Es ist die längste Besetzung der jüngeren Geschichte, und sie scheint kein Ende zu nehmen. Im kommenden Juni werden es 50 Jahre her sein, dass Israel den Sechstagekrieg gegen Ägypten, Syrien und Jordanien gewonnen hat. Seither ist das vormals jordanische Westjordanland besetztes Gebiet. Ostjerusalem – mit der al-Aqsa-Moschee, der Grabeskirche und der Klagemauer ein Zentrum von drei Weltreligionen – gehörte bis 1967 ebenfalls zu Jordanien. Es wurde von Israel nicht nur besetzt, sondern (wie auch die vormals syrischen Golan-Höhen) – völkerrechtswidrig – annektiert. Völkerrechtswidrig ist (nach Artikel 49 der IV. Genfer Konvention) auch die Besiedlung des besetzten Gebietes durch die Besatzungsmacht mit Teilen der eigenen Bevölkerung. Heute leben ungefähr 350.000 israelische Staatsbürger in den Siedlungen des besetzten Westjordanlands. Etwa 250.000 israelische Staatsbürger ließen sich in Siedlungen und Vierteln des annektierten Ostjerusalems nieder, weitere 50.000 auf den Golan-Höhen.

Just die von Israel völkerrechtswidrig geschaffenen Fakten sind heute das größte Hindernis für eine Zweistaatenlösung. Eine solche wurde 1995 mit dem Osloer Interimsabkommen, das innerhalb von fünf Jahren zu einem Endstatusvertrag hätte führen sollen, angepeilt. Doch heute scheint sie ferner denn je. Die Regierung Netanjahu unterminiert mit dem Bau immer weiterer Siedlungen eine Zweistaatenlösung, eine Einstaatenlösung aber will sie auch nicht, weil dies das Ende eines jüdischen und gleichzeitig demokratischen Staats bedeuten würde.

Die Regierung Netanjahu drängt gar nicht auf eine politische Lösung. Sie braucht keine. Selbst die Illusion einer Zweistaatenlösung aufrechtzuerhalten, ist ihr offenbar immer weniger wichtig. Im Februar verabschiedete die Knesset ein Gesetz, das dem Staat erlaubt, privaten  palästinensischen Boden zu enteignen, auf dem Siedler – selbst nach israelischem Gesetz illegale – Außenposten errichteten. Noch ist unklar, ob das neue Gesetz vom Obersten Gericht kassiert wird, aber Naftali Bennett, Bildungsminister und Vorsitzender der nationalreligiösen Partei Jüdisches Heim, wichtigster Koalitionspartner von Netanjahus Likud, fordert bereits öffentlich die Annexion sämtlicher C-Gebiete des Westjordanlands, das sind jene Gebiete, die vollständig unter israelischer Zivil- und Sicherheitsverwaltung stehen und in denen die palästinensische Autonomiebehörde mit Sitz in Ramallah nichts zu melden hat. Es sind über 60 Prozent der Westbank, sämtliche Siedlungen eingeschlossen.  

Was aber bedeutet die Besetzung für die Palästinenser? Man kann sie selbst fragen. Die Antworten: Demütigung, Bittstellerei, Kontrollen an fixen und fliegenden Checkpoints, lange Umwege, Schikanen, gelegentlich auch Schläge oder gar Schüsse. Man kann auch mit Yehuda Shaul einen Rundgang durch Hebron, die größte Stadt des Westjordanlands, unternehmen. Shaul war 2001/2002, während der zweiten Intifada, 14 Monate als Besatzungssoldat in Hebron im Einsatz. „Wir brachen nachts in Wohnungen ein, wir holten die Leute aus den Betten, wir zerstörten Mobiliar, wir schossen Salven ab, alles bloß um die Menschen einzuschüchtern.“ Shaul empfindet heute Scham für das, was er und seine Kameraden getan haben. Er hat die Organisation „Breaking the Silence“ („Das Schweigen brechen“) mitgegründet. Über 800 Interviews mit Besatzungssoldaten hat die Gruppe geführt. Auf Deutsch ist ihr Buch mit Zeugenaussagen von 106 Soldaten, die in den besetzten Gebieten zum Einsatz kamen, unter dem Titel „Breaking the Silence“ erschienen.  Es sind erschütternde Berichte.

Gewiss, Hebron ist ein Extremfall und die Intifada ist vorbei. Aber noch heute spazieren hier Siedler mit umgehängter Maschinenpistole durchs Zentrum einer palästinensischen Stadt. Die Geschäfte der Palästinenser in der von Israel verwalteten Altstadt wurden amtlich geschlossen oder von den Inhabern selbst aufgegeben. Der zentrale Busbahnhof wie die einst belebten Marktplätze sind verwaist. Hebron ist eine Geisterstadt.

