TRIPOLIS. Barka Wardiko al-Mahdi erinnert sich noch gut an den Tag, als in seinem Dorf bekannt wurde, König Idris sei von einem jungen Offizier namens Muammar Gaddafi gestürzt worden. Das war 1969, und Barka damals 14 Jahre alt, lebte in Tajarhi, einer Oase im äußersten Süden Libyens. Fernsehen und Rundfunk gab es im Dorf nicht, einmal im Monat vielleicht fuhr ein Auto vor. In Tajarhi, das mitten in der Sahara liegt, endet die Straße, eine Wüstenpiste führt weiter nach Niger. Barkas Eltern waren Halbnomaden. Sie besaßen Schafe, Ziegen und vor allem Kamele. Lesen und schreiben hatten sie nie gelernt.
Die frohe Botschaft von der neuen Herrschaft in Tripolis überbrachten Soldaten. Sie versammelten die örtliche Bevölkerung und verkündeten ihr, nun breche die Freiheit an, das Land werde entwickelt und man sei nun wirklich unabhängig von den Italienern, den alten Kolonialherren, und den Amerikanern, die in ihre Fußstapfen getreten seien. Die Alten waren misstrauisch. Immerhin war der König jedes Jahr einmal bei ihnen erschienen. Man hatte ihn jedes Mal reichlich beschenkt, um die Ergebenheit und Treue unter Beweis zu stellen.
Seine Geschichte erzählt Barka Wardiko – auf französisch – in einem kleinen Hotel von Tripolis. Er ist in Kampfuniform gekleidet. Um den Kopf gewickelt trägt er den rotweißen Turban der Tubu. Das Holzbein nimmt man nicht wahr, so sicher ist sein Schritt. Die Tubu sind eine Volksgruppe, die über Libyen, Niger und den Tschad verstreut lebt. In Libyen gibt es vielleicht 300.000 Tubu. Sie sprechen ihre eigene nicht-arabische Sahara-Sprache. Sie sind schwarzer Hautfarbe und deshalb – wie auch die zahlreichen Immigranten, die aus Ländern der Sahelzone nach Libyen eingewandert sind– oft Opfer rassistischer Diskriminierung.
Das Holzbein hat Barka Wardiko dem Krieg zu verdanken, nicht dem Krieg, der mit dem Tod Gaddafis nun zu Ende ging, sondern dem Krieg, den Gaddafi gegen den benachbarten Tschad führte. Barka Wardiko war Soldat. Während der Küstenstreifen Libyens relativ reich ist, herrscht im Süden, in der Wüste, weitgehend Armut. Als Soldat hatte man da wenigstens ein sicheres Einkommen. „Dass ich eines Tages in den Krieg ziehen müsste“, sagt Barka Wardiko, „daran habe ich gar nie ernsthaft gedacht. Aber da befand ich mich plötzlich an der Front.“ Sieben Jahre, 1981 bis 1988, kämpfte er im Tschad. Dann trat er auf eine Mine. Sein Fuß war zerfetzt. Er wurde nach Italien ausgeflogen, von dort nach Paris gebracht, wo man ihm den Unterschenkel amputierte. Zehn Monate war verbrachte er in Frankreich in verschiedenen Rehabilitierungszentren. Nun hat er ein Holzbein und kann französisch.
„Einen mit einem Holzbein konnte man in der Armee nicht mehr brauchen“, sagt Barka Wardiko, klopft auf sein Hosenbein und lacht über den dumpfen Klang der Prothese, mit der er schon längst nicht mehr auf Kriegsfuß steht, „also bin ich in mein Dorf zurück und habe mich als Händler durchs Leben geschlagen.“ Einige Jahre lang brachte er Datteln, Stoffe und Mehl über die Grenze in den bitterarmen Niger, und von dort führte er Kamele, Dromedare und Schafe in seine Heimat ein. In Libyen hatte er keine Probleme, aber im Niger litten die Tubu unter dem Regime von Mohamed Osman. Es entstand die FARS, eine bewaffnete Widerstandsgruppe, und 1994, als Barka Wardiko geschäftlich gerade wieder einmal im Niger zu tun hatte, wurde er wegen Unterstützung der örtlichen Tubu-Rebellen festgenommen.
