WARSCHAU. Dominik Taras ist der bekannteste Koch ganz Warschaus. Nicht wegen der Gaumenfreuden. Die Haute Cuisine ist ihm fremd. Er arbeitet in der Kantine der Akademie der Künste. Massenabfertigung. Über Taras haben die polnischen Fernsehsender aus einem andern Grund breit berichtet. Er ist der Mann, der den Kreuzrittern den Kampf angesagt hat. Die Kreuzritter, das sind einige Dutzend Menschen, die seit Wochen vor dem Präsidentenpalast der polnischen Hauptstadt vor einem Holzkreuz beten und religiöse Lieder singen. Das über vier Meter hohe Kreuz hatten am 15. April patriotische Pfadfinder errichtet. Was zum Streit führte, sollte ein Denkmal sein. Fünf Tage zuvor waren bei einem Flugzeugabsturz im russischen Smolensk der damalige Präsident Lech Kaczynski und weitere 95 Personen ums Leben gekommen, viele von ihnen Angehörige der politischen und militärischen Elite des Landes.
Am 3. August – darauf hatten sich die Pfadfinder, das Erzbistum Warschau und die Kanzlei des Präsidialamtes im Juli gütlich geeinigt – sollte das Kreuz in die nahegelegene Sankt-Anna-Kirche gebracht werden. Doch dagegen wehrte sich eine Gruppe aufgebrachter Gläubiger, die seither Tag und Nacht beim Holzgestell Wache hält und seinen Abtransport verhindert. So stand am 4. August also das Kreuz noch immer vor dem Präsidentenpalast. Da platzte dem 22-jährigen Koch der Kragen.
In seiner engen Wohnung in einem peripheren Stadtteil von Warschau sitzt Taras in Baggy-Hosen und offenem Hemd vor dem Computer und lädt Filmsequenzen von Youtube herunter. „Hier, das bin ich“, sagt er und zeigt auf den Mann, der auf dem Display erscheint und von einer Menschenmasse umgeben in einen Lautsprecher brüllt: „Reißt den Präsidentenpalast nieder – er versperrt uns die Sicht auf das Kreuz!“ Eine kuriose Gestalt, verkleidet als Papst, segnet vom Balkon aus die Kreuzritter, die verängstigt auf der andern Seite der Straße ihr Holzkreuz bewachen. Irgendwo rennt einer mit einem kleinen Kreuz durch die Gegend, an dem – welch Blasphemie! – ein Teddy-Bär zappelt. Ein anderer trägt ein Kreuz aus Bierdosen der Marke Lech. Eine Anspielung, die hier jeder versteht. Die Brauerei hatte vor der Wawel-Kathedrale in Krakau, wo Lech Kaczynski bestattet wurde, für ihr Bier mit einem recht pietätlosen Spruch geworben, der sowohl „ein kaltes Lech“ wie „der kalte Lech“ bedeutet. Sichtlich amüsiert durchforstet Taras das Internet nach neuen Einträgen zum großen Happening vom vergangenen Montag.
Zur „Aktion Kreuz“ hatte der Koch am 4. August über Facebook aufgerufen. Im Schneeballsystem verbreitete sich die Kunde vom beabsichtigten Protest. Fünf Tage nach dem Aufruf fanden sich nachts um 23 Uhr 6.000 Demonstranten beim Kreuz ein. Die Protestaktion dauerte bist tief in die Nacht. Über die betende Gruppe fundamentalistischer Kreuzritter ergoss sich Spott und Hohn. Ja, es habe da auch einige Besoffene unter den Demonstranten und unschöne Szenen gegeben, konzediert Taras. Die Polizei habe achtmal eingreifen müssen. „Aber 6000 Menschen haben gezeigt, dass sie für ein anderes Polen eintreten“, resümiert er, „für ein laizistisches Polen, in dem das Kreuz in die Kirche gehört.“ Seither herrscht Kulturkampf in Warschau.
