Der Krieg gegen den Berg

Einer nach dem andern klettern sie in den dreckigen Stahlkübel. 14 Mann passen hinein. Körper an Körper. Helm an Helm. Stiefel an Stiefel. Dann geht die Fahrt los. 43 Stundenkilometer, das ist nicht gerade schnell. Aber wenn man senkrecht Richtung Erdmittelpunkt sinkt, ist es wie im freien Fall. Zwölf Meter pro Sekunde. Im Stockdunklen. Die Felswände gleiten vorbei. Zweimal blitzt kurz ein Licht auf: Lüftungsschächte. Nach etwas mehr als einer Minute bremst der Eimer ab. Wir sind 800 Meter unterhalb der Erdoberfläche. Hier werden in zehn Jahren Hochgeschwindigkeitszüge fahren. Wir stehen in der Mitte des künftigen Gotthard-Basistunnels.

Wer heute mit dem Zug von Deutschland durch die Schweizer Alpen nach Italien unterwegs ist, reist vom malerischen Vierwaldstättersee in engen Kurven zum über tausend Meter hoch gelegenen Dorf Göschenen, dann durch den 15 Kilometer langen Gotthard-Tunnel und auf der andern Seite, an den steilsten Stellen wie auf einer großen Wendeltreppe in spiralförmigen Kehrtunneln, ins Tessin hinunter. Eine solche Streckenführung ist nichts für Hochgeschwindigkeitszüge. Also bohren die Schweizer neue Löcher. Es wird der längste Tunnel der Welt werden, 57 Kilometer lang, länger als der Ärmelkanal-Tunnel, der Frankreich und England verbindet (51 Kilometer), und sogar länger als der japanische Seikan-Tunnel zwischen den Inseln Honschu und Hokkaido (54 Kilometer).
Sein Bau ist ein Krieg gegen den Berg. In Sedrun, einem kleinen Ort Graubündens, der im Winter zum Skifahren und im Sommer zum Wandern einlädt, unweit der Quelle des Rheins, da, wo wir 800 Meter senkrecht in den Berg gefahren sind, findet ein so genannter Zwischenangriff statt. Man greift den Berg nicht nur von zwei Seiten her an, sondern auch von der Mitte. Und bei Amsteg und Faido gibt es noch zwei weitere Zwischenangriffe.
„Allein mit dem Zwischenangriff Sedrun verkürzen wir die Bauzeit um viereinhalb Jahre“, sagt Jakob Blickenstorfer, der Oberbauleiter des Teilabschnittes. Er spricht mit lauter Stimme, denn wir sind wieder in der großen Kaverne, einer Art Felsendom, 90 Meter lang, 21 Meter breit und 14 Meter hoch – am oberen Ende des Schachtes, da, wo wir in den Stahlkübel eingestiegen sind. Hier kann man sich nur durch Schreien verständigen, weil Maschinen rattern und die Felswände die Töne verschlucken. Auf Distanz geben sich die Arbeiter Zeichen: Mit dem Zeigefinger an die Schläfe tippen und dann zwei Finger unter die Augen halten – das lässt sich in unserer Sprache mit „Achtung! Aufpassen!“ übersetzen. Ansonsten hört man eine Grubensprache, die eine Mischung aus Flämisch, Englisch und Afrikaans sein soll. Etwa die Hälfte der hier eingesetzten Arbeiter stammen aus Südafrika. Die Schweizer sind zwar Meister im Bohren waagerechter Löcher. Um den senkrechten Schacht abzuteufen, hat man jedoch auf Spezialisten vom schwarzen Kontinent zurückgegriffen. Die haben beim Abbau von Diamanten, Gold und Platin Erfahrung in der Vertikale gesammelt. In Sedrun, wo die Einheimischen noch rätoromanisch sprechen, hat man sich an die Schnalzlaute der Zulu-Sprache längst gewöhnt. „Es sind wirklich sehr anständige Leute“, hört man in den Kneipen ungefragt, „es gibt mit ihnen überhaupt keine Probleme, wirklich nicht. “ Und doch wird man den Verdacht nicht los, manch einer hier war überrascht, dass sich auch Schwarze waschen.