Doch Hebron, dessen Altstadt C-Gebiet ist, stellt eine Ausnahme dar. In den übrigen palästinensischen Städten trifft man auf keine Israeli. Die acht großen Städte gehören ausschließlich zu den A-Gebieten (18 Prozent der Fläche, 50 Prozent der palästinensischen Bewohner des Westjordanlands), die unter palästinensischer Zivil- und Sicherheitsverwaltung stehen, was die israelische Armee nicht hindert, immer wieder vor allem nachts Razzien durchzuführen und Pesonen zu verhaften.  Die B-Gebiete (20 Prozent der Fläche, 40 Prozent der Palästinenser der Westbank), in denen 44 Dörfer und ihr unmittelbares Umland liegen, sind der palästinensischen Zivilverwaltung und einer gemischt israelisch-palästinensischen Sicherheitsverwaltung unterstellt.

In den C-Gebieten, 62 Prozent der Westbank, zu fast einem Drittel militärisches Übungsgelände, wohnen nur noch sechs Prozent der Bevölkerung des Westbank. Und es werden immer weniger, weil hier nur mit expliziter Genehmigung der Besatzungsbehörde gebaut werden darf. Und eine solche Genehmigung gibt es in aller Regel nicht. Die Zerstörung illegaler Bauten (Häuser, Schulen, Tierunterstände, Lagerräume, Wasserzisternen, Toiletten, Kinderspielplätze) hat sich 2016 im Vergleich zum Vorjahr nach Angaben der Uno verdoppelt. 30 Prozent dieser Bauten wurden mit ausländischen Hilfsgeldern errichtet. Betroffen von der Zerstörung sind vor allem Beduinen, die in den C-Gebieten leben.

An den Straßen, die zu palästinensischen Städten führen, warnen rote Tafeln: Israelischen Staatsbürgern ist die Weiterfahrt verboten. Umgekehrt gibt es Siedlerstraßen, die für Palästinenser verboten sind. Und es gibt Militärstraßen, die in der Regel nur für die Armee offen sind. Die Segregation wird abgesichert durch zahlreiche Checkpoints und Straßenblockaden, und seit 2002 auch durch eine Betonmauer. Diese wurde gebaut, um das Einsickern palästinensischer Terroristen nach Israel zu verhindern. Sie verläuft aber zu 85 Prozent auf palästinensischem Territorium, sodass zahlreiche palästinensische Gemeinden auf der Israel zugewandten Seite der Mauer liegen und vom übrigen Westjordanland abgeschnitten sind.

Die Folgen dieser Politik für die Palästinenser sind fatal. Bauern kommen nur über Umwege zu ihren Ländereien, es leidet der Handel zwischen Stadt und Land, die Wege zu höheren Schulen und Universitäten sind zeitraubend. Auch die Gesundheitsversorgung bereitet Probleme. Das größte palästinensische Krankenhaus ist das Makassed Hospital. Es liegt auf dem Ölberg, von wo aus einst Jesus in den Himmel aufgestiegen sein soll, im annektierten Ostjerusalem, das nach dem Völkerrecht zum Westjordanland gehört, nach israelischem aber zu Israel.

Palästinenser des Westjordanlands dürfen aber generell nicht nach Israel einreisen, also auch nicht nach Ostjerusalem. Sie brauchen hierfür eine Sondergenehmigung. „Das macht die Sache unnötig kompliziert und oft auch lebensgefährlich“, sagt Nizar Hijjeh. Auf seinem weißen Arztkittel steht „Universitätsklinikum Marburg“. Hijjeh wurde einen Monat nach dem Sechstagekrieg 1967 in Hebron geboren, floh mit seinen Eltern über Jordanien nach Saudiarabien, kam mit 19 Jahren nach Deutschland, wo er sich zum Chirurgen ausbilden ließ. Seit über vier Jahren schon arbeitet er als Kinderherzchirurg im Makassed Hospital.

Um einen Patienten aus dem Westjordanland in Ostjerusalem zu behandeln, muss das Krankenhaus erst einen Antrag bei den israelischen Behörden stellen und deren Zustimmung dann ins betreffende Krankenhaus in Ramallah, Nablus, Hebron oder einer andern Stadt im Westjordanland faxen. Dann erst fährt die Ambulanz dort los. Am Checkpoint vor Jerusalem muss der Patient in eine Ambulanz mit israelischen Nummerschildern umgebettet werden. „Da geht oft kostbare Zeit verloren“, sagt Hijjeh, der jährlich über 300 Kinder am offenen Herz operiert. Über die Hälfte kommt aus dem Gazastreifen, der Rest aus dem Westjordanland, aus Ostjerusalem selbst nur wenige.

