Die Putzfrau und der Vorstandschef

BADEN. Wenn die Topmanager dem Land den Rücken kehren und Unternehmer Niedriglohnjobs ins Ausland verlagern, wenn die Arbeitslosigkeit steigt, das Masseneinkommen sinkt und die Schweiz schließlich – so die Unkenrufe – zum Nordkorea Europas verkommt, dann ist in erster Linie er schuld: Cédric Wermuth. Der 27-jährige Sozialdemokrat, als Student vor zwei Jahren ins Parlament gewählt, ist zum Enfant terrible der konservativen Parteien, der Unternehmerverbände und der Banken avanciert. Er gilt als der geistige Vater der 1:12-Initiative, über die die Eidgenossen am 24. November abstimmen werden.


Die Schweizer müssen entscheiden, ob sie die Verfassung um einen Artikel erweitern wollen, der bestimmt: „Der höchste von einem Unternehmen bezahlte Lohn darf nicht höher sein als das Zwölffache des tiefsten vom gleichen Unternehmen bezahlten Lohnes.“ Der Topmanager soll also in einem Monat nicht mehr verdienen als die Putzfrau in einem Jahr. „Staatliches Lohndiktat!“, schimpfen die einen, „gerechte Löhne“ fordern die andern. Die Schweiz ist in Aufruhr.

Cédric Wermuth – man darf ihm dies getrost unterstellen – genießt den Aufruhr. Er liebt es, wenn Bewegung in die lahme Politik kommt. Harmoniesucht und Konfliktscheu sind seine Sache nicht. Er provoziert und polarisiert. Unvergessen seine Rede im Nationalrat, der großen Kammer des Parlaments, als er für die Abschaffung der Wehrpflicht plädierte. „Auf die Jagd gehen nach dem Feind. Durch den Dreck robben. Mit diesem Phallus-Ersatz, genannt Sturmgewehr, rumballern. In weitgehend sinnentleerten Solidargemeinschaften herumgrölen“, mokierte er sich übers Soldatenleben, „das kann definitiv nicht das Männerbild der Zukunft sein.“

Der Krieg der Zahlen

Solche Worte hatte man in den heiligen Hallen des Bundeshauses zu Bern selten gehört. Da will einer die Politik durchlüften, Bewegung in die Bude bringen. Es erstaunt nicht, dass Wermuth im FC Nationalrat, dem Fußballclub des Parlaments, Mittelstürmer ist. Immer vorneweg.

Wermuth wohnt im beschaulichen Städtchen Baden im Kanton Aargau, eine Viertelstunde Zugfahrt von Zürich entfernt. Er lebt in einer Wohngemeinschaft, zusammen mit einem spanischen Informatiker, einer Schweizer Studentin der Sozialarbeit und einem französischen Ingenieur. Die schlicht eingerichtete Wohnung befindet sich in einer engen Gasse der schmucken Altstadt, nur wenige Schritte entfernt von der Unvermeid-Bar, die von der stadtbekannten transsexuellen Schauspielerin, Regisseurin und Chanson-Diva Stella Palino geführt wird. Im Oktober 2011 gab es dort Freibier für alle. Auf Kosten Wermuths. Er war gerade ins Parlament gewählt worden.

Politik kennt er von klein auf. „Meine Eltern, beide Heilpädagogen, waren immer politisch aktiv“, sagt er „mein Vater hatte früher Freunde bei den Kommunisten, meine Mutter war bei Amnesty International engagiert. Bei uns zu Hause kreuzten Tamilen, Kosovaren und Kurden auf.“ Die Mutter stammt aus der französischen Schweiz, und so ist Cédric zweisprachig aufgewachsen. Die Großmutter väterlicherseits ist aus Italien zugewandert, und deshalb ist er Doppelbürger und nicht nur Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, sondern auch des Partito Democratico Italiens. Und ein wenig sieht Wermuth mit seinem gestutzten Bart und den dunklen Augenbrauen denn auch aus wie ein gealterter Secondo. So werden in der Schweiz Jugendliche mit Migrationshintergrund genannt.

Den Jungsozialisten (Jusos), der Jugendorganisation der Sozialdemokratischen Partei, trat Wermuth schon als 13-Jähriger bei. Das war 1999. Neun Jahre später war er ihr Chef und auch Vizepräsident der Partei. Es war in dem Jahr, als in den USA die Bank Lehman Brothers zusammenkrachte und die globale Finanzkrise ausbrach. Die größte Schweizer Bank, die UBS, konnte nur mit öffentlichen Geldern in Höhe von 76 Milliarden Franken (60 Milliarden Euro) vor dem Kollaps gerettet werden. Kurz danach schon gab sie bekannt, dass sie 2009 trotz gigantischer Verluste im Vorjahr drei bis vier Milliarden Boni ausschütten werde. „Die Millionensaläre der Topmanager wurden nun zu einem heiß diskutierten Thema“, erinnert sich Wermuth, „so lancierten wir 2009 die Volksinitiative ‚1:12 – Für gerechte Löhne‘. Wir wollten Öffentlichkeit schaffen und als politischer Player ernst genommen werden.“ Die Unterstützung durch die Partei sei dabei zunächst sehr zögerlich ausgefallen. „Die notwendigen 100 000 Unterschriften haben wir Jusos faktisch allein gesammelt. Und wir hatten sie überraschend schnell zusammen.“ Mitgetragen wird die 1:12-Initiative inzwischen vom Gewerkschaftsbund, den Sozialdemokraten und den Grünen. Alle anderen Parteien sowie die Unternehmerverbände sind gegen die Initiative. Auch Regierung und Parlament haben dem Volk empfohlen, sie abzulehnen.

