PARIS. Aufgewachsen ist Moulay Hicham in einer Diktatur. Da gab es den Herrscher, die Speichellecker und die Masse, die kuschte. Wer aufmuckte, wurde weggesperrt. Es war eine Welt, in der Untertanen vor korrupten Amtsträgern buckelten, eine Welt von Bittstellern und Beamten. Moulay Hicham aber sehnte sich nach Verhältnissen, in denen sich Menschen erhobenen Hauptes als mündige Bürger begegnen. So geht ihm das Herz auf, als er nach langer Abwesenheit nach Marokko, in seine Heimat, zurückkehrt.
Vieles hat sich verändert. Zwar ist er in einer Maschine der Royal Air Maroc gelandet und am Flughafen steht noch überall „Königreich Marokko“, aber der König hat seine Allmacht verloren. Über die Höhe seines Budgets entscheidet nun das Parlament. Einige königliche Paläste sind zu Museen geworden, andere zu Krankenhäusern und Bildungsanstalten. Der Handkuss, früher dem König als Zeichen der Unterwerfung dargeboten, ist eine lächerliche Geste aus vergangenen Zeiten.
Moulay Hicham hat seine Eindrücke des neuen Marokkos in der französischen Fachzeitschrift Pouvoirs festgehalten, die sich mit Politik und Verfassungsfragen befasst. Die Reise findet im Jahr 2018 statt. Sieben Jahre nach dem arabischen Frühling hat in Rabat, Casablanca, Marrakesch und überall im Land die Kreuzkümmel-Revolution, benannt nach dem Gewürz, mit dem die Marokkaner ihre Tajine abschmecken, die alten Verhältnisse hinweggefegt.
Im realen Marokko des Jahres 2013 wurde die Ausgabe der Zeitschrift mit dem brisanten Essay nicht ausgeliefert, da herrschen noch die alten Verhältnisse. Aber der Text wurde zehntausendfach im Internet abgerufen, denn Moulay Hicham ist nicht irgendwer. Er ist der Cousin des Königs von Marokko, das schwarze Schaf der königlichen Familie – oder der „rote Prinz“, wie es in der Presse mitunter heißt. „Aber das ist nur ein stumpfsinniges Klischee denkfauler Journalisten“, wehrt der 49-Jährige ab und ist dabei so höflich, dass sich der Reporter, der vor ihm steht, gar nicht gekränkt fühlt. Prinz nennt er sich allerdings wirklich, der Titel steht ihm als Enkel eines Königs nach marokkanischer Gepflogenheit zu. Und Moulay ist kein Vorname, sondern der religiöse Titel jener, die – wie die Alawiden, die seit 1664 herrschende Königsdynastie Marokkos – ihre Abstammung auf Ali und Fatima, Schwiegersohn und Tochter Mohammeds, zurückführen.
Kindheit im Palast
Zum Treffen hat Moulay Hicham Ben Abdallah El Alaoui, wie er mit vollem Namen heißt, in die Suite eines Pariser Luxushotels geladen. Der Prinz, Dritter in der marokkanischen Thronfolge, kommt in Jeans, Sneakers und offenem Hemd. Seit elf Jahren lebt er in den USA. Er arbeitet sowohl an der kalifornischen Stanford University, wo auch die Moulay Hicham Foundation, seine „Stiftung für sozialwissenschaftliche Forschung über Nordafrika und Nahost“, beheimatet ist, als auch an der Princeton University in New Jersey an der Ostküste, wo seine Frau und die beiden Töchter leben. Er ist auf Durchreise, kommt aus Marokko zurück. Dort war er, um seine Mutter, seine Schwester und seine Neffen zu besuchen, aber auch in humanitärer Mission. Denn Moulay Hicham ist nicht nur Wissenschaftler, er ist auch bei der renommierten internationalen Menschenrechtsvereinigung Human Rights Watch engagiert. Er ist eines von sechs Mitgliedern ihres Beratungskomitees für die arabische Welt.
