Jovan Divjak an der früheren Frontlinie über Sarajevo

JOVAN DIVJAK – Der Retter von Sarajevo

WIEN. Täglich streunt er durch die Stadt, flaniert entlang der Donau oder durch die weitläufige Parkanlage hinter dem Schloss Schönbrunn. Manchmal unternimmt er auch Ausflüge in den Wienerwald oder geht zum Heurigen in ein nah gelegenes Dorf. Jovan Divjak hat nichts zu tun. Er wartet. Seit über vier Monaten schon. Er wartet auf eine Entscheidung der österreichischen Justiz, ob er nach Serbien oder Bosnien ausgeliefert wird. Oder ob er seinen Pass zurückerhält und das Land wieder verlassen darf, in das er gar nicht einreisen wollte. Der ehemalige Vizekommandant der bosnischen Armee war auf der Durchreise nach Bologna, wo er vor Gymnasiasten einen Vortrag über die Kriegsverbrechen auf dem Balkan halten sollte, als er am 3. März auf dem Flughafen Wien-Schwechat festgenommen wurde – aufgrund eines Haftbefehls aus Serbien, das ihm Kriegsverbrechen zur Last legt. Nach fünf Tagen kam er gegen eine Kaution in Höhe von 500000 Euro auf freien Fuß, musste aber geloben, die Grenzen Österreichs nicht zu überschreiten.
Der 74-jährige Ex-General ist putzmunter. Zum Treffen in einem Hotel kommt er in Baggy-Jeans und mit offenem Hemdkragen, Typ rüstiger Rentner. Schlohweißes Haar, hellwacher Blick. Sein Französisch ist fließend, aber für alle Fälle hat er ein Wörterbuch mitgebracht. Er wird es während des dreistündigen Gespräches ein einziges Mal konsultieren. Seine missliche Lage nimmt Divjak recht gelassen hin. „Ich bin unschuldig“, sagt er, „und das Gericht weiß es. Mit meiner Festnahme haben sie einen Fehler gemacht, und jetzt suchen sie halt nach einem Weg, da wieder herauszukommen.“

Mörser aus dem Museum

Seit dem Ende des bosnischen Krieges, seit 1995, war Divjak in vielen Ländern unterwegs: in Frankreich, Schweden, Marokko, auch in Slowenien und Kroatien. In Frankreich, wo Divjak im Jahr 2001 den höchsten Orden der Ehrenlegion erhalten hat, appellierten vor zwei Wochen sechzig Intellektuelle, Politiker und Künstler – unter ihnen der Ex-Premier Michel Rocard und der Filmemacher Jean-Luc Godard – an den Präsidenten des Europäischen Parlaments, sich für den Mann einzusetzen, der „für den Frieden und ein multiethnisches Bosnien-Herzegowina“ gekämpft habe. In Sarajevo gingen nach der Festnahme Divjaks Tausende auf die Straße, um seine Freilassung zu fordern. Für viele bosnische Muslime ist der Ex-General ein Held. Für die Serben aber ist er ein Verräter. Denn Jovan Divjak ist Serbe und hat das belagerte Sarajevo verteidigt – gegen die Serben, die die Stadt über drei Jahre lang von den umliegenden Hügeln beschossen.

„Ich habe meine Stadt verteidigt“, sagt Jovan Divjak, der in Belgrad geboren wurde und seit 45 Jahren in Sarajevo lebt, „und ich habe immer für das Zusammenleben von Muslimen, Kroaten und Serben gekämpft und gegen jene, die die Völker trennen wollten.“ Militärisch hat Divjak die Schlacht um Sarajevo gewonnen. Den Soldaten der bosnisch-serbischen Armee unter Ratko Mladic, dem vor zwei Monaten in Serbien gefassten „Schlächter von Srebrenica“, ist es nie gelungen, die Stadt einzunehmen. Aber gewissermaßen hat Divjak doch verloren. „Vor dem Krieg bestand die Bevölkerung Sarajevos zu rund 50 Prozent aus Muslimen, zu 30 Prozent aus Serben und zu 20 Prozent aus Kroaten und anderen“, sagt er, „heute sind es über 90 Prozent Muslime und eine winzige serbische Minderheit.“ Das multiethnische Sarajevo, das er liebte und für das er kämpfte, gibt es nicht mehr.

Mit Soldaten kam Divjak schon in frühester Kindheit in Kontakt. Sein Vater kämpfte bei Titos Partisanen gegen die Truppen der Wehrmacht. Als der kleine Jovan ihn einmal in seinem Versteck in einem Weinberg besuchte, entwischte er nur knapp den deutschen Soldaten. Doch ihn selbst zog es nicht zur Armee. Eigentlich wollte Divjak Psychologie studieren. Aber das bescheidene Budget der Familie ließ ein Universitätsstudium nicht zu, und so besuchte er auf Druck der Mutter hin 1956 die Kadettenschule, die nichts kostete. 1959 trat er in die Armee ein. Von 1966 bis 1984 dozierte er an der Militärakademie. Als Oberst verließ er die Armee und wechselte zur Territorialverteidigung, die Tito unter dem Eindruck der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 geschaffen hatte. Sie existierte in allen Gemeinden und sollte im Notfall das Gebiet bis zum Eintreffen der Armee militärisch verteidigen. Divjak wurde Kommandant der Territorialverteidigung der Region Sarajevo. Doch Ende 1991 hatte er einen Konflikt mit seinen Vorgesetzten. Er wurde abgesetzt.