Nun herrscht ein Krieg der Zahlen. Die Universität Sankt Gallen, Kaderschmiede der Nation, hat im Auftrag des Schweizerischen Gewerbeverbandes, der die Federführung der Nein-Kampagne übernommen hat, eine Expertise erstellt. Das Ergebnis: Falls die Initiative angenommen wird, muss im schlimmsten Fall mit Steuerausfällen in Höhe von 1,5 Milliarden Franken und einem Loch in der staatlichen Rentenkasse in Höhe von 2,5 Milliarden Franken gerechnet werden. Das Denknetz hingegen, ein linker Think Tank, kann keine dramatischen Ausfälle absehen. Die Konjunkturforschungsstelle der renommierten ETH Zürich wiederum rechnet mit einem Loch von allenfalls 125 Millionen Franken in der Rentenkasse. Eine eher bescheidene Summe.

Die unterschiedlichen Resultate hängen von den umstrittenen Annahmen und Hypothesen ab, die den Modellrechnungen zugrunde liegen. Das Problem besteht darin, dass niemand weiß, was geschehen wird, wenn sich 1:12 durchsetzt. Was wird dann aus der eingesparten Lohnsumme? „Unsere Hoffnung ist schon, dass die untersten Lohngruppen dann mehr Geld kriegen“, sagt Wermuth und schränkt sofort ein: „Aber es gibt da keinen Automatismus.“ Das würde jedenfalls den Konsum stärken und dem Staat zusätzliche Mehrwertsteuern in die Kassen spülen. Vielleicht aber wird der eingesparte Betrag nur zu erhöhten Unternehmensgewinnen führen.Oder es werden gewisse Tätigkeiten aus dem Niedriglohnbereich ausgelagert oder automatisiert. Möglicherweise werden Unternehmen zwecks Verkleinerung der Lohnschere aufgespalten – zum Beispiel in eine Management- und in eine Produktionsgesellschaft. „Es wird tausend kreative Ideen geben, wie man gegebenenfalls den Willen des Volkes umgehen kann“, prophezeit Wermuth, „doch spricht das nicht gegen die Initiative. Aber es sagt viel über das Demokratieverständnis jener aus, die mit solchen Ideen hausieren gehen.“

Betroffen von einer Regelung 1:12 wären nur wenige. In bloß 1,5 Prozent aller Schweizer Unternehmen mit mindestens drei Beschäftigten ist die Lohnspanne größer als 1:12. Es sind vor allem Unternehmen im Finanz- und Versicherungswesen, im Großhandel und der Unternehmensverwaltung und -beratung. Nur etwa 4 400 Topverdiener landesweit müssten mit einer Kürzung ihrer Gehälter rechnen: Zum Beispiel Severin Schwan, Chef des Pharma-Konzerns Roche. Er hat im letzten Jahr 15,791 Millionen Franken verdient – 261 Mal mehr als die am schlechtesten bezahlte Arbeitskraft seines Unternehmens.

Bei Nestlé beträgt die Lohnspanne 1:238, bei der UBS 1:194, beim Lebensmittelkonzern Migros immerhin noch 1:18, bei Coop just 1:12. Die öffentliche Verwaltung hingegen wäre von einem Erfolg der Initiative nicht betroffen. In der Stadt Zürich etwa ist die Lohnspanne 1:4,5.

Die UBS erwirtschaftete im vergangenen Jahr einen Verlust in Höhe von 2,5 Milliarden Franken – und zahlte gleichzeitig Boni in Höhe von 2,5 Milliarden aus. Allein der Investbanker Andrea Orcel erhielt 26 Millionen Franken Antrittsentschädigung, ein einmalig ausbezahltes Willkommensgeld. Es sind solche Zahlen, die der „Abzocker-Initiative“ im März dieses Jahres zum Erfolg verholfen haben. Zwei Drittel der Schweizer stimmten damals einer Verfassungsänderung zu, wonach in börsennotierten Unternehmen eine Generalversammlung aller Aktionäre über die Gesamthöhe der Boni zu entscheiden hat.“

