GENF. Als Napoleon Bonaparte wieder einmal in Geldnöten war, traf er sich 1803 in Genf mit Henri Hentsch. Der frühere Seidenhändler, Sohn eines preußischen Hauslehrers, hatte sieben Jahre zuvor in der Rhonestadt eine Bank eröffnet. Napoleon hatte gerade den Piemont seinem Reich einverleibt. Und nun musste er die dortige Besatzungstruppe bezahlen. „Ich bin nicht so verrückt, Ihnen das Geld zu leihen, Sire“, sagte der Bankier dem acht Jahre jüngeren Besucher, der schon im Folgejahr in der Pariser Kathedrale Notre Dame sich selbst zum Kaiser krönen sollte, „aber wenn Sie diesen verrückten Mann finden, will ich gerne Zahlmeister Ihrer Truppe sein.“ Napoleon fand einen Bankier oder einen Unternehmer, der ihm Geld lieh, und Hentsch verwaltete es und schickte jede Woche einen Karren mit dem Sold über den Großen Sankt Bernhard hinunter in den Piemont.
„Mein Ururururgroßvater hat damals die Vermögensverwaltung erfunden“, sagt Bénédict Hentsch, der die Geschichte über seinen illustren
Vorfahren erzählt, „er war der erste Treuhänder.“ Hentsch, geboren 1948, ist Bankier in siebter Generation. Er empfängt in einem modernen, lichtdurchfluteten Büro, in dem als einziger Schmuck ein abstraktes Gemälde hängt. Die Glasfassade gibt den Blick auf die größte Baustelle Genfs frei, von der noch die Rede sein wird. Hentsch steht kurz vor dem Rentenalter, wirkt aber deutlich jünger. Er strahlt Erfolg aus, auch wenn ihm Niederlagen in seiner kurvenreichen Karriere nicht erspart geblieben sind. Neben seiner französischen Muttersprache redet er mühelos in vier weiteren Sprachen: in Englisch, Portugiesisch, Spanisch und Deutsch – und auch den kehligen Dialekt der Deutsch-Schweizer beherrscht er erstaunlich gut.
Genf ist der zweitwichtigste Bankenplatz der Schweiz. In Zürich sind die beiden Großbanken UBS und Credit Suisse angesiedelt und zahlreiche weitere Geschäftsbanken, die sich in allen Sparten des Finanzgeschäfts tummeln und auch die Gelder von Kleinsparern gern annehmen. Die UBS allein hat ungefähr eine Million Kunden. Genf hingegen ist vorwiegend Platz gediegener Privatbankiers, die große Vermögen verwalten. Klein, aber fein, ist die Devise. Die Banque Bénédict Hentsch verwaltet vermutlich eine Milliarde Franken. Aber was ist das schon angesichts der 2700 Milliarden an ausländischen Vermögen, die Angaben der Schweizer Bankiervereinigung zufolge Ende 2011 in Schweizer Tresoren lagerten?
Das Recht des Stärkeren
Dass da vieles am Wohnort des Kontoinhabers nicht korrekt versteuert ist, bestreitet Hentsch gar nicht. Aber er hat es nie als seine Aufgabe betrachtet, dem nachzuspüren, sich bei seinen Kunden rückzuversichern, ob sie ihrem Steueramt auch alles brav deklariert haben. „Ich bin doch nicht die Polizei“, stellt der Bankier klar – und hält es also so wie alle Schweizer Bankiers. Gegen die Gesetze hat er dabei gewiss nicht verstoßen. Das Bankgeheimnis, das 1934 gesetzlich verankert wurde, verbietet ihm sogar, Daten seiner Kunden an ausländische Steuerbehörden herauszurücken. Täte er es, würde er sich strafbar machen.
Soll was 70 Jahre lang rechtens war, nun plötzlich Unrecht sein? Die Europäische Union findet das. Sie will die Schweiz und andere Kleinstaaten zwingen, Steuerschlupflöcher zu schließen und den automatischen Austausch von Steuerdaten zu akzeptieren. „Unter dem Druck der wirtschaftlichen Misere“, sagt Hentsch lakonisch. Nicht zu Unrecht. Aber falsch muss es ja deswegen nicht sein. Wie auch immer: Um in den USA Geldstrafen in Milliardenhöhe wegen Beihilfe zur Steuerflucht zu entgehen, bat die UBS 2009 die Schweizer Regierung, die Daten amerikanischer Steuerflüchtlinge an die US-Steuerbehörde verraten zu dürfen, in ihrem Fall also das Bankgeheimnis aufzuheben. Die Regierung gab dem Begehren der UBS nach, und die Bank lieferte.
