Der Stoff, aus dem die Zukunft ist

GAFSA. Die Sonne hat die kahlen Berge am nahen Horizont in goldenes Licht getaucht. Wind wirbelt Staub über die Straße. Es ist brütend heiß. Hier, am Rand der Wüste, hat Ridha Labidi eine Müllkippe gekauft, wenige Kilometer außerhalb von Gafsa, einer Stadt im Zentrum Tunesiens. Er hat die Abfallmassen abtragen lassen und 42000 Kubikmeter frische Erde herangekarrt. Zwanzig Jahre ist das Geschäft her. Nun führt Labidi den Besucher durch sein Paradies: Bananenstauden mit großen lilafarbenen Blüten, mit Dattelbündeln beladene Palmen, Olivenbäume und Blumen in allen Farben. Früher war Labidi Bauunternehmer, das Geschäft machte ihn zu einem schwerreichen Mann. Jetzt hat er auf einem billigen Plastikstuhl Platz genommen. „Das ist mein andalusischer Garten“, sagt er mit strahlendem Gesicht. Er scheint der glücklichste Mensch der Welt zu sein.


Noch hat Labidi, Jahrgang 1958, seinen Traum nicht ganz verwirklicht. Zwar ist das große schneeweiße Gebäude, das mit seinen Zinnen an ein Märchenschloss erinnert, fertig. Doch die Innenausstattung lässt auf sich warten. Der Kinosaal mit 200 Stühlen ist noch ein dunkles Loch. Immerhin hat im fast fertigen Raum für Konzerte und Theater, der 700 Personen Platz bietet, bereits die Rachidia gespielt, die älteste Musiktruppe Tunesiens. Der Saal war rappelvoll. Für das Film-Festival im kommenden Jahr erwartet Labidi sogar 3000 Besucher. Die Veranstaltung wird unter freiem Himmel stattfinden.

Rebellion und Repression

Bevor er ins Baugeschäft einstieg, hat sich Labidi in Syrien mit orientalischer Musik befasst, im Irak mit Kalligraphie und islamischer Architektur. Über Politik redet er ungern, lieber über Kultur. Aber seine Meinung zur Regierung der islamistischen Ennahda, gegen die seit zwei Wochen massiv protestiert wird, tut er dennoch kund. „Kultur bedeutet den Islamisten nichts“, sagt er, „Dialog und Auseinandersetzung sind ihnen fremd.“ Radikale Salafisten haben Ausstellungen zerstört, Konzerte verhindert, Künstler attackiert. Die Regierung ließ sie gewähren.

Ridha Labidi will gegensteuern: Schulklassen einladen, internationalen Kulturaustausch pflegen. Im kommenden Jahr soll in seinem Paradies ein Festival für Dokumentarfilme mit ökologischen Themen stattfinden. Er hat schon 220 Filme beisammen, viele hat er aus dem Ausland erhalten – aus Belgien, Marokko, Senegal.

Vielleicht wird es auch einen Beitrag über seine Heimatstadt Gafsa geben. Das wäre spannend. Denn hier in Gafsa sind die Themen Ökologie, Wirtschaft und Revolution eng miteinander verknüpft. Es ist die Stadt, in der sich die Zukunft des Landes entscheiden könnte.

Gafsa ist das Zentrum der tunesischen Phosphatindustrie. Und Phosphat ist – vor dem Tourismus – die wichtigste Devisenquelle. Tunesien gehört zu den weltweit größten Exporteuren des Minerals, das in zahlreichen Bergwerken zwischen Gafsa und der algerischen Grenze abgebaut wird. Doch bevor es exportiert wird, muss es gewaschen und verarbeitet werden – mit dramatischen Folgen.

Etwa ein Dutzend riesige Waschanlagen gibt es in dem 6000 Quadratkilometer großen Phosphatbecken. Das Wasser wird dort mit Chemikalien versetzt. Das Resultat: sauberes Phosphat und verseuchtes Grundwasser. „Weil man die industriellen Abwässer in der Wüste versickern lässt“, sagt Ridha Labidi. Den Schafen fielen sogar die Zähne aus. „Das wird Ihnen in der Oase von Gafsa jeder Bauer bestätigen.“

Aber es kommt noch schlimmer: Das gewaschene Phosphat wird in der großen Chemiefabrik von Gafsa zu TSP (Triple Super Phosphat) verarbeitet, das weltweit in Düngemitteln und Waschpulver zum Einsatz kommt. Der Schlamm, der zurückbleibt, übersäuert die Böden. „Dazu kommt die unsichtbare Dauerberieselung mit Stäuben, die die Fabrikschlote in den Himmel pusten“, sagt Labidi und erzählt, dass die Krebsrate im Regierungsbezirk Gafsa seit langem signifikant höher sei als im Rest des Landes. Viele Einwohner würden die umliegenden Ortschaften aus Angst verlassen.