Am Donnerstag versuchte die Regierung die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen. 50 Meter vor dem umstrittenen Kreuz entfernt, ist eine Ehrengarde mit Karabinern und aufgepflanztem Bajonett aufmarschiert. Es erklingt ein Fanfarenstoß. Dann wird an der Mauer eines Seitenflügels des Präsidentenpalastes feierlich eine Plakette enthüllt – zu Ehren von Lech Kaczynski und der übrigen 95 Opfer der Katastrophe von Smolensk. Ein Pfarrer im Messgewand hält ein Gebet und bespritzt die Plakette mit geweihtem Wasser. Eine recht würdevolle Feier. Doch als der Vorsitzende der Kanzlei des Präsidialamtes zu reden anhebt, schreien die Kreuzritter: „Schande! Schande!“ Sie wollen ein richtiges Denkmal. Mit einer kleinen Plakette lassen sie sich nicht abspeisen. Dann stimmen sie Kirchenlieder an.
Die Szene hat etwas gespenstisch Mittelalterliches. Vor dem Kreuz flackern Hunderte von Grablichtern, Frauen schwenken Rosenkränze, Männer halten kleine Kruzifixe in den ausgestreckten Händen, dann bitten sie in einem Stoßgebet den Erzengel Michael um Hilfe und singen ein Lied auf die schwarze Madonna von Tschentochau, Inbegriff der polnischen Marienverehrung. Und in der Mitte des Chores steht Joanna Burzynska, eine ältere schlanke Frau mit weißem Haar und immer abwesendem Blick, in ganz Polen als „Märtyrerin“ bekannt, seit sie sich medienwirksam mit einer Schärpe in den rot-weißen Nationalfarben ans große Holzkreuz gefesselt hat.
„Es ist nicht ein Krieg ums Kreuz“, sagt Tadeusz Iwinski, „es ist ein Krieg mit dem Kreuz.“ Iwinski ist Parlamentsabgeordneter der sozialdemokratischen Opposition. Es gehe nur vordergründig um einen atavistischen Kulturkampf, sagt der habilitierte Chemieingenieur, hinter diesem verberge sich eine beinharte politische Auseinandersetzung. Die Stichwahl ums Präsidentenamt verlor Anfang Juli Jaroslaw Kaczynski, Zwillingsbruder des tödlich verunglückten Präsidenten, dem er einst als Premierminister gedient hatte und dessen Nachfolge er nun antreten wollte. Sieger wurde Bronislaw Komorowski. Kaczynski ist Chef der populistischen nationalkonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“, die im katholischen Klerus breiten Rückhalt findet. Komorowsi kandidierte für die rechtsliberale Bürgerplattform. Seiner Vereidigung als Präsident blieb Kaczynski demonstrativ fern. Aber am Dienstag legte der Wahlverlierer vor dem Holzkreuz unter reger Anteilnahme der Medien einen Kranz für die Opfer von Smolensk nieder. Er mobilisiert seine Kohorten für die nächste Schlacht, die Gemeindewahlen im Herbst.