Seinen nur wenige Monate älteren Cousin, König Mohammed VI., hat der 49-Jährige nicht getroffen. Im Königspalast von Rabat, in dem sie als Kinder täglich spielten und wo sie in die hofeigene Schule gingen, war er seit 1999 nicht mehr. In jenem Jahr starb König Hassan II., Vater des heutigen Monarchen und Onkel von Moulay Hicham. Er hatte jede Opposition gnadenlos verfolgt. In den Gefängnissen stand Folter auf der Tagesordnung. Allein im Wüstenlager Tazmamart starben 35 Personen an Entkräftung. Nach dem Tod Hassans II. sah Moulay Hicham die große Chance einer politischen Umgestaltung Marokkos und sprach mit seinem Cousin darüber: „Ich sagte ihm damals alles, was ich dachte, ich nahm kein Blatt vor den Mund.“ Doch Mohammed VI. ließ zwar die politischen Gefangenen frei, feuerte den Innenminister, löste den Harem seines Vaters auf, in dem neben seiner Mutter auch noch 20 gealterte Konkubinen seines schon 1961 verblichenen Großvaters lebten. Aber seine Macht wollte er nicht beschränken. Eine parlamentarische Monarchie, wie sie Moulay Hicham schon 1995 öffentlich gefordert hatte, lehnte er ab. Auch eine Beschneidung seiner wirtschaftlichen Macht stand für den neuen König nicht zur Debatte. „Schon bald schickte er mir Boten“, berichtet der Prinz, „die mir ausrichteten, ich sei fortan im Palast persona non grata.“
Den mächtigen Cousin hat Moulay Hicham noch zwei Mal getroffen, nach der Geburt seiner Tochter und bei der Hochzeit seines Bruders. „Wir haben Freundlichkeiten ausgetauscht, mehr nicht“, sagt er trocken, „wir leben längst in verschiedenen Welten. 2002 bin ich in die USA ausgewandert und ich beglückwünsche mich jeden Tag zu dieser Entscheidung.“
Vor zwei Jahren schrieb Moulay Hicham seiner Majestät dann doch noch einmal einen Brief. Der Prinz, der auch Besitzer eines Unternehmens für erneuerbare Energien ist, wollte schon 2007 bei Rabat „die erste ökologische Stadt Afrikas“ bauen – mit einer Universität, benannt nach seinem verstorbenen Vater. Der Makhzen, wie in Marokko der vom König abhängige staatlich-bürokratische Machtapparat genannt wird, machte es ihm schwer. Seine Probleme, in Marokko ein Projekt auf die Beine zu stellen, rührten wohl daher, so schrieb er an Mohammed VI., dass Bürokraten glaubten, dem König einen Gefallen zu tun, wenn sie seinem mit ihm angeblich verkrachten Cousin ständig neue Auflagen machten, Bewilligungen verzögerten oder überhaupt nichts täten. Er schloss den Brief mit den Worten: „Auch wenn ich mich im Ausland voll verwirklichen kann, habe ich die Pflicht, Euch zu dienen, aus Treue zu unserer gemeinsamen Kindheit, unserer Familie und der Institution, die Ihr verkörpert.“
Eine Antwort erhielt Hicham Moulay nie. Stattdessen pflanzte ein Jahr später der König höchstpersönlich den ersten Baum einer Grünanlage im Ort Ben Guerir, der die „erste grüne Stadt Afrikas“ werden soll – mit einer Eliteuniversität, die seinen eigenen Namen trägt. „Im Übrigen wurden einfach die Pläne verwendet, die ich bei der Verwaltung eingereicht hatte“, sagt der Prinz lakonisch, „nicht gerade die feine Art.“
Mit dem Königshaus hat Moulay Hicham gebrochen, nicht aber mit der Monarchie. Er ist davon überzeugt, dass eine parlamentarische Monarchie, die die Gewaltenteilung respektiert, für Marokko die beste Lösung wäre. Der König soll – ähnlich wie in Spanien – Staatsoberhaupt sein und die Einheit der Nation repräsentieren. Davon ist Marokko heute weit entfernt. Mohammed VI. ist Präsident des Ministerrates, Präsident des Obersten Rats der Justiz, Präsident des Obersten Sicherheitsrats, Präsident des Obersten Rats der Religionsgelehrten, Oberbefehlshaber der Königlichen Streitkräfte und vor allem Emir, also Befehlshaber, aller Gläubigen.
In Marokko kontrolliert der König alle Gewalten und über eine Holding auch den Großteil der marokkanischen Wirtschaft – so wie in Tunesien vor der Revolte Zine el Abidine Ben Ali Exekutive, Legislative und Judikative beherrschte und sich, zusammen mit dem Clan seiner Ehefrau, die Filetstücke der Wirtschaft gesichert hatte. Der jugendliche Massenprotest schickte Ben Ali in die Wüste, führte zum Sturz des ägyptischen Pharao Husni Mubarak, zu Aufständen in Libyen und zum Bürgerkrieg in Syrien. Mohammed VI. aber überstand die Stürme des arabischen Frühlings unbeschadet. Zweifellos, weil er bei seinem Volk sehr beliebt ist.