Der Teilabschnitt des Tunnelbaus bei Sedrun gilt als der schwierigste. „85 Prozent auf den 57 Kilometern sind unproblematisches hartes Gestein“, sagt Blickenstorfer, „da werden vorwiegend die modernen Tunnelbohrmaschinen zum Einsatz kommen, die sich bei günstigen Bedingungen täglich über 20 Meter in den Fels fressen. “ Es sind bis zu 300 Meter lange computergesteuerte Maschinen, die wie riesige Bohrer aussehen. Elektromotoren drehen den Bohrkopf, der mit hydraulischen Pressen gegen den Fels gedrückt wird und so genannte Chips, tellerförmige Steinstücke, aus dem Felsen reißt, die dann über Förderbänder nach hinten auf die Wagen der Stollenbahn, die „Schutterzüge“, verladen und abtransportiert werden. Hier in Sedrun aber, da wo der vertikale Schacht zu Ende ist, wird man mit „konventionellem Vortrieb“ in beide Richtungen gegen den Berg ankämpfen. Denn hier liegt das von den Tunnelbauern gefürchtete Tavetscher Zwischenmassiv. Und das verbietet den Einsatz der großen Tunnelbohrmaschinen.
Das Problem hat eine lange Vorgeschichte. Vor Urzeiten erstreckte sich im Gebiet der heutigen Alpen ein Ozean. Als die europäische und die afrikanische Platte vor Jahrmillionen aufeinander trafen, wurde der steinige Grund des Meeres aus dem Wasser gehoben und ineinander geschoben. So wurden die Alpen geboren. Bei Sedrun stießen das Aar- und das Gotthard-Massiv aufeinander und zerquetschten die Zone, die zwischen ihnen lag, zum Tavetscher Zwischenmassiv. Hier wechseln sich bröckliger Schiefer, brüchiger Gneis, weiche Phylliten und lehmiges, stark zerschertes Kakirit-Gestein in steil aufgerichteten Felsplatten ab. Im weichen Gestein aber würden die um die 30 Millionen Mark teuren Tunnelbohrmaschinen stecken bleiben. Sie dann wieder frei zu bekommen, würde bis zu zwei Monate dauern. Zwei Monate Zeitverlust bedeuten Millionenverluste. Außerdem könnte man die langen Tunnelbohrmaschinen ohnehin nicht durch den Schacht, der einen Durchmesser von acht Metern hat, an ihren Einsatzort befördern. Also wird man in Sedrun die „Rocket Boomer“ einsetzen. Es sind Bohrjumbos, die man in Einzelteile zerlegen, durch den Schacht befördern und unten wieder zusammensetzen wird. Bei einem andern Zwischenangriff sind sie bereits im Einsatz.
In Amsteg, einem Dorf auf halber Strecke zwischen Sedrun und dem Nordportal des Tunnels, wurde der Berg von der Seite her angebohrt. Ein Zugangsstollen wird zur Tunnel-Linie vorgetrieben, um von dort aus später den Haupttunnel Richtung Süden zu bohren. Am Eingang des Zugangsstollens ist eine kleine Holzfigur angebracht. Es ist Barbara, die Schutzheilige der Bergarbeiter. Gestiftet hat die Statue der österreichische Unternehmer, dessen Tunnelbauer hier im Einsatz sind.
Je weiter man in den Berg vordringt, desto mehr leidet die Nase. Es ist der neuartige Sprengstoff der schwedischen Dyno Nobel AG, der für den beißenden Ammoniak-Gestank sorgt. SL 700, das die Dynamitstangen abgelöst hat, besteht aus zwei flüssigen Komponenten, die, für sich allein genommen, ungefährlich sind, zusammen aber ein höchst explosives Gemisch ergeben. Kurz vor der „Brust“, dem Fels am Ende des Stollens also, wo als nächstes gesprengt wird, steht der gelbe „Rocket-Boomer“. Er sieht wie eine große Languste aus, dreiarmig mit verschiedenen Bohrlafetten, aus denen die wassergekühlten Bohrer herausgleiten. Mit einem Lasersystem werden die 110 Stellen markiert, wo dreieinhalb Meter tiefe Löcher gebohrt werden, in die der zähflüssige Sprengstoff gespritzt wird – 500 Kilogramm pro Abschlag. Dann zieht sich die Truppe 200 Meter zurück und wartet die Detonation ab. Vier bis fünf Sprengungen pro Tag, das sind vier bis fünf Abschläge, eine Vortriebsleistung von zwölf Metern vielleicht. „An schlechten Tagen, wenn Probleme auftauchen, kämpft man sich gerade mal einen Meter vor“, sagt Sepp Mair, der Schichtleiter aus Kärnten, „aber an jedem Tag bin ich an einem Ort, wo vor mir noch kein anderer war. “ Es sei ein schönes Gefühl, der erste zu sein.
