken die beiden das eiserne Gestell ihres Ehebettes. Fabio weiß nicht, wo er mit seinem Spaten graben soll. Er weiß nicht einmal, wonach er suchen soll. Er hatte bloß gedacht, einige nützliche Dinger für den künftigen Haushalt werde er schon finden. Jetzt kommt ihm das alles reichlich aussichtslos, ja lächerlich vor. Hier wohnen will er ohnehin nie mehr. „Ich kann nie mehr am Rand eines Stroms leben“, sagt er. Fabio hat ein Trauma.
In den fünf völlig verschütteten Dörfern an den Abhängen des Vulkans Casita sind vermutlich rund 2 000 Menschen gestorben. Etwa 150 konnten sich retten. Aus dem Dorf Rolando Rodriguez hat nur ein Ehepaar überlebt: Santiago Aragon und seine Frau Noemi Tercero. Die beiden sind in einer Siedlung im Tal untergekommen. Doch ihre drei Kinder, im Alter von fünf Monaten, drei und fünf Jahren sind tot. Noemi hingegen liegt schwerverletzt auf einer Liege. Sie hat vermutlich einen Beinbruch und einen Schaden an der Wirbelsäule. Die Kinder hatte sie mit sich gezerrt, als sie floh. Aber dann wurde sie vom Strom mitgerissen, und als sie wieder zu Bewußtsein kam, war ihr gesamter Nachwuchs weg. Das jüngste Kind, gerade fünf Monate alt, konnte tot geborgen werden. Die andern beiden haben sie nicht einmal begraben. Auch Santiago wurde von der Schlammasse erfaßt, konnte sich aber selbst retten. Nun will er nur noch eins: Fort von hier.
Der Vulkan Casita ist längst zum Symbol der Katastrophe geworden. Nirgendwo sonst hat der Hurrikan Mitch auf so engem Raum in so kurzer Zeit so viele Menschen getötet. Während die Versorgung der notleidenden Bevölkerung an anderen Orten, vor allem am Rio Coco, dem Grenzfluß zu Honduras, wo die Miskito-Indianer zu Hause sind, sich ungleich schwieriger gestaltet, ist hier, wo nur wenige überlebt haben, erste Hilfe, wenn auch reichlich spät, spürbar angekommen: Nahrungsmittel, Medikamente, Zeltplanen. In Posoltega, dem Gemeindeort, zu dem die verschütteten Dörfer gehörten, sind rund 20 Laster voller Hilfsgüter einer „Karawane der Solidarität“ eingetroffen, die die Sandinistische Befreiungsfront, seit 1990 in der Opposition, organisiert hat. Eine Schlange von etwa 200 Autos, angeführt vom früheren Präsidenten und heutigen Oppositionsführer Daniel Ortega, ist von Managua aus über die stark beschädigten Straßen und über Notbrükken in den Ort gekommen.
Posoltega selbst ist im großen und ganzen heil geblieben. Zwar standen viele Wohnungen tagelang unter Wasser. Doch sind kaum bleibende Schäden entstanden. Neun Tage lang gab es kein fließendes Wasser im Ort, so versuchten die Leute, möglichst viel Regen aufzufangen. Bis zum vergangenen Wochenende gab es keine Elektrizität, also kein Licht und keine Fernsehnachrichten. Die Strommasten sind eingestürzt.
Eine riesige Sandfläche
„Wir saßen im Dunkeln und wußten nicht, wann und wie je Hilfe kommen würde“, sagt Julio, der in Managua Medizin studiert. Außerhalb des Dorfkerns zeigt sich dann die ganze Wirkung der Naturgewalten. Der Fluß ist über die Ufer getreten und hat Hunderte von Baumriesen entwurzelt. Über 40 Häuser hat er einfach spurlos weggespült. Die fruchtbare Ebene jenseits des Flußbettes ist eine riesige Sandfläche, so weit man sieht. Anders als im Schlamm auf dem Berg geht man hier auf festem Boden. Meterdick liegt der Sand unter den Füßen. „Hier“, sagt Julio, „hat mein Vater Erdnüsse angepflanzt, da Zitrusfrüchte und dort drüben Getreide.“ Alles nur noch Sand. Nun wird es keine Ernte geben. Der Vater weiß nicht, wie er der Bank den Kredit zurückbezahlen soll, und der Sohn wird das Studium an den Nagel hängen, weil der Vater für die Miete seines Zimmerchens in Managua nicht mehr aufkommen kann.
Im Zentrum von Posoltega herrscht dichtes Gedränge. Sack für Sack werden die Hilfsgüter weitergereicht und im Gemeindehaus gestapelt. Auf dem kleinen Baseball-Platz hat inzwischen der erste Redner das Wort ergriffen. Er behauptet, die Solidaritätsaktion sei ausschließlich ein humanitärer Akt. Viele Medien werfen den Sandinisten seit Tagen vor, aus der humanitären Katastrophe politisches Kapital schlagen zur wollen. Was wohl stimmt, aber den Leuten ist es egal. Sie wollen Hilfe, viel, schnell und unbürokratisch.
Andererseits beschuldigen die Sandinisten die Regierung, nicht in der Lage zu sein, die angebotene Hilfe effizient zu koordinieren und gezielt einzusetzen. Was wohl auch stimmt. Die Regierung scheint mitunter schlicht überfordert.
Daniel Ortega ergreift das Wort. Er schlägt vor, der Kardinal Obando y Bravo, Erzbischof von Managua, ein notorischer Gegner der Sandinisten, möge doch gleich die Präsidentschaft des Landes übernehmen. Die Leute jubeln. Sie haben die Ironie verstanden. Vor wenigen Tagen hatte der Präsident Arnoldo Aleman unter dem Druck wachsender Kritik der Kirche die Koordinierung der Hilfe angetragen.
Frust über „die da oben“
Auch unten, am Fuß des Casita, da wo sich die wenigen Überlebenden der Schlammkatastrophe hingerettet haben, hört man kaum ein gutes Wort über die Regierung. Es ist allenthalben von Schlamperei, Bestechung, Übervorteilung und Unfähigkeit die Rede. Vorwürfe, die oft nicht viel mehr als den Hader mit dem traurigen Schicksal zum Ausdruck bringen. Und auch die Angst vor der Zukunft. Es sind Bauern, die ihr Land verloren haben. Wird man ihnen ein anderes Stück Boden zuteilen? Und wo? Stimmt es, daß die Tierkadaver oben im Schlamm hier unten das Grundwasser vergiften? Stimmt es, daß über die ganze Gegend eine Quarantäne verhängt werden soll, um der Ausbreitung von Cholera, Typhus und Hepatitis vorzubeugen? Die Verunsicherung ist riesig und die Hoffnung auf eine geregelte Zukunft klein.
So entlädt sich denn der Frust über die da oben in Managua. Über die Ausländer hingegen fallen nur gute Worte. Die Mexikaner bergen schließlich Tote, und die Franzosen bauen Latrinen. Selbst die amerikanische Sekte, die zum Gebet ruft, findet Zuhörer. Der Prediger, ein adrett gekleideter Herr in weißem Hemd und Krawatte, spricht von einer Strafe Gottes, appelliert zugleich an das Vertrauen in denselben, und dies mit dem seltsamen Argument, daß sein Wille ohnehin immer geschehe. Als ein junger Mann nachfragt, wofür sie alle denn nun bestraft worden seien, steigt der Amerikaner in sein Auto ein und entschwindet.
Thomas Schmid – Berliner Zeitung – 12.11.1998