Damals ging es um die Rechte der Aktionäre, nun geht es um die Löhne aller. Umso härter sind nun die Bandagen, mit denen gekämpft wird. Ruedi Noser, der für die wirtschaftsliberale FDP, die große bürgerliche Partei der Schweiz, im Nationalrat sitzt und gleichzeitig der Finanz- und Wirtschaftskommission von Economiesuisse, dem größten Dachverband der Unternehmer, angehört, hat SuccèSuisse gegründet. Der Verein hat sich die Verteidigung der liberalen Wirtschaftsordnung auf die Fahnen geschrieben. „Jetzt geht es wieder um Klassenkampf pur: die Linken gegen die Bürgerlichen“, sagte Noser der Neuen Zürcher Zeitung, „die Sozialdemokraten haben dem Erfolgsmodell Schweiz den Krieg erklärt.“ Und er wird noch schärfer: „Die 1:12-Initiative macht uns zum Nordkorea Europas: wirtschaftlich isoliert, aber alle gleich – alle gleich arm.“

„Die typische Angstkampagne vor der Abstimmung“, meint Wermuth lakonisch. Er bestreitet, dass die Initiative der Schweizer Wirtschaft schadet. „Das Gegenteil ist richtig“, sagt er, „eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums ist nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern auch ein Akt der wirtschaftspolitischen Vernunft. Das Geld muss den Kreisläufen der Finanzspekulation, wo es Unheil anrichtet, entzogen werden.“ Wenn der Neoliberalismus behaupte, die wirtschaftlichen Sachzwänge ließen keine Alternativen zu seinem eigenen Projekt zu, zeige er nur seine totalitären Züge. Den Begriff Marxist mag Wermuth nicht, aber dass ihn die marxistische Gesellschaftsanalyse stark beeinflusst hat, verhehlt er nicht. „Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte“, sagt er, „da hatte Marx schon recht.“

Wermuth steht kur vor dem Abschlus seines Politologie-Studiums. Dass die marxistische Theorie nicht mehr auf dem Lehrplan steht, hält er für absurd. „Ohne Marx kann man die Geschichte des modernen Denkens nicht verstehen“, sagt er. Klar, er ist ein Linker, aber was ist heute links? „Im Kern geht es um Freiheit, um die individuelle Freiheit“, antwortet er, „und diese muss man immer in ihrer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Dimension begreifen. Gegen die bürgerliche Markt- und Konkurrenzlogik muss der Versuch gemacht werden, jeden Bereich des Lebens einer demokratischen Logik einzuverleiben.“

Seine Gegner werfen Wermuth vor, er hole seine Rezepte aus der sozialistischen Mottenkiste, überhaupt sei er ein Linksradikaler, zudem wegen Hausfriedensbruchs rechtskräftig verurteilt. Das ist drei Jahre her, damals war er Juso-Chef. „Wir haben in einem seit Jahren leerstehenden völlig verlotterten Hotel eine Party gefeiert, um auf den eklatanten Mangel an bezahlbaren Wohnungen in der Stadt hinzuweisen“, sagt er, „das Urteil wegen Hausfriedensbruchs habe ich angefochten, aber es wurde in letzter Instanz vom Bundesgericht bestätigt: 20 Tagessätze und eine Buße von 300 Franken.“ Es wurmt ihn nicht. Im Gegenteil. „Der Streit hat mir zu nationaler Bekanntheit verholfen.“

Über Gerechtigkeit reden

Vermutlich ist der 27-jährige Wermuth inzwischen der bekannteste Schweizer Politiker seiner Generation. Jeden Tag hat der umtriebige Sozialdemokrat öffentliche Auftritte, in Großstädten wie in kleinen Dörfern. Ob er mit einem Erfolg der Initiative rechnet? Zurzeit liegen die Chancen laut Umfragen fifty-fifty. Noch. „Die Gegner mobilisieren nun gewaltig“, sagt Wermuth, „wir haben ein Budget von 700 000 bis 800 000 Franken, unsere Gegner bis zu 15 Millionen.“ Aber wichtiger als ein Erfolg ist ihm ohnehin, dass nun auf breiter Ebene Lohngerechtigkeit und Verteilungsfragen thematisiert werden.

Auch wenn die 1:12-Initiative scheitert, wird im Schweizer Klassenkampf keine Ruhe einkehren. Im kommenden Jahr steht eine vom Gewerkschaftsbund eingereichte Initiative zur Abstimmung: Ein Mindestlohn von 22 Franken (18 Euro) pro Stunde, also etwa 4 000 Franken (3 250 Euro) im Monat soll gesetzlich verankert werden. In Deutschland, wo bei den Koalitionsgesprächen ein Mindestlohn von 8,50 Euro im Gespräch ist, mag man über solche Größenordnungen staunen. In Zürich aber, wo die Curry-Wurst an der Imbissbude sieben Franken kostet, findet eine Mehrheit dies vielleicht angemessen.

Und bald nach der Abstimmung über die Mindestlohn-Initiative werden die Schweizer wieder zu den Urnen gerufen. Dann wird es um die Erbschaftssteuer gehen. Die 1:12-Initiative ist also nur ein Anfang. „Es geht um die öffentliche Thematisierung von Verteilungsfragen“, sagt der Politologe Wermuth und verabschiedet sich. Er muss in ein Fernsehstudio, in einer Talkshow gegen den Chemieunternehmer und früheren Justizminister Christoph Blocher antreten – der linke Student gegen die Galionsfigur des schweizerischen Rechtspopulismus.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 07.11.2013

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