Es gibt das Tessin der tiefblauen Seen, der glasklaren Flüsse, der Kastanienwälder und der malerischen Bergnester mit ihren Häusern aus schwerem grauen Granit, das Tessin, wo man unter der Pergola zum Formaggino, dem süßlichen Käse, einen Nostrano trinkt, den lokalen Rotwein – serviert im traditionellen Boccalino, dem kleinen Weinkrug. Es ist das Tessin, das sich dem Fremden als „Sonnenstube der Schweiz“ anpreist, als Urlaubsparadies. Und es gibt das andere Tessin. Es gibt Stabio.

Stabio ist ein Dorf mit einer Kirche aus dem 13. Jahrhundert und viel altem Gemäuer. Ein Museum der bäuerlichen Kultur kündet von fernen Zeiten, als noch die Sense am Stein geschliffen und das Heu auf dem Rücken nach Hause getragen wurde. Die Moderne aber beginnt gleich am Dorfrand: imposante Gebäude aus Glas und Stahl, große Lagerhallen und riesige Parkplätze. Stabio liegt direkt an der Grenze zu Italien.

In der Osteria Nuova, der Dorfkneipe, sitzen die Männer beim Caffè corretto, korrigiertem Kaffee, mit Grappa korrigiert. Der Fremde wird misstrauisch beäugt. Wie ein Gespräch anknüpfen? Am besten mit der Tür ins Haus fallen: „Signori, ich bin aus Berlin angereist, Sie können sich ja vorstellen, weshalb. Ich möchte…“. Auf Journalisten sind die Männer hier nicht sonderlich gut zu sprechen, auf deutsche erst recht nicht. Aber schließlich tauen sie auf. „Wir ersticken hier alle im Dreck, in den Auspuffabgasen“, sagt einer mit einer abgetragenen Schirmmütze, den die andern Carlo nennen, „wissen Sie, wie viele Grenzgänger hier täglich durchs Dorf fahren? Achtzehntausend!“ Er wiederholt die Zahl und spuckt dabei – mit hochgezogenen Augenbrauen – zum Nachdruck jeden Buchstaben einzeln aus: A c h t z e h n t a u s e n d. Man hört die Zahl im Dorf immer wieder.

50,3 Prozent der Schweizer haben am vergangenen Sonntag dafür gestimmt, die Zuwanderung von Ausländern zu begrenzen. Im Tessin, dem Kanton mit den meisten Ja-Stimmen, waren es 68,2 Prozent, in Stabio 72,9 Prozent. Das Votum des Souveräns ist eine offene Absage an die mit der Europäischen Union vertraglich vereinbarte Personenfreizügigkeit, die seit 2002 in Kraft ist. Zwischen der EU und der Schweiz droht nun eine Eiszeit. Doch den Männern in der Osteria Nuova ist das piepegal. Bern ist weit weg und Brüssel noch weiter. Die Blechlawine aber rollt ganz nah jeden Tag zweimal durchs Dorf – am Morgen Richtung Schweiz, am Abend Richtung Italien. „Wir haben nichts gegen Ausländer“, sagt Carlo und gibt zu verstehen, dass er das kaum begonnene Gespräch für beendet hält, „es gibt auch unter den Italienern anständige Menschen.“

Urs Jenzer ist gesprächiger als die einheimischen Dörfler. Sein gewelltes graues Haar trägt der 71-jährige Rentner aus Basel schulterlang. Seit 30 Jahren wohnt er in Stabio. „Sehen Sie“, sagt er ,“wenn tausend Personen auf ein Schiff passen, aber 5.000 einsteigen, dann haben wir Verhältnisse wie in Indien.“ Eine seltsame Metapher. Aber Jenzer hat eben als Schiffsbäcker gearbeitet und ist auch schon in Santo Domingo und in Tobago an Land gegangen. Er ist viel in der weiten Welt herumgekommen. Jetzt wohnt er mit seiner Lilly in einem engen alten Haus im Dorfzentrum. „Ich habe nichts gegen Ausländer“, sagt auch er und streichelt mit einer Hand das Hündchen in seinem Schoß und mit der andern die Enkelin, die, einen Schnuller im Mund, auf dem Boden spielt, „aber genug ist genug“.