Zwischen den Sprengungen kommt die Hauptarbeit. Dem Fels werden Zementinjektionen verabreicht, um ihn zu stabilisieren und die Wasserdurchlässigkeit zu verkleinern. In jedem Berg fließt überall und unablässig Wasser durch die Felsritzen. Dieses Bergwasser, das im Übrigen für die Kühlung der Bohrer verwendet wird, muss abfließen. Deshalb werden weltweit die Tunnel immer – wenn auch unmerklich – bergaufwärts vorgetrieben. Nach dem Abschlag muss der Fels mit Anker, Spritzbeton oder Stahlbögen gesichert werden, um dem Bergdruck entgegenzuwirken, der den Tunnel wieder zu verengen droht. Ein Tunnel kann im Lauf der Zeit, bis der Fels zur Ruhe kommt, bis anderthalb Meter enger werden.
Bohren – Laden- Sprengen- Lüften – Sichern – Schuttern. Das ist der ewige Kreislauf des konventionellen Sprengvortriebs. Und gearbeitet wird 24 Stunden am Tag. Im Berg ist es ja ohnehin dunkel. Bohren – Laden -Sprengen – Lüften – Sichern – Schuttern. Die Abfolge war schon damals dieselbe. 1872- 1881. Da wurde der zu jener Zeit längste Eisenbahntunnel der Welt gebaut. 15 Kilometer lang. Ebenfalls am Gotthard. Zu Beginn wurde noch mit Pickel, Schaufel und Schwarzpulver gearbeitet, schon bald aber auch mit Pressluftmaschinen und Dynamit. Doch unter welchen Bedingungen! 177 tödliche Unfälle während der neunjährigen Bauzeit, 158 der Toten waren Opfer von Dynamit- und Minenexplosionen, die andern wurden von herabstürzenden Felsbrocken oder brechenden Balken erschlagen, von Rollwagen zerquetscht oder Dynamitdämpfen vergiftet. Andere kamen mit abgerissenen Armen, zerschlagenen Beinen oder ohne Augenlicht aus dem Tunnel. Die Arbeiter – fast alle Italiener – standen bei der Arbeit an vielen Tagen knietief im Schlamm oder Wasser, oft bei tropischer Hitze von 35 Grad in dem unvorstellbaren Gestank, den Pulverrauch und Fäkalien, Dynamitgase und Tierkadaver erzeugten. Monatlich verendeten im Durchschnitt 20 Zugtiere im Tunnel. Zwei- bis zweieinhalbtausend Männer schufteten täglich bis zu 16 Stunden im Dunkeln. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. Auch außerhalb des Tunnels. „Alle sind in Gesicht und Händen mit Tunnelschmutz beschmiert, einer zarten Masse aus Brennöl, Eisenstaub, Granitstaub und gewöhnlichem Schlamm“, stellte ein Arzt fest, der vor Ort gesandt wurde, um die Privatunterkünfte zu inspizieren, „an manchen Fensterbrüstungen kleben Excremente, ebenfalls auf den Böden, welche häufig als Abtritte dienen; diese selber sind über alle Beschreibungen schmutzig und in den meisten Häusern auch mit gutem Schuhwerk nicht zu betreten (. . . ) Da liegen wohl eingewickelt, die Arbeiter zu zwei oft zu drei in einem Bette, in ihren Kleidern, oft mit den Stiefeln, wie sie aus dem Tunnel kommen. “ Die Luft in den Privatlogis sei „nur mit der Luft schlechter Hühnerställe oder aufgerührter Jauchekasten“ zu vergleichen. Schon bald litten Tausende an Schwächeanfällen, Schwindelgefühlen, Blutarmut, kurzum an dem, was man schon bald die Tunnelkrankheit nannte. Man führte sie auf unhygienische Bedingungen und den Befall von Würmern zurück. Erst Jahrzehnte nach Fertigstellung des Tunnels diagnostizierte man die seltsame Krankheit als Silikose, eine Lungenkrankheit, die von Quarzstaub verursacht wird.