„Die USA sind der einzige Staat, der nicht den Wohnort als Kriterium der Besteuerung hat, sondern die Nationalität“, sagt Hentsch, „die USA besteuern jeden US-Bürger, egal, wo er lebt. Nach Schweizer Gesetz aber ist der US-Kunde vom Bankgeheimnis geschützt. Da prallten zwei Rechtssysteme aufeinander. Hinter dem amerikanischen steht eben die größere Macht. Das schweizerische Rechtssystem wurde beiseitegeschoben.“ Und dann fügt er – ins Französische fallend – resigniert hinzu, was der französische Schriftsteller Jean de La Fontaine schon im 17. Jahrhundert festgestellt hat: „La raison du plus fort est toujours la meilleure“ („Des Stärkeren Recht ist stets das beste Recht gewesen“).
Wird der Genfer Privatbankier von seinen ausländischen Kunden künftig eidesstattliche Versicherungen fordern, dass sie alle Gelder, die sie ihm anvertrauen, bei ihrer Steuerbehörde deklariert haben? Wird er sich gar die Steuererklärung vorlegen lassen? Und wird er diese dann auch noch nachprüfen? Aber wie? Oder wird er die Verwaltung amerikanischer Guthaben vorsichtshalber zurückweisen? „Was amerikanische Kunden betrifft, war es immer Politik unseres Hauses, sie abzuweisen, und nie, ihnen den Schutz des Bankgeheimnis anzubieten“, sagt Hentsch mit erregter Stimme, „ich finde es unerträglich, dass wir nun an den Pranger gestellt werden, als ob wir rechtswidrig gehandelt hätten. Ich habe überhaupt kein schlechtes Gewissen. Ich lasse mir da nichts in die Schuhe schieben.“ Hentsch wirkt kontrolliert, selbst wenn er sich angegriffen fühlt.
Über zwei Jahrhunderte Bankengeschichte spiegeln sich in der Familie Hentsch. Die Schweiz ist in dieser Zeit von einem der ärmsten Länder Europas zu einem der reichsten des Kontinents aufgestiegen – nicht nur, aber auch wegen ihrer Banken, wegen des Bankgeheimnisses. Dieses geriet schon früher unter Beschuss, weil es Diktatoren wie Mobutu und Duvalier alias „Baby Doc“ half, ihre illegal erworbenen Reichtümer, gigantische Geldsummen, zu verstecken. Jetzt aber geht es um in der Regel legal erworbene Vermögen. Ein ganzes Geschäftsmodell steht zur Disposition.
Ist es mit der Moral zu vereinbaren, dass in der Schweiz Milliarden unversteuerter Gelder deutscher Bürger liegen, die dem deutschen Fiskus entzogen werden? „Jetzt sagt man also, es sei zwar legal, aber unmoralisch“, ereifert sich Hentsch. Aber wer entscheidet, was moralisch oder unmoralisch ist? Meine Erziehung brachte mich dazu, gewisse Sachen zu machen und andere zu lassen. Aber ich muss mich natürlich im gesetzlichen Rahmen bewegen. Und der wird in der Schweiz letztlich vom Volk festgelegt.“
Auf die Tradition der direkten Demokratie mit ihren häufigen Volksabstimmungen ist Hentsch stolz. Doch ein Nationalist ist er gewiss nicht. Sein Horizont sind nicht die Schweizer Berge. Er denkt in globalen Kategorien, spricht von „trader“, „fact finding trip“, „networking“ und „level playing field“ und ist in vielen Welten zu Hause.
Ein Trauma aller Schweizer
Hentsch schloss ein Studium in der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Sankt Gallen ab, wie die heutige Universität und Kaderschmiede für künftige Manager damals hieß. Sein Handwerk lernte er in Sao Paulo. Zehn Jahre lang war er Repräsentant der JP Morgan, der größten US-Bank in Brasilien. „Ich hatte das Privileg, für die beste Bank der Welt zu arbeiten“, sagt er im Rückblick.
Doch eines Tages kam der Vater nach Brasilien und bat ihn, seine Nachfolge in der Genfer Bank anzutreten. Hat er dem Sohn die Pistole auf die Brust gesetzt? „Nein, das gewiss nicht“, sagt der Bankier lachend, „aber es war klar, dass er sonst seine Anteile an den Partner hätte zurückverkaufen müssen.“ Der Abschied von Sao Paulo, wo er eine Brasilianerin geheiratet hat und wo seine drei Kinder geboren sind, fiel Hentsch schwer, zumal er ein attraktives Angebot hatte: JP Morgan bot ihm eine Top-Position in London an. „Doch ich fühlte mich in der Verantwortung, das Erbe der Familie fortzusetzen.“ Hentsch sagt es ohne jedes Pathos.