Mohamed Miraoui macht eine andere Rechnung auf. Der regionale Generalsekretär des mächtigen Gewerkschaftsbundes UGTT, ein Mann mit grauem Haar und grauem Schnäuzer, bittet in sein karg eingerichtetes Büro im Zentrum von Gafsa. Er bedauert sehr, dass die Phosphatproduktion nach der Revolution massiv eingebrochen ist. Hatte Tunesien im Jahr 2010 acht Millionen Tonnen gefördert, werden es 2013 gerade noch drei Tonnen sein. Zugleich ist der Weltmarktpreis für TSP im selben Zeitraum auf die Hälfte gefallen.

Tunesien nimmt somit über den Export von Phosphat heute weniger als ein Fünftel dessen einnimmt, was es vor dem Sturz der Diktatur eingenommen hat. Miraoui hofft, dass mit einer zweiten Chemiefabrik, die gerade von Südkoreanern und Chinesen gebaut wird, die Produktion vorrevolutionäres Niveau erreicht und 2000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. „Dann bräuchten wir keine Auslandskredite mehr“, behauptet er.

So stehen der ökologischen Vernunft, an die der ehemalige Unternehmer Labidi appelliert, die ökonomischen Zwänge entgegen, die der Gewerkschafter Miraoui ins Feld führt: Wenn die Phosphatproduktion weiter einbricht, droht dem Land der wirtschaftliche Kollaps. Es wäre der Todesstoß für die Jasmin-Revolution, auf die so viele Tunesier ihre Hoffnungen gesetzt haben.

Die „Compagnie des Phosphates de Gafsa“ (CPG) ist der größte Arbeitgeber der Region. Vor der Revolution waren 5000 Personen beim staatlichen Bergbaukonzern beschäftigt, heute sind es 6000. Trotz sinkender Produktion und sinkenden Preisen. „Um die explosive Lage zu beruhigen“, erklärt der Gewerkschafter. Doch funktioniert hat das nicht. Seit der Revolution blockieren organisierte Arbeitslose immer wieder die Zufahrtsstraßen zu den Bergwerken oder besetzen die Gleise, auf denen das verarbeitete Phosphat an die Küste gefahren wird. Der Gewerkschafter ist strikt gegen die illegalen Aktionen. „Vor allem deshalb ist die Produktion eingebrochen“, sagt er. Aber er versteht die militanten Aktivisten auch. „Sie wollen ja nur Arbeit.“ Mohamed Miraoui ist 55 Jahre alt. Es könnten seine Kinder sein.

Außerdem teilt er ihre Hauptforderung. Die organisierten Arbeitslosen verlangen Transparenz bei der Jobvergabe. Zwar werden die wenigen freien Stellen öffentlich ausgeschrieben, und es gibt ein Punktesystem, in dem die Dauer der Arbeitslosigkeit, das Alter, das Familieneinkommen und die Qualifikation eine Rolle spielen. Doch von Transparenz bei der Auswahl kann keine Rede sein. Der Gewerkschaft wird jede Kontrolle verwehrt. Den Arbeitslosen sowieso. Die Ennahda schanze freie Stellen vor allem eigenen Mitgliedern und Sympathisanten zu, argwöhnt Miraoui – und lässt durchblicken, dass es mehr als eine Vermutung ist. Solange die Jobvergabe aber so ablaufe, komme Gafsa nicht zur Ruhe. Denn der Druck ist hoch: Auf einen Job gibt es hundert Bewerbungen. „Wenn es in den letzten Wochen weniger Blockaden und Barrikaden gegeben hat“, sagt der Gewerkschaftler, „ist dies wohl nur der extremen Hitze und dem Fastenmonat Ramadan zu verdanken.“

Gafsa ist keine schöne Stadt. Touristisch hat der Ort nichts zu bieten. Kein Gebäude, vor dem man stehen bleiben würde. Kein Plätzchen, das zum Verweilen einlädt. Nicht mal ein malerischer Markt. Gafsa wirkt seelenlos, verlassen. Aber die Stadt ist das Herz der tunesischen Arbeiterbewegung, und darauf sind viele stolz. Rebellion und Repression haben hier eine lange Geschichte. Schon 1937 wurde ein Bergarbeiterstreik blutig niedergeschlagen, 17 Bergleute verloren ihr Leben. 1980 kam es zu einem lokalen Aufstand. Und 2008 traten in der ganzen Phosphatregion Bergleute in den Generalstreik, die Zentralen des Bergbaukonzerns wie der Gewerkschaft wurden besetzt. Ein halbes Jahr lang dauerte der Aufstand, von dem nur wenig nach außen drang, der aber die Saat legte für die Revolution, die drei Jahre später die Diktatur hinwegfegte und den arabischen Frühling auslöste.