Am 2. März 1992 erklärte Bosnien-Herzegowina seinen Austritt aus dem jugoslawischen Staatsverband und seine Unabhängigkeit. Am 6. April schossen Heckenschützen aus dem Hotel Holiday Inn, wo der Serbenführer Radovan Karadzic sein Hauptquartier hatte, in eine Menge von über 50000 Menschen, die in Sarajevo für Frieden demonstrierten. Zwei junge Frauen wurden getötet. Damit war der Krieg endgültig auch in Sarajevo angekommen.

Am 8. April verfügte Alija Izetbegovic den Neuaufbau der zusammengebrochenen Territorialverteidigung. Dem muslimischen Präsidenten Bosnien-Herzegowinas lag an der Aufrechterhaltung eines multiethnischen Staates. Und so wurde der Serbe Divjak Stellvertreter des muslimischen Armeechefs. Der dritte Mann war ein Kroate. Faktisch aber war es Divjak, der nun die Verteidigung der Stadt organisierte. Die Soldaten der jugoslawischen Armee, die eine serbische geworden war, hatten bereits die Hügel oberhalb Sarajevos besetzt und ihre schwere Artillerie in Stellung gebracht. Die Stadt war belagert. „Wir hatten zu Beginn nur leichte Waffen und nur einen einzigen Panzer, ein halbes Dutzend Granaten, sechs Raketenwerfer, viertausend Gewehre und vier Maschinengewehre“, schreibt Divjak in seinem Buch „Sarajevo, mon amour“, „die Mörser holten wir aus dem Museum von Sarajevo.“ Fast täglich ging er selber an die Front oberhalb der Stadt, was ihn bei seinen Truppen, von denen nur jeder Dritte eine Waffe hatte, ungeheuer beliebt machte. Drei Jahre lang trotzten Divjaks Männer den Soldaten Ratko Mladics, der Mitte Mai 1992 das Kommando über die Truppen der bosnischen Serben übernahm. Rund 10000 Menschen, unter ihnen 1600 Kinder, fielen der Belagerung Sarajevos zum Opfer.

Divjak hat sich oft mit Mladic getroffen, der sich nun wegen des Massakers von Srebrenica mit über 8000 Toten vor dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag verantworten muss. Man verhandelte am Flughafen von Sarajevo, wo Blauhelme der Vereinten Nationen stationiert waren, über Waffenstillstände oder Lebensmitteltransporte in die belagerte Stadt. „Immer, wenn wir ankamen“, erinnert sich Divjak, „zeigte Mladic mit dem Finger auf mich und schrie: ,Ich werde mit keiner muslimischen Delegation verhandeln, der ein Verräter des serbischen Volkes angehört!‘ Dann hat er uns befohlen, die Kapitulation Sarajevos zu unterschreiben, was wir kategorisch ablehnten. Es war ein Spiel, ein Ritual. Und wenn es absolviert war, konnten die Verhandlungen beginnen.“ Mladic sei besessen gewesen von der Eroberung Sarajevos, sagt Divjak, und er habe immer wieder angekündigt, auf einem weißen Pferd in die Stadt einzureiten.

All dies ist bald zwanzig Jahre her. Doch Jovan Divjak erinnert sich an jedes Detail. Und auch die Ereignisse jenes Tages, an dem sich abspielte, was ihm einen serbischen Haftbefehl und den Zwangsaufenthalt in Wien einbrockte, kann er wie eine Filmspule abrollen. Es war am 3. Mai 1992. Seit einem Monat herrschte Krieg . Unten in der Kaserne im Stadtzentrum von Sarajevo waren noch die von General Milutin Kukanjac befehligten Soldaten der jugoslawischen Armee stationiert, die für die serbische Seite kämpften. Am 2. Mai hatten die serbischen Soldaten die Stadt von den Hügeln aus mit schwerer Artillerie beschossen und waren danach in drei Kolonnen heruntermarschiert, Richtung Stadtmitte. Bosnische Milizen belagerten die Kaserne und konnten gleichzeitig die anrückenden Serben zurückschlagen. Deren Versuch, Sarajevo zu erobern, war gescheitert. Am Abend nahmen serbische Soldaten am Flughafen Sarajevo Präsident Izetbegovic fest, der von fehlgeschlagenen Friedensverhandlungen in Lissabon zurückkam.