Der Karriereknick kam im Herbst 2001. Am 2. Oktober lernten die Schweizer ein neues Wort: Grounding. Die Swissair, der Stolz der Nation, lag buchstäblich am Boden. Keine Maschine mit dem weißen Kreuz auf der roten Heckflosse hob mehr ab. Die Eidgenossenschaft hatte eine Staatsgarantie von einer Milliarde Franken verweigert, die Großbanken hatten den Geldhahn zugedreht, also betankten die Treibstofflieferanten die Flotte nicht mehr. Die Swissair war pleite. „Es war für mich und die ganze Schweiz ein Trauma“, sagt Hentsch, der damals Vizepräsident des Verwaltungsrates der Fluggesellschaft war. Ein schweizerischer Verwaltungsrat entspricht in etwa einem deutschen Aufsichtsrat. Zwei Tage vor dem Grounding, mitten in der Krise, stieg Hentsch als Partner von Darier Hentsch aus seiner Familienbank aus. Ein anderer hätte stattdessen wohl den Verwaltungsrat verlassen. „Aber ich sah es als meine Verantwortung an, dort bis zur Lösung des Falls zu bleiben“, begründet er seine Entscheidung.
Sicher wollte er auch Schaden von seiner Bank abwenden. Denn dieser drohte ein Verlust an Reputation. Gegen Hentsch wurde immerhin wie gegen sämtliche Mitglieder des Verwaltungsrates und der Konzernführung später ein Strafverfahren wegen untreuer Geschäftsführung und Gläubigerschädigung eröffnet. 2007 wurden sie jedoch alle freigesprochen. Als das Schlimmste im Frühling 2002 überstanden war und die Swiss, Nachfolgerin der bankrotten Swissair, Gestalt annahm, verabschiedete sich Hentsch aus dem Verwaltungsrat. Zwei Jahre später stieg er wieder ins Bankgeschäft ein. Doch ging er nicht zur alten Bank zurück, sondern gründete nun seine eigene, die Banque Bénédict Hentsch.
In der lokalen Presse wird Hentsch mitunter als Enfant terrible der Genfer Bankiers bezeichnet. „Klischees“, wehrt Hentsch ab, „vielleicht hat es mit dem Swissair-Debakel zu tun.“ Vielleicht auch, weil er bei einem Hedge Fonds des ehemaligen Chefs der US-Technologie-Börse Nasdaq, Bernard Madoff, der wegen Betrugs in Höhe von 50 Milliarden Dollar zu 150 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, 52 Millionen Franken in den Sand setzte. „Die Hälfte habe ich meinen Kunden persönlich zurückbezahlt“, sagt Hentsch, „ganz im Sinne meines Konzepts Partnerschaft mit den Kunden.“
Trotz alledem meinen die Journalisten, die den Banken selten wohlgesonnen sind, den Ausdruck Enfant terrible eher als Kompliment. Da ist einer, der anders als die andern ist. Keine graue Maus. Eher Paradiesvogel. Einer, der zwar verschwiegen ist, wenn es ums eigene Geschäft geht, wie es sich als seriöser Bankier ja auch gehört, aber ansonsten die Öffentlichkeit nicht scheut. Hentsch hat bei der Gründung von Le Temps, der heute wichtigsten Zeitung der französischen Schweiz, kräftig mitgewirkt. Er war Mitglied der Kommission, die die neue Verfassung des Kantons Genf ausarbeitete, die am 1. Juni in Kraft getreten ist. Und mehrmals ist er im Himalaya auf Berge gestiegen, ein Mal als 49-Jähriger sogar bis auf 7500 Meter Höhe, ohne Sauerstoffgerät.
Ein Leben zwischen Grounding und den höchsten Gipfeln der Welt. Vor allem aber sind da die Niederungen des beruflichen Alltags, des Jobs, die Vermögen der Vermögenden günstig anzulegen. Eine Aufgabe, die schwieriger geworden ist. Die Warntafeln sind aufgestellt. Nachdem die USA mit der Drohung von Strafverfahren das Bankgeheimnis durchlöchert haben, ermittelt nun die Pariser Staatsanwaltschaft gegen die Credit Suisse, zweitgrößte Bank der Eidgenossenschaft, wegen eines verschwundenen Koffers mit Goldbarren im Wert von vermutlich fünf Millionen Euro. Der Finanzplatz Schweiz kämpft um seinen Ruf. Das Bemühen um Diskretion stößt auf die Forderung nach Transparenz.