Als es damals im vierten Baujahr aufgrund der elenden Arbeits- und Lebensbedingungen zu einem Streik kam, trat schon am Tag danach eine Bürgerwehr aus Göschenen, dem kleinen Dorf am Nordportal des Tunnels, auf – eine bunt zusammengewürfelte Truppe, der unter anderen der Briefträger, drei Bauern, ein Knecht und drei Handwerker angehörten. Sie erschoss kurzerhand vier Streikende, und als am nächsten Tag die Armee vor Ort beordert wurde, waren die Tunnelarbeiter schon längst wieder am bohren, laden, sprengen, lüften, sichern und schuttern. 1880 war der Berg durchstochen, 1881 der Tunnel fertig gebaut.
Schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts hatten jährlich rund 10 000 Menschen – vor allem Kaufleute, Händler und Pilger – auf gefährlichen Saumwegen das gefürchtete Gotthardgebirge überquert. Der russische Feldmarschall Alexander Suworow war 1799 im Zweiten Koalitionskrieg mit 21 000 Soldaten und 5 000 Pferden und 25 auf Mauleseln verladenen Kanonen über den Gotthard gezogen – 30 Jahre bevor die erste, im Sommer durchgängig mit Kutschen befahrbare Straße über den Pass führte, die übrigens erst 1909 für den motorisierten Verkehr freigegeben wurde. Mit dem Tunneldurchstich stieg der Transitverkehr rapide an. Bereits im ersten Betriebsjahr beförderte die Bahn eine Million Passagiere und 470 000 Tonnen Güter durch den Berg. Vergessen war jener konservative Schweizer Politiker, der gewarnt hatte, ein Tunnel durch den Gotthard werde dem deutschen Trieb nach dem Orient Vorschub leisten. Auch vergessen sein Widersacher, der den Tunnel befürwortete, weil die Schweiz dann schnell und effektiv Truppen in den Süden an die italienische Grenze werfen könne. Nun herrschte eitel Freude, und anlässlich der Eröffnung des Jahrhundertwerks reimte ein Lokalpoet: „Frei ist der eiserne Pfad/ Eile geflügeltes Rad/Rings um den Erdenrund/Knüpfe den Völkerbund“.
Bis 1980 waren im Winter auch die Autofahrer auf den alten Eisenbahntunnel angewiesen. Die Straße über den auf 2 100 Meter über Meereshöhe gelegenen Pass war und ist noch immer jedes Jahr wegen der Schneemassen monatelang gesperrt. Und so wurden die Autos auf Züge verladen – bis vor 21 Jahren schließlich ein 16 Kilometer langer Straßentunnel eröffnet wurde, der ungefähr parallel zum alten Eisenbahntunnel verläuft. Doch das neue Angebot schaffte neue Nachfrage. Heute fahren jährlich mehr als doppelt so viele Autos (sechs Millionen) und mehr als dreimal soviele Laster (eine Million) durch den Berg als im ersten Jahr nach der Eröffnung des Tunnels. 18 300 Fahrzeuge an einem durchschnittlichen Tag, alle fünf Sekunden eins.
Die Leidtragenden sind vor allem die Urner, wie sich die Bewohner des Bergkantons Uri auf der Nordseite des Gotthards nennen. Durch ihr enges Tal rollt der ganze Transitverkehr, wenn die Blechlawine nicht – wie an jedem Wochenende mit einigermaßen schönem Wetter – stundenlang im Stau steckt. Jetzt zeigen sich die Folgen. Die Zubetonierung der Landschaft fördert die Bodenerosion, und die Menschen klagen über die Dauerbeschallung. Und nun verlangt die Europäische Union, dass auch über den Gotthard, wie schon über den Brenner (Österreich-Italien) oder durch den Montblanc-Tunnel (Frankreich-Italien), die 40-Tonner fahren dürfen. Bislang gibt es in der Eidgenossenschaft, die – im europäischen Maßstab gesehen – eine recht fortschrittliche, ökologische und vernünftige Verkehrspolitik verfolgt, ein 28-Tonnen-Limit.