Das Telefongespräch zwischen General Kukanjac, der in der von Muslimen belagerten Kaserne im Stadtzentrum blockiert war, und Präsident Izetbegovic, der von den Serben in der Kaserne von Lukovica, einem von ihnen kontrollierten Vorort Sarajevos, festgehalten wurde, strahlte das Fernsehen live aus. Die Uno vermittelte schließlich einen Austausch der beiden prominenten Gefangenen. Auch die Soldaten sollten die Stadtkaserne verlassen dürfen. Während des Austauschs, bei dem Divjak zugegen war, wurde der Konvoi der serbischen Soldaten in der Dobrovoljacka-Straße beschossen. Wie viele starben, ist umstritten. Divjak spricht von sieben, andere Quellen sprechen von 19 toten Soldaten, die von serbischer Seite genannte Zahl 42 dürfte aber viel zu hoch sein. Just diese Toten lastet die serbische Staatsanwaltschaft nun Jovan Divjak an. Auch das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag hat bereits wegen der Schießerei in der Dobrovoljacka-Straße ermittelt. Doch befand es 2003, es gebe keine stichhaltigen Beweise, die für eine Schuld des Ex-Generals sprächen. In einem von der BBC ausgestrahlten Film ist deutlich zu erkennen, wie Divjak auf einen Panzerwagen klettert und wie besessen immer wieder schreit: „Ne pucaj!“ – „Schießt nicht!“ – „Es war ein Verbrechen“, sagt er heute im Hotel in Wien, „aber es gab damals bewaffnete Gruppen und Individuen, die wir nicht unter Kontrolle hatten.“ Zweifellos hat auch die bosnische Armee Kriegsverbrechen begangen, und Divjak, ihr ehemaliger Vizekommandant, ist einer der ersten, die das öffentlich gesagt haben.

Eine Auslieferung Divjaks an Serbien sei „undenkbar“, sagte drei Tage nach seiner Festnahme Österreichs Außenminister Michael Spindelegger (ÖVP). Inzwischen hat auch Bosnien-Herzegowina einen Auslieferungsantrag gestellt – offensichtlich, um Divjak aus der Patsche zu helfen. „Nach österreichischem Recht“, sagt er, „müsste ich wohl an das Land ausgeliefert werden, in welchem die angeblichen Verbrechen begangen wurden, also nach Bosnien.“ Das zuständige Landesgericht Korneuburg bei Wien wollte vor einer Entscheidung erst ein Justizabkommen zwischen Serbien und Bosnien-Herzegowina abwarten, das geplatzt ist. Vorgestern gab es auf Anfrage bekannt, man warte noch auf die angeforderte „Staatendokumentation des Bundesasylamts“, aus der hervorgehe, ob Jovan Divjak gegebenenfalls in Serbien ein faires Verfahren zu erwarten hätte.

Bislang ist allerdings nichts bekanntgeworden, was auf die Geschehnisse in der Dobrovojacka-Straße ein neues Licht werfen und auf eine Schuld Divjaks an Kriegsverbrechen hindeuten könnte. Und so rätselt man in Wien darüber, weshalb der Ex-General viereinhalb Monate nach seiner Festnahme das Land noch immer nicht verlassen darf. Will man es sich, aus Rücksichtnahme auf die 80000 Personen starke serbische Gemeinde in Wien, mit Serbien nicht verderben? Hat man Angst, der rechtsradikalen FPÖ in die Hände zu spielen, deren Parteichef Heinz-Christian Strache seit geraumer Zeit dezidiert proserbische Positionen einnimmt, um Wählerstimmen zu ködern? Es ist ein Stochern im Nebel.

Stiftung für die Opfer des Krieges

Divjak nimmt das Ganze erstaunlich gelassen. Am meisten ärgert ihn, dass er in Sarajevo fehlt. Dort hat der frühere General noch während des Krieges die Stiftung „Bildung baut Bosnien-Herzegowina“ gegründet. Sie hat seither über 3700 Kindern Stipendien gegeben. Sie verteilt Schulbücher an bedürftige Familien und organisiert Ferienlager. Vorrangig hilft sie Kindern, die durch den Krieg Halb- oder Vollwaisen wurden, sowie behinderten Jugendlichen und Angehörigen der Roma-Minderheit. „Die Gründung der Stiftung“, sagt der Ex-General, dem man glaubt, dass ihm der Krieg zuwider ist, „war die dritte wesentliche Meilenstein in meinem Leben – nach der Heirat und nach der Entscheidung, als Vizechef der neuen Armee Sarajevo zu verteidigen.“

Etwas hat der Wiener Zwangsaufenthalt dem Serben, der bei den bosnischen Muslimen als „Retter von Sarajevo“ verehrt wird, immerhin gebracht. Jovan Divjak hat sich mit den neuen Kommunikationstechnologien angefreundet. Er hat nun gelernt, SMS zu schreiben, E-Mails zu schicken und im Internet zu surfen. So hat er mit seinen beiden Söhnen regelmäßig Kontakt. Der eine lebt in Kalifornien, der andere in London. Der eine ist mit einer Kroatin, der andere mit einer Muslimin liiert. „Und mit Vera in Sarajevo, mit der ich seit 54 Jahren verheiratet bin“, sagt der Ex-General zum Abschied, „skype ich nun täglich.“


© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 20.07.2011

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