Torwart und Bankier
Im Bankgeschäft wird es bald neue Regeln geben. Doch Hentsch blickt recht gelassen in die Zukunft. Vielleicht weil er nicht nur Vermögensverwalter ist. Etwa gleich viel Zeit wie die Führung der Bank kostet ihn der Parc Gustave et Léonard Hentsch, so benannt zu Ehren seines Großvaters und seines Vaters. Es ist eines der größten Bauprojekte in Genf, und durch die Fensterfassade seines Büros kann der Bankier den Fortschritt der Arbeiten täglich verfolgen. Gustave Hentsch, der die Bank durch die Fährnisse der Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg steuern musste, war nicht nur an Geld interessiert, sondern auch am Fußball. Er war Torwart und Kapitän des FC Servette. Der Genfer Fußballclub war in den letzten 115 Jahren 17 Mal Schweizer Meister, mehr Titel haben nur die Zürcher Grasshoppers eingefahren.
1920 kaufte Gustave Hentsch in einem Außenviertel von Genf fünf Hektar Land, auf dem er für den FC Servette das Charmilles-Stadion bauen ließ, das 1930 eröffnet wurde und 30000 Zuschauern Platz bot. Als vor zehn Jahren in einem Vorort ein neues Stadion eingeweiht wurde, war das alte, immer noch im Besitz der Familie Hentsch, überflüssig. Der Bankier kaufte sich das benachbarte Gelände einer Firma, die pleitegegangen war, hinzu. Und auf dem riesigen Areal entsteht nun ein grüner Park mit Kongresszentrum und 250 Appartements, darunter die Hälfte Sozialwohnungen. Und hier hat auch die Banque Bénédict Hentsch ihren Sitz – nicht im noblen Bankenviertel im Stadtzentrum, da wo die Rhone den Genfersee verlässt, sondern in einem ehemaligen Industrie- und Arbeiterviertel.
In diesem Jahr wird Hentsch das Rentenalter erreichen. Doch ein so umtriebiger Mann wie er hört nicht einfach auf. Und trotzdem wird er sich fragen, was aus seiner Bank wird. Hentsch hat zwei Töchter und einen Sohn. Alle drei leben in London. Die eine Tochter führt ein Geschäft für Herrenmode, die andere ist Lehrerin einer Montessori-Schule. Der Sohn arbeitet bei JP Morgan. Wird auch er seinen Job bei der größten US-Bank aufgeben und nach Genf zurückkehren, um in die Fußstapfen des Vaters zu treten, und die achte Generation Hentsch in Genf begründen? „Es ist zurzeit schwierig abzusehen, wie sich das Geschäft entwickelt“, sagt der Bankier etwas nachdenklich. Der Bankenplatz Schweiz befindet sich in einem gigantischen Umbruch. Bénédict Hentsch ist sich nicht sicher, ob sieben Generationen Tradition und Erfahrung in Vermögensverwaltung genügen, um die Zukunft zu meistern.
© Berliner Zeitung
Diese Fassung weicht geringfügig von der publizierten Fassung ab. In dieser lautete der letzte Satz sdritten Absatz: „Aber was ist das schon angesichts der 2 700 Milliarden an ausländischen Vermögen, die Angaben der Schweizer Bankiervereinigung zufolge Ende 2011, Experten zufolge zu 80 Prozent unversteuert, in Schweizer Tresoren lagerten?“ Den Beisatz „Experten zufolge zu 80 Prozent“ habe ich nun gestrichen. Ich hatte mich dabei auf den Finanzdienstleister Elvea berufen, der laut „Spiegel“ (Nr. 39/2012) schätzt, dass zum genannten Zeitpunkt 80 Prozent unversteuert waren. Auf Anfrage wollte Elvea dazu nicht Stellung nehmen mit der Begründung, dass der Autor der Studie nicht mehr bei Elvea beschäftigt sei. Im übrigen gehen Experten davon aus, dass im Jahr 2012 – aufgrund der von ausländischen Behörden gekauften CDs mit Steuerdaten und aufrund der zunehmenden Infragestellung des Bankgeheimnisses sehr viele Bankkunden ihre Vermögen nachträglich deklariert haben, sodass davon auszugehen ist, dass Mitte 2013 höchstens noch ein Drittel der in der Schweiz liegenden Auslandsvermögen nicht deklariert sind.
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 18.06.2013