Zwar gehört die Schweiz der Europäischen Union nicht an, aber die Regierung steuert auf einen Beitritt zu, und so handelte man schon 1992 ein Transitabkommen mit zwölf Jahren Gültigkeit aus, das zwar das eidgenössische Tonnen-Limit mit Ausnahmen akzeptierte, dafür aber zwei NEAT-Achsen vorsieht. NEAT steht für „Neue Eisenbahn-Alpentransversale“. Die eine, wichtigere, Transversale wird durch den neuen Gotthard-Tunnel führen, die andere vom Berner Oberland durch den Lötschberg-Tunnel ins Wallis und von dort durch den Simplon-Tunnel nach Italien.
Die Eidgenossen stimmten in Volksabstimmungen diesen Vorhaben der Regierung zu, und sie nahmen auch in einem Plebiszit, aber diesmal gegen den Willen der Regierung in Bern, die Alpen-Initiative an. Diese legt als Ziel fest, den Güterverkehr auf die Schiene zu verlegen und verbietet einen Ausbau der Straßenkapazität für den Transitverkehr. Damit schob das Schweizer Volk dem Ansinnen seines Parlaments und der Autofahrerlobby, eine zweite Straßenröhre durch den Gotthard zu bohren, einen Riegel vor.
Vom Jahr 2005 an, wenn das Transit-Abkommen von 1992 ausgelaufen ist, wird auch die Schweiz die 40-Tonner akzeptieren müssen. Doch will sie den Gütertransport von der Straße auf die Schiene zwingen. Das könnte zumindest zum Teil gelingen. Denn ab Jahresbeginn bereits müssen die schweren Brummer eine „leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe“ (LSVA) entrichten, mit der im Übrigen das NEAT-Projekt zu 55 Prozent finanziert werden soll. Allein für den Gotthard-Basistunnel veranschlagt die AlpTransit, Bauherrin und hundertprozentige Tochter der Schweizerischen Bundesbahnen, sieben Milliarden Franken, umgerechnet 8,5 Milliarden Mark. Etwa zehn Prozent des teuersten Bauvorhabens, das sich die Eidgenossen in ihrer über 700-jährigen Geschichte je geleistet haben, werden über die Mineralölsteuer finanziert. Das bringt die Autofahrerlobby auf die Palme, die die Erlöse aus dieser Steuer weiterhin ausschließlich für den Straßenbau verwenden will. Aber – so halten ihr ökologisch aufgeklärte Zeitgenossen entgegen – mit der Alkoholsteuer werden ja schließlich auch keine Schnapsbrennereien finanziert und mit der Tabaksteuer keine Lungensanatorien.
Die LSVA – etwa 400 Mark für eine Durchquerung der Schweiz – ist die Peitsche, das Zuckerbrot ist der Zeitgewinn. Bislang benötigt ein Lastwagen von der deutschen Grenze bei Basel zur italienischen bei Como etwa sieben Stunden. Güterzüge, die bis anderthalb Kilometer lang sind, werden es künftig in vier Stunden schaffen. Schon heute werden im alpenquerenden Verkehr in der Schweiz die Güter zu über 70 Prozent auf der Schiene transportiert, während es im französisch-italienischen und im österreichisch-italienischen alpenquerenden Verkehr nur 30 Prozent sind. Zu Recht fürchten die Eidgenossen, dass ihre vernünftige Verkehrspolitik auf dem Altar der europäischen Einigung geopfert werden könnte, dass wider alle ökologische Vernunft auch in der Schweiz der Gütertransport tendenziell immer mehr auf die Straße verlegt wird.
Ob die Strategie von Zuckerbrot und Peitsche aufgehen wird, ist offen. Aber die Passagiere dürfen sich jetzt schon freuen. Während die Zürcher noch heute drei Stunden und vierzig Minuten im Zug sitzen, um eine Aufführung in der Scala von Mailand zu besuchen, werden sie künftig mit 250 Stundenkilometern durch den neuen Gotthard-Basistunnel transportiert und eine Stunde früher in der lombardischen Metropole ankommen. Die Zugreise wird da eine attraktive Alternative zum Kurzstreckenflug, zumal der jüngst eingeweihte neue Flughafen von Mailand weit von der Stadt entfernt liegt.