38 Tage lang saß er in einem Gefängnis in Agadez, der größten Stadt im Norden des Niger. Immer wieder wurde er geschlagen – meistens mit Stöcken, bis FARS-Kämpfer die Wärter bestachen und ihn befreiten. „Danach baten sie mich, ihnen bei ihrer Auseinandersetzung mit ihrem Oberkommandanten zu helfen und selbst die Führung zu übernehmen“, berichtet Barka Wardiko, „und so wurde ich, der Libyer, Chef der FARS, einer Truppe, die ausschließlich im Niger operierte.“ Aber für einen Tubu sind die Staatsgrenzen, die ihr Siedlungsgebiet durchschneiden, unwichtig, zumal sie hier ohnehin durch die Wüste verlaufen.
Die ersten Emissäre Gaddafis kamen 1995 über die Grenze nach Zouzoudinga, um Barka Wardiko aufzusuchen. Es waren Geheimdienstler. Sie bahnten den Kontakt an. „Schon bald schickte uns Gaddafi Geld und Jeeps“, sagt Barka Wardiko. 1996 folgte der FARS-Chef einer Einladung nach Tripolis. In Bab al-Asisia, dem ummauerten und hoch geschützten Kommando- und Kasernenkomplex, empfing ihn Gaddafi höchstpersönlich in seiner Privatresidenz. „Ich hatte einen guten Eindruck von ihm“, gesteht Barka Wardiko, „er äußerte seine Sympathie für die Tubu und seine Zuneigung zu unserem Stämmen.“ Gaddafi hatte ein besonderes Anliegen. In Niger hatte die FARS einige Ingenieure, unter ihnen ein Kanadier, entführt. „Wir haben sie von einer kriminellen Organisation übernommen“, behauptet Barka Wardiko, „und Gaddafi bat uns, die Geiseln nicht freizulassen.“ Der libysche Machthaber, mit Nigers Präsident Osman im Clinch, habe sich offenbar die Option offenhalten wollen, die Freilassung zu einem späteren Zeitpunkt selbst zu vermitteln.
1996 wurde Osman von der Macht geputscht. Gaddafi fand in seinem Nachfolger Ibrahim Barré Mainasara einen Partner, und die FARS wurde ein Störfaktor. Im Jahr 2000 wurde Barka Wardiko erneut gebeten, nach Tripolis zu kommen. Gaddafi behauptete nun, seine Truppe würde Niger und auch dem Tschad, mit dem er sich inzwischen versöhnt hatte, Probleme bereiten. „Ich ging ins Hotel zurück“, sagt Barka Wardiko, „und dort ließ mich Mussa Kussa persönlich verhaften. Kussa war damals Geheimdienstchef. Bei Ausbruch der Revolte im vergangenen Februar war er Außenminister. Schon im März setzte er sich ins Ausland ab.
Zehn Jahre verbrachte Barka Wardiko im Gefängnis. Einen Richter hat er nie gesehen, einen Prozess gab es nie und auch kein Urteil. Als auf Druck der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch die Stiftung von Seif al-Islam Gaddafi, dem zweitältesten Sohn des Herrschers, die Freilassung von Gefangenen vermittelte, suchte seine Frau einen Anwalt auf. „Sie stellte einen Antrag und im April des vergangenen Jahres war ich überraschend frei“, erzählt Barka Wardiko. Für die zehn Jahre Haft wurde ihm am 20. Januar sogar eine Entschädigung in Höhe von 850.000 Dinar – umgerechnet 500.000 Euro – zugesprochen.
Vom Geld hat er keinen einzigen Dinar gesehen. Denn im Februar brach in Bengasi die Revolte aus. Die Tubu schlossen sich ihr früh an. Im Juni formierten sie ihr erstes bewaffnetes Bataillon, das zum Teil aus desertierten Soldaten bestand. Barka Wardiko wurde Militärchef der Tubu. Heute kommandiert er nach eigener Aussage 2.800 Soldaten. Etwa 30 seien im Krieg gefallen. Die letzten Kämpfe mit den Truppen Gaddafis lägen gerade zehn Tage zurück. Nun ist er zusammen mit einigen Mitstreitern nach Tripolis gekommen, um sich mit den militärischen und politischen Führern der siegreichen Aufstandsbewegung zu beraten.
Und was will einer mit einer solchen Vergangenheit jetzt machen, wo der Krieg zu Ende ist? Barka Wardiko lacht, schweigt, lacht und schließlich sagt er: „Ich werde die Waffen niederlegen, vielleicht wieder Händler werden.“ Jedenfalls will er ins Zivilleben zurückkehren, auch zu seiner Familie, zu seinen zwei Frauen und den 16 Kindern.
© Berliner Zeitung (unredigierte Fassung, die publizierte mag geringfügig von dieser Fassung abweichen)
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 24.10.2011