Auch Lilly stimmt ein: „Früher war ich in 25 Minuten in Lugano, heute brauche ich zweieinhalb Stunden. Kommen Sie um fünf Uhr abends vorbei und schauen sie sich das an: kilometerlange Schlangen, kilomeeeeeeter! Warten Sie, ich zeige Ihnen etwas…“ Lilly geht in den Vorgarten und kommt mit einem Blatt einer Pflanze zurück. Es ist schwarz. „Wir haben hier wohl die höchste Krebsrate der Schweiz“, vermutet sie. „Früher war rund ums Dorf alles grün, überall nichts als Wiesen und Felder, es gab Hasen und Fasane“, erinnert sich ihr Mann, „es gab Molche und Frösche und die Hundezahnlilie, eine botanische Seltenheit.“

Und heute? Jenzer bietet eine Rundfahrt durchs Industriegelände an. Lagerhallen, ausgedehnte Bürogebäude und immer wieder riesige Parkplätze mit hunderten Autos. Zu 99 Prozent mit italienischen Nummernschildern. Am pompösesten ist der Glaspalast von VF Corporation, einem der größten Bekleidungskonzerne der Welt mit Hauptsitz in North Carolina. Ihm gehören unter anderem die Marken Lee Jeans und Wrangler. Von seinem jüngst in Stabio eröffneten Logistikzentrum aus will der Konzern sein Europa- und Asiengeschäft steuern. Das hat 450 Arbeitsstellen gebracht. „Alles Jobs für Frontalieri, für Grenzgänger, die malochen zum halben Preis“, sagt Jenzer, „für die Tessiner fällt nichts ab – nur der Gestank der Blechlawinen, die sich jeden Tag zweimal, Stoßstange an Stoßstange, durchs Dorf quälen.“

Die Tessiner sind allerdings nicht unschuldig an dieser Entwicklung. In der Schweiz herrscht direkte Demokratie, und auch auf Gemeindeebene haben die Bürger ein starkes Wörtchen mitzureden – auch beim Flächennutzungsplan, bei dem festgelegt wird, wo sich Industrie ansiedeln darf, welche Zonen für Wohnungsbau und welche für Landwirtschaft reserviert werden. Und haben die Grenzgemeinden nicht selbst Investoren angelockt? Die Grenzgänger zahlen schließlich ihre Steuern in der Schweiz, und auch wenn davon 38,8 Prozent an die grenznahen Gemeinden Italiens zurückfließen, bleibt doch ein sattes Plus übrig.

Deswegen wird Firmen, die sich neu ansiedeln, oft eine zeitlich begrenzte Steuerfreiheit gewährt. Da meckert manch einer, der dem Staat brav seinen Obolus entrichtet. VF Corporation habe bei Verhandlungen sieben Jahre herausgeschlagen, munkelt man in Stabio. Nein, fünf Jahre. Oder gar zehn? Genaues weiß man nicht. Genaueres hätte man gerne vom Sindaco, dem Bürgermeister, erfahren. Aber der ist konsequent drei Tage lang nicht zu sprechen. Und sein Dezernent für wirtschaftliche Entwicklung antwortet per Mail, er sei nicht autorisiert, mit Journalisten zu reden. Schade.

Fabio Giacomazzi hat da keine Berührungsängste. Er ist Sindaco von Manno, einem Dörfchen unweit von Lugano, der größten Stadt des Tessins. Zudem ist er Präsident des eidgenössischen Rats für Raumordnung. „Beides quasi Ehrenämter“, flachst er. Sein Leben verdient sich der promovierte Architekt mit dem struppigen Haar und Dreitagebart als Raumplaner, im Schwerpunkt Städtebau, vor allem auch mit der Ausarbeitung von Zonenplänen.

