Ein Land im Ausnahmezustand

TUNIS. Präsident Zine el Abidine Ben Ali ist weg, vielleicht auf dem Weg nach Paris. Nur vorübgergehend sei er weg, heißt es amtlich. Keiner glaubt, dass Ben Ali wiederkommt. Leila Trabelsi, seine als raffgierig und korrupt verschriene Frau soll sich schon seit mindestens einer Woche in Dubai aufhalten. Sakhr El Matri, der Schwiegersohn des Präsidenten, der sich die Filetstücke der tunesischen Wirtschaft unter den Nagel gerissen hat, weilt bereits in Kanada. Hat die Armee den Flughafen gesperrt, damit nicht noch weitere Mitglieder des verhassten Clans das Weite suchen? Tunis läuft über von Gerüchten. Es herrscht Ausnahmezustand. Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi hat vorübergehend die Nachfolge Ben Alis angetreten. Der Präsident sei derzeit nicht in der Lage, sein Amt auszuüben, sagt er.

Der Ausnahmezustand herrscht offiziell seit dem späten Freitagnachmittag. Was das genau heißt, weiß niemand so recht. Wird die Armee polizeiliche Funktionen übernehmen? Vielen Tunesiern wäre es wohl gar nicht so unrecht. Die Polizei ist weithin verhasst, weil sie korrupt und weil sie brutal ist. Die Armee hingegen, die in Tunesien anders als in Algerien nie als ein wesentlicher Machtfaktor galt, war an den Repressionen der vergangenen vier Wochen nicht beteiligt. Sie wurde allenfalls zum Schutz öffentlicher Gebäude eingesetzt.


Freude und Gewalt


Der Freitag hatte gut begonnen. Es schien ein historischer Tag. Die Menschen versicherten es sich immer wieder gegenseitig, als ob sie es selbst nicht glauben könnten. Der starke Mann des Landes hatte nachgegeben. Auf dem Boulevard wurde immer wieder die Nationalhymne gesungen. Fremde Leute fielen sich um den Hals, und manch einer wischte sich verschämt eine Träne aus dem Gesicht. Ein Sarg mit einem jungen Mann, der gestern in Tunis Polizeischüssen zum Opfer gefallen war, wurde durch die Straßen getragen. Es waren sehr emotionale Szenen. Tausende Handys wurden in die Höhe gereckt, um über die Köpfe hinweg Fotos zu schießen. Man will es den Kindern und Enkeln eines Tages beweisen: Ich war dabei.


Dann aber kam völlig unerwartet, alles wie gehabt: In fünf bis zehn Minuten räumte die Polizei mit Schlagstock und Tränengas den etwa ein Kilometer langen Boulevard frei. Anlass war möglicherweise, dass Demonstranten versuchten, ins Innenministerium zu gelangen. Oder waren es Provokateure, die zum Fenster hochkletterten? Niemand weiß Genaues. Nur unüberprüfbare Gerüchte machten die Runde. Von den Balkons ihrer Hotelzimmer aus beobachteten Journalisten zahlreiche Zivilpersonen, die mit langen Holzstangen, Brettern oder Eisenrohren gemeinsam mit Polizisten patrouillierten und Passanten verprügelten. Am Abend war der Boulevard dann menschenleer. Ab und zu waren Schreie zu hören. Auch waren einzelne scharfe Schüsse im Zentrum zu vernehmen, deutlich unterscheidbar von den dumpfen Schüssen, mit denen die Tränengasgranaten abgefeuert werden.


Am Donnerstagabend noch hatten auf demselben Boulevard – zehn Minuten nach Inkrafttreten der Ausgangssperre, aber von der Polizei völlig unbehelligt – rund tausend Anhänger des Präsidenten Fähnchen mit dessen Konterfei geschwenkt und den Mann hochleben lassen, der im Polizeistaat Tunesien die Politik seit 1987 diktiert. Damals hatte Ben Ali als Innenminister und Geheimdienstchef seinen Vorgänger Habib Bourguiba amtsärztlich für senil erklärt und unter Hausarrest gestellt. Die Jubel-Tunesier waren in Bussen des öffentlichen Verkehrs herangekarrt worden. Würde das Regime nun auf breiter Ebene zur Gegenmobilisierung blasen? Das Schlimmste war zu befürchten.