Ghazela Mhamdi erinnert sich noch genau an das Jahr 2008. Es war das Jahr, in dem ihr die Polizei mit Fausthieben die Nase brach, weshalb sie 30 Tage im Krankenhaus lag. Die damals 30-Jährige organisierte in jener Zeit die Solidarität mit den streikenden Bergarbeitern und bekochte sie, sammelte Unterschriften, verbreitete Informationen, ging mit Freunden zu Demonstrationen und trat sogar in einen Hungerstreik. Kurz nach dem Angriff wurde sie als Zeugin vor Gericht geladen, aber in aller Öffentlichkeit vor dem Gerichtsgebäude erneut zusammengeschlagen. Noch heute benötigt sie Therapien für ihr Kniegelenk.

In Gafsa kennt jeder die mutige Frau, die ihr langes schwarzes Haar stets offen trägt und die – höchst ungewöhnlich im konservativen Süden Tunesiens – als unverheiratete Frau nicht bei den Eltern wohnt, sondern ein Single-Dasein führt. „Noch jedenfalls“, sagt sie lachend. Ghazela Mhamdi wurde schon in die USA eingeladen, um über die Geschichte der Jasmin-Revolution zu berichten, die von jungen Akademikern aus dem Landesinnern ausging, die Arbeit suchten – als Voraussetzung für ein normales Leben, für die Gründung einer Familie, für ein Leben in Würde. Schon 2005 hatte Ghazela Mhamdi zusammen mit Freunden die erste Vereinigung arbeitsloser Akademiker gegründet. Heute sind diese längst landesweit organisiert.

Sprecher der Initiative in Gafsa ist Faiez Akermi. Er ist Historiker, spezialisiert auf Mediävistik, Erforschung des Mittelalters. Seine Diplomarbeit hat er über byzantinische Geschichte geschrieben. Nicht gerade die Fachrichtung, die auf dem Arbeitsmarkt gefragt ist. Andererseits hätte er als Ingenieur nur geringfügig bessere Chancen, weil die Arbeitslosigkeitsrate in Gafsa über 40 Prozent beträgt. Akermi ist bereit, jeden Job anzunehmen. Seit 2009 ist er arbeitslos.

Jüngst habe ihm der von der Ennahda kontrollierte Phosphatkonzern dann doch eine Stelle angeboten, im Transportwesen, berichtet Akermi. „Ich habe abgelehnt, weil man von mir verlangte, mich öffentlich von der Union akademischer Arbeitsloser zu distanzieren.“ Es sei nur darum gegangen, die Organisation zu zerschlagen, behauptet er. Akermi ist 34 Jahre alt und lebt wie seine fünf arbeitslosen Geschwister und die Mutter von der Rente des Vaters. Der Staat bezahlt dem ehemaligen CPG-Angestellten 600 Dinar im Monat, etwa 300 Euro.

Kein Stein, kein Tränengas

Ghazela Mhamdi hingegen hat inzwischen eine Arbeit beim örtlichen Steueramt. Aber die Aktivistin lässt sich nicht ruhigstellen. „Die Islamisten haben uns die Revolution gestohlen“, sagt sie, „ich habe für ein anderes Tunesien gekämpft, als jenes, das wir jetzt haben.“ Und sie erinnert noch mal an ein Treffen: „Um 17 Uhr am Supermarkt Carrefour.“

Über Hundert Personen sind am Abend zum Supermarkt gekommen. Auch Ghazela Mhamdi. Einige tragen Fotos eines jungen Mannes. Der Trauerzug pilgert zum Friedhof. An einem Grab werden Blumen niedergelegt. Es wird gebetet. Hier liegt Mohamed Al Mufti. Vor dem Regierungsgebäude in Gafsa demonstrierte er am 26. Juli gegen den Mord an einem Linkspolitiker, der vermutlich von Salafisten erschossen worden war. Die Tat trieb im ganzen Land Hunderttausende auf die Straße, die den Rücktritt der Regierung forderten. Al Mufti wurde von einer Tränengasgranate getötet.

Der Trauerzug verlässt den Friedhof, wird zum Demonstrationszug, zieht vor das Regierungsgebäude. Einige entzünden Kerzen an dem Ort, an dem Al Mufti tödlich verletzt wurde. Polizisten mit Knüppeln und schusssicheren Westen beziehen zehn Meter entfernt Stellung. Ihre Gesichter haben sie hinter Strumpfmasken verborgen. Kein Wort fällt. Kein Stein. Keine Tränengasgranate. Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde. Dann löst sich die kleine Demonstration auf. Es ist kein Blut geflossen. Aber beide Seiten wissen, dass es morgen schon anders sein kann.


© Berliner Zeitung

In der publizierten Fassung wurde der frühere Bauunternehmer Abidi genannt. Er heißt in Wirklichkeit Labidi. Der Fehler wurde in der vorliegenden Fassung korrigiert.

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 14.08.2013

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