Auch in Manno, zehn Kilometer von der Grenze entfernt, haben sich zahlreiche Firmen angesiedelt: Pharma, Logistik, Metallbau, Informatik, Trading – die meisten von ihnen sind Global Player. „Manno hat 1.300 Einwohner und 4.000 Arbeitsplätze, davon vielleicht ein Drittel Frontalieri“, sagt Giacomazzi, „früher arbeiteten die Grenzgänger vor allem als wenig qualifizierte Arbeitskräfte in der Industrie, auf dem Bau und im Gastgewerbe, wo sich kaum mehr Tessiner Arbeitskräfte bewarben. Heute drängen sie sich auch in besser bezahlte Stellen im Dienstleistungssektor, und da kommt es schon zu Konkurrenz mit den Einheimischen, und auch zu Lohndumping.“ 3.000 Franken sind für einen Italiener ein akzeptabler Monatslohn, dafür arbeitet aber kein qualifizierter Tessiner. Man kann davon in der Schweiz auch kaum leben.

„Das Wachstum ist für die Raumplanung nicht zwangsläufig ein Problem“, sagt der Raumplaner, „es muss nur gesteuert werden.“ Wachstum kann sogar Vorteile bringen. So sind in Manno und den angrenzenden Dörfern drei Fachhochschulen für Wirtschaft, Gesundheitswesen und Informatik mit 1.000 Studenten entstanden. Viele Dozenten kommen aus Italien. Und im Übrigen war bis 2013 auch das Rechenzentrum der ETH Zürich, einer der renommiertesten Universitäten Europas, über 20 Jahre lang in Manno angesiedelt mit der Folge, dass sich in der näheren Umgebung zahlreiche innovative IT-Unternehmen niedergelassen haben.

Das deutliche Votum der Tessiner für die Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“ führt Giacomazzi nicht nur auf die verstärkte Zuwanderung von Ausländern seit dem Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit zurück. Das Tessin hat ja lange auch von der Grenznähe profitiert – nicht nur weil bis heute täglich abertausende Italiener ihr Benzin in der Schweiz tanken. Lugano hat sich nach Zürich und Genf zum drittwichtigsten Finanzplatz des Landes entwickelt. Rechtsanwaltskanzleien und Treuhandgesellschaften schossen einst wie Pilze aus dem Boden, um – zum Teil auch bei dubiosen Geschäften – den italienischen Kunden mit Rat und Tat beizustehen.

Nun, wo das Bankgeheimnis löchrig wie ein Schweizer Käse ist und transnationale Geldflüsse stärker kontrolliert werden, kommt manches ins Rutschen. Zudem schließt die Armee im Tessin Kasernen, die Bahn ihre Reparaturwerkstätten, die Post rationalisiert. Der Tourismus – gemessen an der Zahl der Übernachtungen – geht seit einem Jahrzehnt jährlich um fast fünf Prozent zurück. „All dies wird von vielen intuitiv als Bedrohung empfunden und erklärt zum Teil auch ihr Abstimmungsverhalten“, vermutet Giacomazzi. Jedenfalls hat die rechtspopulistische Lega dei Ticinesi, stärkste Partei im Kanton, die ausländerfeindliche Ressentiments geschickt bedient, vom verbreiteten Unwohlsein über Veränderungen profitiert.

Sergio Savoia sieht das völlig anders. Der 50-jährige Chef der Grünen Partei des Kantons Tessin und Mitglied des Kantonsparlaments war 17 Jahre lang Rundfunkjournalist und ist ein rhetorisches Talent, andere behaupten ein Demagoge. Er ist heute im Hauptberuf Leiter des europäischen Alpenprogramms des WWF. Sein Büro liegt im Herzen von Bellinzona, der Hauptstadt des Tessin. Landesweit haben sich die Grünen gegen die von der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP) gestartete Volksinitiative ausgesprochen. Nur die Tessiner Sektion der Grünen scherte aus und sprach sich – wie die Lega dei Ticinesi – für die Begrenzung der Zuwanderung von Ausländern aus.

