NIKOLAI MAKAROW – Der Herr der Kakerlaken

Berlin-Wedding, zweiter Hinterhof, Fabriketage, oberster Stock. Die Stahltüre geht weit auf, wie von Geisterhand gezogen, und dann steht man, Aug in Aug, diesem riesigen Hund gegenüber,  fast so gross wie ein Kalb. Er bellt nicht, er bewegt sich nicht. Er starrt den Besucher nur stumm an, fixiert ihn wie ein Opfer. Instinktiv möchte man die Tür zu schlagen. Doch es geht nicht, sie ist nach innen aufgegangen, also müsste man am Hund vorbei. Wegrennen?  Ein lächerlicher Gedanke. Wer Nikolai Makarov besuchen will, muss starke Nerven mitbringen. Der russische Maler hat einen ausgestopften kaukasischen Schäfer hinter die Eingangstür gestellt.

Im Wohnraum befindet sich eine Badewanne, in der sich zwischen Wasserpflanzen zwei Fische tummeln. An der Wand hängt eine Kosakenuniform mit Säbel. Und auf den Fenstersimsen stehen grosse Glasbehälter mit allerlei Gemüseresten und Getier, von dem weiter unten noch ausführlich die Rede sein wird. Schliesslich erscheint der Meister selbst – von Kopf bis Fuss in Schwarz. Schwarzes Hemd über schwarzem T-Shirt, schwarze Hose, schwarze Strümpfe in schwarzen Schuhen. In seiner Kluft und mit seinem Spitzbart wirkt Makarov, der einer Kosakenfamilie entstammt, wie ein anarchistischer Bombenleger aus zaristischen Zeiten oder wie der geheimnisvolle Rasputin, den er im übrigen porträtiert hat. An den Wänden der 300 Quadratmeter grossen Fabriketage hängen grosse, düstere Bilder, die in ihrer Unschärfe mehr erahnen lassen als preisgeben, in Acryl auf Leinen gemalt. Es sind Variationen von Werken Rembrandts, und Makarov hat unter dem Titel „Verschwörung“ auch einen Bildband über seinen Dialog mit dem holländischen Maler herausgegeben.

Der 1952 in Moskau geborene  Russe hat eine bewegte Geschichte. Einen Teil seiner Jugend hat er in Ost-Berlin verbracht, wo sein Vater in der sowjetischen Botschaft arbeitete und er selbst die Humboldt-Universität besuchte. Doch kehrte der Student 1972 nach Moskau zurück und wurde wegen seiner politischen Haltung schon bald von der Hochschule gefeuert, zur Armee eingezogen  und an die chinesische Grenze geschickt. Dort hielt man ihn neun Monate lang in militärischer Einzelhaft. Das hinderte ihn nicht, kaum entlassen, 1975 in der sowjetischen Hauptstadt die verbotene Ausstellung der „Nonkonformistenbewegung“ mitzuorganisieren, zu der er ein Bild beisteuerte mit dem Titel „Krebsstation“ – so hiess auch ein Roman des ein Jahr zuvor aus der Sowjetunion ausgewiesenen Schriftstellers Alexander Solschenizyn.

1975 heiratete Makarov eine Studentin aus der DDR, die er in Moskau kennen gelernt hatte, und zog mit ihr nach Ost-Berlin. Dort nahm er nach einem Geschichtsstudium 1980 die Malerei wieder auf und wurde sogar zur Akademie der Künste zugelassen.  Doch jahrelang verweigerte ihm der Verband Bildender Künstler die Aufnahme, weshalb er als arbeitsscheues Element galt und seine Kunst nur unter der Hand verkaufen konnte. Doch Makarov liess sich nicht unterkriegen. 1987 stellte er seinen Zyklus „Die späte Freiheit“ fertig, zu dem ein Bild gehört, das Andrej Sacharow und Jelena Bonner darstellt: Das sowjetische Dissidentenpaar sitzt einsam in einem Boot, der Mann beugt sich übers Ruder, der Blick der Frau drückt Resignation und Verzweiflung aus. Es ist ein Bild von Sehnsucht und Trauer.

Wehmut und Trauer, Stille und Schmerz spricht aus den Bildern. Sie laden zur Kontemplation ein wie auch sein Schlafzimmer, das aus einem rot bezogenen Bett und einem fast die ganze Wand abdeckenden Bild besteht, das nur eine schwarze Fläche darstellt mit einem kaum wahrnehmbaren Lichtschimmer. „Ich kenne den Schmerz“, sagt der Maler leise und lässt Abgründe ahnen, „aber ich will den Tod nicht besingen wie ein Romantiker.“

Bekannt ist Makarov in Berlin aber nicht nur wegen seiner Bilder, die die Tradition russischer Mystik aufnehmen, sondern auch wegen der Kakerlaken.  Die Küchenschaben, vor denen sich alle Welt ekelt, sind dem Maler offenbar ans Herz gewachsen – vielleicht weil auch sie, wie er selbst, sich gerne in die Dunkelheit flüchten. Makarov ist nebenberuflich Rennkakerlakenzüchter. In offenen Glaskästen, die auf Tischen und Fenstersimsen stehen, krabbeln 76 Exemplare dieser Ungeziefer, jedes halb so gross wie ein ausgewachsener Daumen.