Denn die Palästinenser Ostjerusalems leben zwar nach israelischem Verständnis in Israel. Sie haben zwar keine israelische Staatsbürgerschaft, aber immerhin den Status von „Ständigen Einwohnern“ und erhalten einen speziellen Personalausweis, die blaue ID-Karte. Damit sind sie in Israel sozialversichert. Die Palästinenser des Westjordanlands und des Gazastreifens hingegen sind alle über das Gesundheitsministerium der Palästinensischen Autonomiebehörde versichert. Allerdings mangelt es dieser oft an flüssigen Geldmitteln, weshalb das Ministerium dem Krankenhaus inzwischen etwa hundert Millionen Schekel (25 Millionen Euro) schuldet – mit der Folge, dass die Ärzte mitunter monatelang kein Gehalt kriegen und dass es Hijjeh an Herzklappen oder gar an Nahtmaterial für Operationen fehlt.

Dass es überhaupt eine kinderherzchirurgische Abteilung in Ostjerusalem gibt, ist allein das Verdienst des in Deutschland ausgebildeten Arztes. Hijjeh hat bei betuchten palästinensischen Freunden ungefähr eine Million Euro eingesammelt, Apparate und Material über israelische Firmen in Deutschland und den USA eingekauft und die Station selbst aufgebaut. In Ostjerusalem darf er im übrigen nur arbeiten, weil er als hochspezialisierter Arzt eine Sondererlaubnis von Israel hat. Wohnen darf er in Ostjerusalem nicht. Denn er hat nicht die blaue ID-Karte, sondern den palästinensischen Pass, ausgestellt von der Palästinensischen Autonomiebehörde. Auch darf er in Israel, also auch in Ostjerusalem, nicht Auto fahren. Aus Protest gegen diese absurde Situation ist der Arzt vor Jahren zehn Tage lang auf einem gemieteten Esel ins Krankenhaus eingeritten, danach zwei Wochen auf einem Pferd. Als er sich schon ein Kamel besorgt hatte, schritt schließlich die Krankenhausleitung ein, die keinen Ärger mit den israelischen Behörden wollte.

In etwa 20 Prozent der Fälle verweigert Israel Patienten die Einreise für eine Behandlung im Ostjerusalemer Makassed Hospital. Generell sind von diesem Verbot häufiger die Bewohner des Gazastreifens als jene des Westjordanlands betroffen. Israel hat sich 2005 aus dem Gazastreifen vollständig zurückgezogen, riegelt ihn aber hermetisch ab. Und seit in Kairo General Sissi 2013 die Muslimbrüder von der Macht geputscht hat, ist auch die Grenze des Gazastreifens zu Ägypten hin geschlossen. Im mit 1,8 Millionen Menschen bevölkerten Wüstenstrich hat 2007 die islamistische Hamas die Macht übernommen. Ein Jahr zuvor hatte sie in den palästinensischen Autonomiegebieten die Parlamentswahlen gewonnen. Von Deutschland, der EU und den USA wird sie jedoch als terroristische Organisation eingestuft. Israels Existenzrecht hat sie nie anerkannt.

Auf Raketenangriffe aus dem Gazastreifen reagierte Israel 2008 mit massiven Luftbombardements, denen über tausend Pälästinenser zum Opfer fielen. Noch verheerender war die Antwort Israels auf erneute Raketenangriffe der Hamas 2014. Die Uno zählte über 1.800 palästinensische Todesopfer im Gazastreifen, auf israelischer Seite gab es etwa 50 Tote. Sehr viel Wohnsubstanz und auch große Teile der Infrastruktur des Gazastreifens wurden zerstört.