Angekratztes Image
Doch wurde das Image des absoluten Herrschers nun zum ersten Mal deutlich angekratzt. Am vergangenen Dienstag begnadigte Mohammed VI. 1044 Häftlinge, unter ihnen einen Spanier, der in Marokko elf Kinder im Alter zwischen vier und fünfzehn Jahren sexuell missbraucht hatte und zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt worden war. In zahlreichen Städten demonstrierten danach Zehntausende. Am Sonntag widerrief der Monarch seine Entscheidung. Das Königshaus sei schlecht informiert worden. Aufsehen erregte weniger die Begründung als der Umstand, dass der König überhaupt etwas begründete.
Es war nicht das erste Mal, dass Mohammed VI. auf den Druck der Straße reagiert. Nach dem Sturz der Potentaten in Tunis und Kairo gingen am 20. Februar 2011 auch in Marokko Zehntausende Jugendliche auf die Straße. Der Protest richtete sich nicht gegen die Monarchie oder gar gegen den Monarchen, die Demonstranten forderten bloß mehr Demokratie und weniger Korruption. In einer seiner seltenen Fernsehansprachen kündigte Mohammed VI. schon zwei Wochen nach den ersten Massenkundgebungen eine Verfassungsreform an.
Weniger als vier Monate später wurde das Volk zu den Urnen gerufen. 98 Prozent stimmten der neuen Verfassung zu – bei einer Wahlbeteiligung von 73 Prozent. „Nicht sonderlich glaubwürdige Resultate“, findet der Prinz. Aber dass die Mehrheit der Marokkaner hinter dem Monarchen steht, bestreitet auch er nicht. Mit der Volksabstimmung ist es dem König gelungen, der „Bewegung des 20. Februar“ Wind aus den Segeln zu nehmen und gleichzeitig sich selbst plebiszitär zu bestätigen.
Doch die Verfassungsreform ist Blendwerk. Seine eigene Macht hat sich Mohammed VI. kaum beschneiden lassen. Immerhin muss der König künftig den Ministerpräsidenten aus den Reihen der stärksten Parlamentsfraktion auswählen. Seit November 2011 hat Marokko deshalb einen islamistischen Ministerpräsidenten: Abdelilah Benkirane, dessen PJD die Wahlen damals klar gewonnen hat. Ihr Chef steht loyal zum König. „Er will den Palast nicht erzürnen“ sagt Moulay Hicham abschätzig, „den Konflikt nicht riskieren.“
Der Monarch aber hat trotzdem ein Interesse daran zu verhindern, dass die Islamisten Erfolg haben. Er will keine starke politische Partei. Er will keinen starken Regierungschef, weil er selbst regieren will. Vor drei Wochen hat der kleine Koalitionspartner seine sechs Minister aus der Regierung abgezogen. Auf Druck des Königs, behaupten böse Zungen. Jedenfalls hat Benkirane im Parlament seine Mehrheit verloren und muss nun bei jenen Parteien Unterstützung betteln, deren Chefs er stets verhöhnt hat. „Er wird den Kelch der Demütigung noch bis zur Neige trinken“, prophezeit der Prinz.
Seine Sympathie für die „Bewegung des 20. Februar“ hat Moulay Hicham nie verhehlt. Er wurde dafür in marokkanischen Medien als Landesverräter beschimpft, es hieß auch, er wolle Mohammed VI. entmachten und sich selbst auf den Thron setzen. „Das alles kratzt mich nicht“, sagt der Prinz mit einer Handbewegung, als ob er eine Fliege verscheuchen wolle. Bei seinen regelmäßigen Aufenthalten in Marokko wird er überwacht, sein Telefon abgehört. Vielleicht weil sein Cousin es anordnet, vielleicht, weil Hofschranzen in vorauseilendem Gehorsam dafür sorgen. „Ich habe mich daran gewöhnt“, sagt Moulay Hicham, „ich lasse mich nicht einschüchtern.“
Von der „Bewegung des 20. Februar“ ist der Prinz enttäuscht, „Sie hat es nicht verstanden, sich Strukturen zu geben, Führungsfiguren hervorzubringen und klare Ziele zu formulieren“, sagt er. Der Protest hat sich erschöpft, der islamistische Regierungschef hat im Parlament keine Mehrheit mehr. Und der König scheint fester im Sattel zu sitzen denn je. Von einer Kreuzkümmel-Revolution keine Spur. Aber es sind noch fünf Jahre hin bis 2018. Und wer hätte 2010 gedacht, dass ein Jahr später Ben Ali und Mubarak entmachtet sein würden?
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 06.08.2013