Panthersprung nach Agadir

Das deutsche Kanonenboot „SMS Panther“ war an der ostafrikanischen Küste gegen arabische Sklavenhändler im Einsatz gewesen. Es hatte das Kap der Guten Hoffnung umrundet und befand sich vor Senegal, als sein Kommandant, Korvettenkapitän Behnisch, über Funk Order erhielt, am 1. Juli 1911 in der südmarokkanischen Hafenstadt Agadir vor Anker zu gehen. Mit nur zwei Schnellladekanonen und sechs Revolverkanonen bestückt, wirkte die „Panther“ nicht sonderlich bedrohlich. Allenfalls mochten die neunköpfige Blaskapelle und die Kriegsflagge des Deutschen Reiches Einheimische beeindrucken.

Offiziell wurde der „Panthersprung nach Agadir“, wie die nationalistische Propaganda die Provokation nannte, damit begründet, dass in der südmarokkanischen Stadt deutsches Leben und Eigentum durch aufständische Stämme gefährdet seien. Das Auswärtige Amt entwarf einen „Hilferuf deutscher Firmen“ und setzte darunter bereits zuvor eingesammelte Blanko-Unterschriften. Und da es in Agadir keine deutschen Firmen gab und dort auch kein einziger Deutscher wohnte, hatte man Hermann Wilberg, einen Angestellten der Hamburg-Marokko-Gesellschaft, losgeschickt, „um den gefährdeten Deutschen darzustellen“, wie sich Friedrich Rosen, der deutsche Gesandte in Tanger, ausdrückte. Wilberg traf am 4. Juli in Agadir ein – drei Tage nach dem „Panther“. Einen Tag nach seiner Ankunft gelang es ihm, sich von der kaiserlichen Marine „retten“ zu lassen.

In der Heimat jubelte die konservative Presse. „Hurra!“, schrie es aus der Rheinisch-Westfälischen Zeitung, dem Sprachrohr der in Marokko engagierten Schwerindustrie. „Endlich eine Tat! Eine befreiende Tat, die den Nebel bittersten Missmutes in deutschen Landen zerreißen muss.“ Endlich sei die „volksstärkste Nation Europas“, die sich „auf ein Heer von 500000 Bajonetten stützen“ könne, aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Der sozialdemokratische Vorwärts hingegen fragte besorgt: „Hat sich die Regierung von den Marokkotreibern breitschlagen lassen?“

Die Marokkotreiber – das waren vor allem die Führer des Alldeutschen Verbandes, einer nationalistischen und militaristischen Organisation, die völkisches und antisemitisches Gedankengut pflegte und einer aggressiven deutschen Expansionspolitik das Wort redete. Für Heinrich Claß, 1911 Vorsitzender des Verbands, waren die Deutschen – wie später für Hitler – ein „Volk ohne Raum“. Schon Bernhard von Bülow hatte als Sekretär des Auswärtigen Amtes, wie im Deutschen Reich der Außenminister genannt wurde, mehr deutsche Kolonien gefordert. „Wir wollen niemand in den Schatten stellen“, hatte er in einer Reichstagsdebatte 1897 gesagt, „aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“

1904 verbündeten sich England und Frankreich zur Entente cordiale (herzliches Einverständnis), um ihre Einflusssphären im „Wettlauf um Afrika“ abzustecken. Frankreich ließ England in Ägypten freie Hand und durfte im Gegenzug Marokko als seinen Hinterhof betrachten. Im folgenden Jahr stattete der deutsche Kaiser Wilhelm II. – auf Drängen von Bülows, der inzwischen Reichskanzler geworden war – dem Sultan Abd al-Aziz in Tanger einen Staatsbesuch ab, bezeugte ihm schriftlich seine Anerkennung der Souveränität Marokkos und löste damit die Erste Marokko-Krise aus. Sie wurde 1906 auf einer Konferenz im andalusischen Algeciras beigelegt: Die Unterzeichner der Algeciras-Akte, neben Marokko elf europäische Staaten und die USA, räumten sich nach dem „Prinzip der offenen Tür“ eine generelle Handelsfreiheit ein. Frankreich und Spanien wurde die Verwaltung des Bankwesens sowie der Polizei in den Häfen übertragen. 1909 schlossen Deutschland und Frankreich ein weiteres Abkommen ab, in dem bei Anerkennung der Souveränität Marokkos Frankreich eine politische Vorrangstellung zugestanden und die generelle Handelsfreiheit bekräftigt wurde.