„Die katholische Kirche hat in der polnischen Geschichte Großes geleistet“, sagt Iwinski, „aber im modernen Polen hat sie ihre Rolle noch nicht gefunden.“ Als nach der dritten polnischen Teilung (1795) Polen für mehr als hundert Jahre von der politischen Landkarte verschwand, wurde die Kirche zum wichtigsten Träger der polnischen Sprache und Kultur. Sie verkörperte die polnische Nation, die keinen Staat mehr hatte. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund erklärt sich auch ihre Bedeutung im Widerstand gegen die kommunistische Herrschaft, die in Polen mehr als in den übrigen Staaten des Ostblocks als Fremdherrschaft erfahren und begriffen wurde. Es fällt der Kirche nun offenbar schwer, meint Iwinski, unter demokratischen Verhältnissen die Trennung von Staat und Kirche zu akzeptieren. „Die polnische Kirche ist die konservativste in ganz Europa“, schließt der Professor seine Ausführungen, „aber es wächst eine Generation heran, die sich die Einmischung des Klerus in staatliche Angelegenheiten verbietet.“
Die Vorhut dieser Generation hat – auf den Appell Taras’ hin – unter dem Slogan „Das Kreuz gehört in die Kirche“ gegen die Kreuzritter demonstriert. Verlierer des Kulturkampfs sind vorerst Staat und Kirche. Aus der Auseinandersetzung gehen sie angeschlagen hervor. Sie hatten sich geeinigt, das Holzkreuz am 3. August in die Sankt-Anna-Kirche zu überführen, wo es in der Katyn-Kapelle aufgestellt werden sollte. In der Kapelle wird der 22.000 ermordeten polnischen Offiziere und Intellektuellen gedacht, die Truppen des sowjetischen Innenministeriums im Frühjahr 1940 in einem Wald bei Katyn ermordeten. Zu deren Gedenken wollten Lech Kaczynski und sein prominenter Tross nach Katyn reisen, als sie bei Smolensk abstürzten. Eine vernünftige Entscheidung also, das Kreuz in der Kapelle aufzustellen – doch scheiterten Staat und Kirche an deren Durchsetzung. Sie kuschten vor einer überschaubaren Gruppe von Kreuzrittern.
Vorgestern, wenige Stunden nachdem auf Anweisung des Präsidenten die Plakette angebracht worden war, nahm auch der Klerus einen neuen Anlauf. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz appellierten der Warschauer Erzbischof Kazimierz Nyez und der Generalsekretär der polnischen Bischofskonferenz Stanislaw Budzik an die Politiker, das Kreuz nicht weiter als Mittel der politischen Auseinandersetzung zu missbrauchen. Und sie forderten die Gläubigen, die am Holzkreuz beten und es bewachen, dazu auf, dessen Überführung in die Kapelle nicht im Weg zu stehen.
Die Intervention des hohen Klerus hat sich unter den Kreuzrittern zum Spaltpilz entwickelt. Der Wille der Bischöfe sei zu respektieren, meinen die einen. „Ein Priester oder ein Bischof macht nicht die ganze Kirche aus“, sagt Joanna Burzynska, die „Märtyrerin“. Am Morgen erinnern die Bewacher des Holzkreuzes ein wenig an Penner und Obdachlose. Sie sitzen vor Kleiderhaufen, schlürfen aus Pappbechern, verstecken die müden Gesichter unter Schirmmützen. Zwischen Tüten und Taschen liegen Essensreste. Nur die Plakate hinter der verschlafenen Gruppe zeugen vom Widerstand. „Polen – wach auf!“, heißt es auf einem. „Der Sieg über die Sünde beginnt mit dem Kreuz“, verkündet ein anderes. „Katyn geht weiter“, behauptet ein drittes, das die 96 Porträts der Opfer von Smolensk zeigt. Die Botschaft ist eindeutig: Wieder sind die Russen am Tod von Polen schuld. Es kursiert unter den Kreuzrittern eine abstruse Verschwörungstheorie: Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk und sein russischer Amtsbruder Vladimir Putin sollen ein Komplott zur Eliminierung der nationalen Elite Polens geschmiedet haben.
„Wir werden das Kreuz weiter bewachen“, sagt Dariusz Komorowski, Mitglied der Kreuzbewacher-Initiative, „wir wollen ein Denkmal, keine Plakette. Wir fordern eine unabhängige internationale Untersuchung der Katastrophe von Smolensk. Wir verlangen Polizeischutz für uns rund um die Uhr. Wir wollen beten, ohne bespuckt zu werden.“ Nein, mit dem gleichnamigen neuen Präsidenten sei er nicht verwandt. Eine Schande für Polen sei der. Der habe doch die Jugendlichen organisiert, die unter Anführung von Dominik Taras, dem Koch, die Kreuzwächter verspottet hätten. „Aber nur unter dem Kreuz wird Polen Polen sein und ein Pole ein Pole“, sagt der standhafte Kreuzritter. Seine Sätze wirken trotzig und hilflos zugleich.
Thomas Schmid, „Berliner Zeitung“, 14./15. August 2010
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