Savoia hält die EU für ein bürokratisches Monster. Er will ein Europa der Völker. „Die Freizügigkeit ist eine wunderbare Idee“, sagt er, „aber in Wirklichkeit führt sie dazu, dass die Bosse billige Arbeitskräfte haben.“ Früher saß Savoia für die Sozialistische Partei im Kantonsparlament. Die aber habe die Frage der Immigration aus ideologischen Gründen tabuisiert. „Ich bin ein Linker“, sagt der Grüne, „ich verteidige die sozialen Errungenschaften der Schweiz und will einen Krieg zwischen den Armen verhindern.“ In den zehn Jahren seit dem Inkrafttreten der Freizügigkeit hat sich die Zahl der Grenzgänger von 30.000 auf 60.000 verdoppelt, etwa ein Viertel der Arbeitsplätze im Tessin wird inzwischen von ihnen besetzt. „Da muss man gegensteuern“, sagt Savoia.

Im allgemeinen wurde in jenen Schweizer Städten, die einen hohen Anteil an Ausländern haben wie Genf (über 40 Prozent mit zusätzlich vielen Grenzgängern), Basel (mit ebenfalls vielen Grenzgängern) und Zürich die Initiative zur Begrenzung der Zuwanderung abgelehnt. In Isone, einem kleinen Tessiner Dorf in einem abgelegenen Bergtal oberhalb von Bellinzona, wo es keinen einzigen Grenzgänger und nur wenige Ausländer gibt, wurde die Initiative hingegen von über 90 Prozent gutgeheißen. Einen direkten Zusammenhang zwischen erlebter Realität und Votum gibt es offenbar nicht. Die Imagination scheint eine Rolle zu spielen.

Die Welt verändert sich, und das Tessin sich mit ihr. Veränderungen bringen oft Ängste mit sich, Ängste vor dem Unbekannten, vor dem, was auf einen zukommt. „Die Lega dei Ticinesi schürt diese Ängste“, sagt Alberto Nessi. Der 73-jährige Schriftsteller lebt in Bruzella, einem 180-Seelen-Nest im abgeschiedenen Valle di Muggio, einem wilden Tal mit einer Wassermühle für Mais und Kastanien. Er befürchtet, dass sich die Schweiz abkapselt, allen voran sein Heimatkanton. „Das Tessin hat doch auch eine ganz andere Tradition“, sagt er, „unter Mussolini haben Tessiner der Resistenza geholfen, auch Juden gerettet. Es gab so etwas wie eine Willkommenskultur.“ Andererseits sind über Jahrhunderte weg viele notleidende Tessiner ausgewandert, als der Kanton noch nicht die Sonnenstube, sondern das Armenhaus der Schweiz war – die einen zogen als Steinmetze in die Städte der nahen Lombardei, aber auch nach Florenz, Rom und Neapel, die andern haben ihr Glück in den USA gesucht. Nessis neuester Roman handelt von einem jungen Mann, der im 19. Jahrhundert aus einem engen Tessiner Tal auswandert und in Lissabon Buchhändler wird.

Unterhalb der Kirche von Bruzella steht eine mannsgroße, in Bronze gegossene Statue von Emilio Bossi (1870-1920). Der hier im Dorf geborene Rechtsanwalt, Journalist, Essayist und Politiker schrieb 1906 ein aufsehenerregendes Buch. Es trägt den Titel „Jesus Christus hat nie existiert“. Das war damals gewiss starker Tobak für die katholischen Tessiner. Das zeugte von Mut. Derselbe Bossi machte sich auch – und in einer Zeit, als viele Tessiner lieber unter sich geblieben wären – für die Immigration von Italienern stark. Auch dazu gehörte Courage.

© Berliner Zeitung (ungekürzte Fassung, in der publizierten Ausgabe gekürzt)

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 15.02.2014

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