Alle fünf Minuten wird künftig ein Zug durch den längsten Tunnel der Welt fahren, allein über 200 Güterzüge täglich. In beiden Richtungen. Ohne dass sich die Züge im Berg begegnen. Es werden zwei Röhren durch den Berg getrieben. Denn sich kreuzende Hochgeschwindigkeitszüge würden einen gefährlichen Druck im Tunnel erzeugen. Die beiden Röhren werden nicht schnurgerade, sondern in zwei sanften Kurven durch das Gotthard-Gebirge führen, um ein halbes Dutzend von Stauseen-Staumauern, die unterfahren werden, nicht durch Erschütterungen zu gefährden. Im Übrigen werden die beiden Tunnel-Röhren alle 325 Meter durch einen so genannten Querschlag verbunden, durch den im Unglücksfall die Passagiere zu Fuß in die andere Röhre flüchten können. An zwei Multifunktionsstellen können sogar ganze Züge den Tunnel wechseln. Zwei Hauptröhren, etwa 170 Querschläge, zwei Multifunktionsstellen, zwei horizontale Zugangsstollen bei den Zwischenangriffen in Amsteg und Faido, ein senkrechter Schacht bei Sedrun – da wird insgesamt ein Volumen ausgebuddelt, das fünf Cheops-Pyramiden entspricht, oder 13,3 Millionen Kubikmetern, die 24 Millionen Tonnen wiegen.
Trotzdem werden in der Alpenrepublik kaum neue Berge entstehen. Ein Fünftel des Ausbruchmaterials wird zu Betonzusatzstoffen verarbeitet, die wieder für den Tunnelbau verwendet werden. Ein Teil wird im Vierwaldstättersee versenkt, um Löcher aufzufüllen, die ein Unternehmen hinterlassen hat, das jahrelang Kies vom Grund des Gewässers herausgeholt hat. Überdies werden mit dem Ausschutt Steinbrüche und Kiesgruben aufgefüllt, und weiteres Ausbruchmaterial dient für Dammschüttungen auf der neuen Strecke. Was übrig bleibt, wird interessierten Dritten angeboten.
Das wertvollste Ausbruchmaterial allerdings bleibt in öffentlicher Hand: Die Bergkristalle. Der Kanton Uri hat bereits einen Mineralienaufseher eingestellt: Dem Geologen Peter Amacher obliegt es, die kostbaren Quarze, Granate, Albite, Synchisite und Monazite für den Kanton sicher zu stellen, auch ein neues Mineral, das zum ersten Mal bei Amsteg gefunden wurde und nun den vorläufigen Namen Amstegit trägt. Natürlich stecken Tunnelarbeiter kleinere Kristalle schon mal in die eigene Tasche – als Andenken oder für die Kinder. Wer Kristalle hingegen abliefert, erhält einen Finderlohn. Im Büro der Bauleitung von Amsteg steht schon eine stattliche Serie leuchtender Kristalle im Regal. Die spektakulärsten Funde erwartet Amacher beim Bau am Haupttunnel im Abschnitt Amsteg-Sedrun: Rauchquarz, Adular, Anatas, Brookit, Chabasit, Skolezit. Die Namen gehen ihm über die Lippen wie gewöhnlich Sterblichen die Namen von Gemüse- oder Fruchtsorten.
Noch in diesem Jahr soll mit dem Bau der beiden 57 Kilometer langen Hauptröhren begonnen werden. Die Zugangsstollen an den Zwischenangriffen sind zum großen Teil fertig gebohrt. In Sedrun, wo wir 800 Meter senkrecht in den Berg gefahren sind, wird an der Multifunktionsstelle gebaut, die einem kleinen Bahnhof im Bergesinnern vergleichbar ist. Und irgendwann im Jahre 2007 wird der Berg durchstochen sein. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent, so prophezeien die Vermesser, wird man – bezogen auf die Mittellinie des Tunnels – höchstens zwanzig Zentimeter aneinander vorbeigebohrt haben.
Alle fünf Minuten wird künftig ein Zug durch den Tunnel fahren, in beiden Richtungen. Ohne dass sich die Züge im Berg begegnen.

Thomas Schmid – Berliner Zeitung – 30.06.2001

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