Damit hatte das Deutsche Reich auf politische Ambitionen in Marokko verzichtet, nicht aber der Alldeutsche Verband. Als es im Februar 1911 nahe der nordmarokkanischen Stadt Fès zu Berberaufständen kam, marschierten französische Truppen ein. Frankreich kam damit zwar einem Hilferuf von Sultan Mulay Hafid nach, der seinen Halbbruder drei Jahre zuvor vom Thron gestoßen hatte. Doch es war offensichtlich, dass es den Appell zum Anlass nahm, einen der letzten noch souveränen Staaten Afrikas zu kolonisieren. Für die Deutschen war damit die Algeciras-Akte endgültig obsolet.

Das Auswärtige Amt in Berlin wurde seit 1910 von Staatssekretär Alfred von Kiderlen-Wächter geleitet. Er hatte einst den Herausgeber des Satireblatts „Kladderadatsch“ wegen einer despektierlichen Äußerung zum Duell aufgefordert und ihn an der Schulter verletzt. Das brachte ihm eine Verurteilung zu vier Monaten Festungshaft ein, wovon er jedoch nur zwei Wochen absitzen musste. Seiner Karriere tat dies keinen Abbruch. Der Schwabe galt als geschickter Diplomat. Visionen wurden ihm allerdings nie nachgesagt. Theobald von Bethmann Hollweg, seit 1909 Reichskanzler und außenpolitisch völlig unerfahren, ließ seinen Minister gewähren.

Kiderlen-Wächter wusste, dass Deutschland keine Chance hatte, Teile Marokkos zu annektieren. Just dies forderten aber die Alldeutschen nun immer vehementer, um deutsche Interessen zu sichern. Immerhin hatten die Brüder Mannesmann Konzessionen an der Ausbeutung von Erzvorkommen erworben, und Krupp lieferte dem Sultan Waffen aller Art. Der Centralverband deutscher Industrieller forderte in einer Stellungnahme, dass die marokkanische Frage in einer Art gelöst wird, „wie es der wirtschaftlichen Machtstellung Deutschlands, unserem Anteil am Welthandel und den Aufgaben entspricht, die das Deutsche Reich als politische Großmacht zu erfüllen hat“. Und selbst das linksliberale Berliner Tageblatt fragte sich: „Sollen wir achselzuckend zustimmen, wenn Frankreich auf keuschen Umwegen ganz Marokko an sich bringt?“

Kiderlen-Wächter hoffte, mit dem „Panthersprung nach Agadir“, für den er den Kaiser nur mit viel Überredungskunst gewinnen konnte, die nationalen Aufwallungen dämpfen zu können. Doch regte er mit der Kanonenbootpolitik den Appetit der Alldeutschen erst recht an und löste die Zweite Marokko-Krise aus. Claß verfasste eine Flugschrift mit dem Titel „Westmarokko deutsch!“ Thyssen und andere Industrielle forderten eine Sicherung der Rohstoffversorgung aus Marokko. Auch der Generalstabschef Helmuth von Moltke war für eine militärische Lösung. „Wenn wir aus dieser Affäre wieder mit eingezogenem Schwanz herausschleichen“, schrieb er seiner Frau, „dann verzweifle ich an der Zukunft des Deutschen Reiches. Dann gehe ich.“