Und alle haben sie einen Namen. „Nina ist spurtkräftig wie schon ihr Vater“, erzählt Makarov, „Ivan ist äusserst aggressiv und gewissenlos, nicht zufällig trägt er den Beinamen ‚Der Schreckliche’, Olga III. ist ehrgeizig und mit 26 Siegen eine der erfolgreichsten Athletinnen, Pamir ist ein eiskalter Kämpfer, er hat jüngst Olga I. ein Bein abgebissen.“ Nun ist der Kakerlak Pamir für drei Jahre gesperrt, und das abgebissene Glied bewahrt der Züchter in einem gläsernen Schrein wie eine religiöse Reliquie auf.

Ob Olga III., die Makarov auf seinem Arm nimmt und liebevoll streichelt, am nächsten Wettkampf teilnehmen darf, ist übrigens noch ungewiss. Denn sie ist hochschwanger, und wer mehr als 10 Gramm wiegt, darf laut Statuten des „Obersten Zoowjets des Rennkakerlakenkomitees“ nicht auf die zwei Meter lange Bahn, wo die lichtscheuen Küchenschaben gegen das Licht anrennen. Wer vor dem Start einen Gegner verzehrt, wird mit einem befristeten Kopulationsverbot bestraft. Auch die Einzelheiten der obligatorischen Doping-Kontrolle sind im fünf Seiten dicken Reglement festgelegt.

Regelmässig veranstaltet Makarov Kakerlakenrennen. Oft kommen dann sogar Fernsehteams aus dem Ausland an. Es sind gesellschaftliche Events der Berliner Subkultur. Die Tierchen werden auf parallele, durch einige Zentimeter hohe Wände abgegrenzte Rennbahnen gesetzt und von hunderten Zuschauern angefeuert. Vor drei Jahren fand ein Wettkampf, zu dem übrigens der Rockstar Udo Lindenberg den Startschuss gab, sogar im „Tränenpalast“ statt, dem früheren Abfertigungsgebäude der DDR-Grenzer, wo bei der Trennung west-östlicher Liebespaare zu mitternächtlicher Stunde einst so viele Tränen vergossen wurden. Wie immer wurden Wetten abgeschlossen. Zu gewinnen gab es Wodka, und der Reinerlös des Spektakels wurde, wie üblich, an die von Makarov ins Leben gerufene Sergej-Mawrizki-Stiftung überwiesen, die Projekte im Rahmen des deutsch-russischen Kulturaustauschs fördert.

„Die besten Läufer erreichen Geschwindigkeiten von 30 Zentimetern pro Sekunde“, behauptet der Maler, der die Kakerlaken regelmässig trainiert, „wenn man das – proportional zur Grösse – auf den Menschen hochrechnet, so müsste der mit 90 Stundenkilometern rennen.“ Es sind zähe Tiere. Sie werden zwar höchstens sechs Jahre alt, aber als Gattung – so weiss der Russe – haben sie die Dinosaurier überlebt, und sie werden auch die Menschen überleben. „Im Himalaya trotzen sie bei dünnster Luft dem ewigen Eis und ernähren sich von erfrorenen Insekten.“ Makarov wirft einen schelmischen Blick auf Olga III., die noch immer auf seinem Arm sitzt. Und man weiss wieder mal nicht, wo bei ihm das Wissen aufhört und  die Phantasie beginnt. „5.000 Euro ist eine gute Rennkakerlake wert“, sagt er schliesslich, „aber Olga III. ist unverkäuflich, und wenn ich sie zu fremden Rennen mitnehme, muss ich sie hoch versichern.“

Kakerlakenrennen haben Matrosen zum Zeitvertreib und zur Volksbelustigung schon im 16. Jahrhundert auf Jamaica veranstaltet. Auch im Süden Mexikos kannte man den Wettkampf der Küchenschaben. Später tauchte die tierische Sportdisziplim im zaristischen Russland auf, und Emigranten haben die Tradition, die auch in Romanen von Tolstoj und Bulgakow Erwähnung findet, von Petersburg und Moskau nach Istanbul und Paris gebracht.  Hätten Flüchtlinge ein Wappen, meint Makarov, so wäre die Küchenschabe bestimmt ihr Wappentier. Flüchtlinge und Kakerlaken haben nämlich eines gemeinsam: Als Einzelgänger  nimmt man sie in Kauf. Tauchen sie jedoch in Scharen auf, gelten sie als Plage. Wer in Russland ein Haus gebaut hat, setzt übrigens bei der Einweihung traditionell einige Kakerlaken auf die Türschwelle. „Wo es keine Küchenschaben gibt“, sagt der russische Bauer, „gibt es auch nichts zu beissen.“

Zum Abschied überreicht Makarov eine Visitenkarte. In der Mitte ein Bild einer Kakerlake, die dem Betrachter frontal entgegenkrabbelt. Darüber steht „certamen currentium blattarum“ – der hochwissenschaftliche Ausdruck für „Wettkampf rennender Schaben“ -, darunter „Formel K“. K wie Kakerlake. „Es sind kluge Tiere“, schwärmt der Maler und streichelt Olga III. liebevoll über den Chitin-Panzer, „im übrigen ekeln sie sich vor Menschen. Wenn man sie anfasst, putzen sie sich danach minutenlang Beinchen und Flügel.“ Dann geleitet er den Besucher freundlich am kaukasischen Schäferhund vorbei zur Tür.

Thomas Schmid, „Facts“ (Zürich), 17.03.2005

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