Doch am Freitagmorgen waren die zahlreichen Polizeispitzel vor den Hotels an der Avenue Habib Bourguiba, wo die meisten ausländischen Journalisten untergekommen sind, bereits abgezogen. Vor der Zentrale des gewerkschaftlichen Dachverbandes, der zu einem zweistündigen Generalstreik aufgerufen hatte, versammelten sich schon ab neun Uhr Demonstranten, die Parolen gegen Ben Ali schrien. Als sie auf den nahen Boulevard zu strömen versuchten, wurden sie zunächst von einem Polizeikordon aufgehalten. Zwei Busse fuhren heran und luden vor den Demonstranten einige Dutzend Zivilpolizisten aus. Die Situation war zum Zerreißen gespannt. Doch die Polizei zog ab und die Demonstranten stürmten vor das Innenministerium.


Dort verlangten sie über Stunden hinweg immer wieder in Sprechchören den Rücktritt Ben Alis und ließen die „Märtyrer“ hochleben, also die Dutzenden Toten, die die vier Wochen Unruhen gekostet hatten.


Erst am Tag zuvor waren noch einmal 13 Jugendliche unter den Kugeln der Polizei gestorben, allein in Tunis vier. Die letzten drei von ihnen wurden im Zentrum der Hauptstadt erschossen, wenige Stunde, bevor der Präsident die politische Öffnung bekannt gab. „Im Namen Gottes, des Gnädigen und Barmherzigen“, begann Ben Ali, „liebes tunesisches Volk, ich wende mich heute an euch, an alle Tunesier im In- oder im Ausland. Ich wende mich an euch in der Sprache der Tunesierinnen und Tunesier, weil die Lage einen tiefgreifenden und umfassenden Wandel erfordert.“ Der Präsident, der sonst in der Öffentlichkeit hocharabisch spricht, redete überraschend im tunesischen Dialekt.


Neben der Gewährung von Pressefreiheit und einem freien Zugang zum Internet versprach Ben Ali auch, „die Demokratie zu stärken und den Pluralismus zu fördern“. Er meinte, dass „im Bereich der Demokratie und der Freiheiten gewisse Sachen nicht so gelaufen sind, wie ich wollte“ und gab seinen Beratern die Schuld: „Gewisse Leute haben mich zu Fehlern verleitet, in dem sie mir die Tatsachen verschwiegen haben.“ Und mit noch mehr Chuzpe behauptete er: „Ich habe an keinem einzigen Tag akzeptiert und ich werde nie akzeptieren, dass auch nur ein Tropfen tunesisches Blut fließt.“


Unter den Demonstranten vor dem Innenministerium fragte man, wie es nun weitergehen soll. Ben Ali hat es geschafft, die politische Landschaft zu zerstören. Er hatte einige linientreue Parteien zugelassen, die selbst im vergangenen Wahlkampf ums Präsidentenamt ihren Konkurrenten Ben Ali hochleben ließen. Andere Parteien wurden marginalisiert, in dem man ihnen jede öffentliche Kundgebung, jede Versammlung verbot und führende Mitglieder immer wieder verhaftete. So wurden allein in der letzten Woche sieben Repräsentanten der sozialdemokratischen PDP festgenommen, ebenso der Chef der kleinen kommunistischen POCT, nachdem Polizisten im Morgengrauen die Tür seiner Wohnung eingetreten hatten.


„Lasst uns nicht allein“


Bei der großen Siegesfeier vor dem Innenministerium wurden die Auslandsjournalisten regelrecht belagert. Immer wieder wurden sie mit Dank überschüttet. Die Leute sind froh, dass die Welt erfährt, was in ihrem Land vorgeht. Die tunesischen Journalisten haben nie über die wirklichen Probleme des Landes geredet, nie über den Terror im Polizeistaat. Seit gestern herrscht nun Pressefreiheit.


Man darf gespannt sein, wie die Medien über die brutale Auflösung der Siegesfeier berichten. Wird man die Fotos von mit langen Holzstöcken und Eisenrohren bewaffneten zivilen Polizeiagenten sehen? Wird man die Meinung der Menschen einholen? Wird jemand für den Tod all der jungen Menschen, die in den letzten Wochen sterben mussten, bis der Präsident endlich aufgab, zur Rechenschaft gezogen? Fragen über Fragen. „Lasst uns nicht allein“, hatte eine Frau am Feitagnachmittag den Auslandsjournalisten zugerufen, bevor sie in den Tränengasschwaden verschwand.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 15.01.2011

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