England und Frankreich waren alarmiert. Doch Kiderlen-Wächter wollte gar nie marokkanisches Territorium annektieren. Für ihn schaffte der „Panthersprung“ vor allem ein Faustpfand, das er gegen Konzessionen Frankreichs in andern Regionen Afrikas einzulösen gedachte. Die „Panther“ war zwar schon drei Wochen durch den Kreuzer „Berlin“ abgelöst worden. Bis Ende November sollte aber immer ein deutsches Kriegsschiff vor Agadir liegen. Deutschland hatte in Afrika vier Kolonien: Togo, Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), Kamerun und Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Ruanda und Burundi). Sie lagen fernab voneinander. Kiderlen-Wächter schwebte ein geschlossenes deutsches Kolonialreich vom Atlantik bis zum Indischen Ozean vor. So forderte er nun von Paris den gesamten Französischen Kongo, ein Gebiet etwa so groß wie das Deutsche Reich, um diesem Ziel näherzukommen. Man bräuchte dann nur noch den Belgischen Kongo aufzuteilen, und es wäre erreicht.

Bis zum September 1911 drohte die Zweite Marokko-Krise, in einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland zu münden. Paris und London kündigten im August an, je ein Kriegsschiff nach Agadir zu schicken. Kaiser Wilhelm II. war empört und forderte eine „Réparation d’honneur“, denn „hier handelt es sich um eine colossale französische Unverschämtheit …, die ich als eine Ohrfeige empfinde“. Doch schließlich mussten die Deutschen einlenken. England hatte seine Entente cordiale mit Frankreich bekräftigt. Österreich-Ungarn, mit dem Deutschen Reich im Dreibund alliiert, sah im Konflikt um Marokko keinen Bündnisfall. Der sozialdemokratische Widerstand im Land selbst nahm zu. Die Kriegsmarine signalisierte, dass sie für eine Auseinandersetzung noch nicht gerüstet sei. Und in Berlin hoben viele aus Angst vor einem Krieg ihre Guthaben bei den Banken ab. Ein Kurssturz war die Folge, weshalb auch viele Bankiers auf einen Kompromiss drängten.

Während die Alldeutschen noch immer in schrillen Tönen Annexionen forderten – notfalls auf militärischem Weg, bahnten sich politische Verhandlungen an. Am 4. November schließlich wurde der Marokko-Kongo-Vertrag unterzeichnet: Deutschland erkannte die französische Vorherrschaft über Marokko an, das im folgenden Jahr – mit Ausnahme des Mittelmeerstreifens, der unter spanische Herrschaft fiel – französisches Protektorat wurde. Im Gegenzug trat Frankreich einen kleinen Teil seines Kongo an Deutschland ab. Das neu erworbene Gebiet – Neu-Kamerun genannt – grenzte an Kamerun wie an den Belgischen Kongo. Um den Franzosen den Verlust zu versüßen, überließen ihnen die Deutschen die nördlichste Ecke des Kamerun.

Für die Alldeutschen wie auch für weite Kreise der Militärs war das Abkommen eine Schmach. Ihre Träume von einem großen deutschen Kolonialreich in Afrika waren geplatzt. Deutschland hatte seine Interessen auf politischem Weg nicht durchgesetzt. Der Ruf nach einem Krieg wurde lauter, und das Deutsche Reich rüstete auf. Fünf Tage nach der Unterzeichnung des Abkommens, am 9. November 1911, hielt August Bebel, Parteichef der Sozialdemokraten, im Reichstag eine prophetische Rede. „Man wird in Frankreich nicht vergessen, dass ihm mitten im Frieden durch einen Vertrag ein Stück Kolonialland (…) abgeknöpft worden ist“, warnte er, „und die deutschen Chauvinisten werden nicht vergessen, dass ihnen die erhoffte Beute in Marokko entgangen ist. Sie machen England dafür verantwortlich. So wird man eben von allen Seiten rüsten und wieder rüsten (…) Dann kommt die Katastrophe.“ Etwa Zweieinhalb Jahre nach diesen Worten, im Juni 1914, wurde in Sarajevo der Thronfolger Österreich-Ungarns ermordet. Es war der Auslöser für den Ersten Weltkrieg. Deutschland verlor ihn und infolgedessen auch all seine Kolonien.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 02.07.2011

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