Patienten, die den Gazastreifen zwecks medizinischer Behandlung verlassen wollen, und es sind jährlich um die hunderttausend, müssen ein Formular vorweisen, in dem ein Krankenhaus in Gaza bestätigt, dass sie vor Ort nicht adäquat versorgt werden können, und ein weiteres Formular, auf dem sich die palästinensische Autonomiebehörde verpflichtet, die Kosten für die Behandlung zu übernehmen. Etwa einem Drittel wird die Einreise nach Israel verwehrt – ohne Begründung oder explizit aus Sicherheitsgründen. Israel befürchtet, dass die Hamas als Kranke getarnte Terroristen einschleust. Viele Patienten, die einen Antrag zur Einreise nach Israel stellen, werden vorab zu einem Verhör durch den Shin Bet, den israelischen Inlandsgeheimdienst, in ein Büro am Grenzkontrollpunkt einbestellt. Und wenn ihnen die Einreise erlaubt wird, dürfen sie nur von Personen begleitet werden, die älter als 55 Jahren sind und ebenfalls eine Erlaubnis beantragen müssen. Bei Kindern sind das in der Regel die Großeltern. „Wenn Sie um Mitternacht in meine Abteilung kommen“, hatte der Kinderherzchirurg Hijjeh gesagt, „stolpern Sie in allen Korridoren über schlafende Menschen, Großeltern der Kinder aus Gaza.“

Etwa 250 Patienten, vorwiegend Herz- und Krebskranke, denen die Einreise verwehrt wird, wenden sich jährlich an die „Ärzte für Menschenrechte“. Die schon 1988 gegründete NGO, die in Jaffa, am Südrand von Tel Aviv, ihr Büro hat, interveniert dann bei den israelischen Behörden. „In über der Hälfte der Fälle haben wir Erfolg“, sagt Ran Goldstein, Leiter der humanitären Organisation, die eine mobile Klinik unterhält. „Alle paar Wochen fahren wir nach Gaza“, sagt er, „wir sind die einzige israelische Hilfsorganisation, die im Gaza-Streifen arbeitet.“ Goldstein selber allerdings fährt nie mit. Die israelische Armee und Sicherheitsdienste lassen ihn nicht durch, weil er Jude ist. Nur „arabische Israelis“ – etwa 20 Prozent der Bevölkerung Israels sind Araber (oder Palästinenser, wie sie sich in der Regel selbst bezeichnen) mit israelischem Pass – dürfen die Grenze passieren.

Zu ihnen gehört der Arzt Salah Haj Yahya. In einem Interview mit der liberalen israelischen Zeitung Ha’aretz sagte er jüngst: „Gaza versinkt in Verzweiflung. Du merkst es, sobald du die Grenze überschreitest. Es ist wie eine Reise in eine andere Welt. Schon an der Grenze siehst du schwerkranke Leute, meistens Krebspatienten, die Schlange stehen. Sie hoffen auf Mitleid und eine Erlaubnis, die Grenze zu überqueren, um irgendeine Behandlung zu kriegen. Vom Auto aus siehst du Ruinen, tausende zerstörte Häuser, Fabrikruinen, Abwasser, das durch die Straßen fließt (…) Leute zünden Feuer an, um sich zu erwärmen (…) Die Wasserquellen sind kontaminiert (…) Es gibt kaum Elektrizität (…) In den Krankenhäusern herrscht ein schrecklicher Mangel an Medikamenten und Ausstattung, an Spritzen, Bandagen, Schläuchen (…) Viele Menschen sagen mir, sie träumen davon, wie früher wieder in Israel arbeiten zu können. Aber sie fühlen, dass sich niemand um sie kümmert – weder die Israelis noch die Ägypter noch die Palästinensische Autonomiebehörde.“

Nach 50 Jahren Besetzung erscheinen im Rückblick die ersten Jahrzehnte israelischer Herrschaft über die palästinensischen Gebiete wenn nicht als goldenes Zeitalter, so doch als eine erträgliche Epoche. Jüdische Israelis gingen in Jericho essen und ließen sich bei muslimischen Palästinensern die Zähne flicken, weil es billiger war. Hunderttausende Palästinenser arbeiteten in Israel, waren auf Baustellen beschäftigt oder putzten die Wohnungen. Man kannte sich. Heute begegnet man sich nicht mehr, kennt sich nicht mehr.

Auf der palästinensischen Seite wächst eine nächste Generation Jugendlicher heran, frustriert über die Vetternwirtschaft der palästinensischen Autonomiebehörde, ohne Zukunft, und viele mit Hass auf die Besatzungsmacht. Für die historischen Erfahrungen der Juden und für ihre heutigen Ängste vor palästinensischem Terror haben sie in der Regel kein Verständnis. Auf israelischer Seite wird die Besetzung des Westjordanlands weithin akzeptiert, das Schicksal der Bewohner in den besetzten Gebieten ist in der Öffentlichkeit kein Thema. Auf beiden Seiten mangelt es an Empathie. Trotzdem, es ist ein zutiefst asymmetrischer Konflikt: auf der einen Seite die Besatzungsmacht, auf der andern Seite jene, die der Besatzung unterliegen.

Erschienen in „Amnesty Journal“, 06-07-2017