Straßenkämpfe nach der friedlichen Revolution

TUNIS. Auf der Avenue Habib Bourguiba im Zentrum der tunesischen Hauptstadt hat die Armee massiv Stellung bezogen. Vor dem Innenministerium und vor der französischen Botschaft stehen schwere Schützenpanzer. An einigen Seitenstraßen, die in den für den Verkehr inzwischen gesperrten Prachtboulevard münden, entscheiden zivil gekleidete Personen mit mächtigen Holzprügeln in der Hand, wer durchgelassen wird. Anderswo ist der Zugang wiederum frei. Es ist unwichtig. Hunderte knüppelbewehrter Zivilpolizisten haben hier ohnehin alles unter Kontrolle. Die Geschäfte sind schon seit drei Tagen ausnahmslos geschlossen. Die zahlreichen Straßencafés ebenso. Die quirlige Avenue Habib Bourguiba, wo sonntags in gewöhnlichen Zeiten Tausende flanieren, ist ausgestorben.

Aber die Zeiten sind nicht gewöhnlich. Der langjährige Präsident des Landes, Zine el Abidine Ben Ali, ist am Freitag nach Saudi-Arabien geflüchtet, nachdem er vorübergehend Premierminister Mohamed Ghannouchi als seinen Nachfolger eingesetzt hatte. Doch der blieb keine 24 Stunden in seinem neuen Amt. Der Verfassungsrat ernannte am Sonnabend – nach Artikel 57 der Verfassung, der den Fall eines Machtvakuums regelt – den Parlamentspräsidenten Foued Mebazaa zum Staatspräsidenten. Mebazaa, 77 Jahre alt und Sportminister unter Ben Alis Vorgänger Habib Bourguiba, gilt als braver Gefolgsmann des geflüchteten Despoten. Am Sonnabend betraute er Ghannouchi mit der Bildung einer Koalitionsregierung. Der Premier traf sich am Sonntag mit Oppositionspolitikern. Spätestens in zwei Monaten müssen laut Verfassung Präsidentschaftswahlen stattfinden.

Ben Alis Anhänger wüten weiter

Über ganz Tunesien wurde der Ausnahmezustand verhängt, ab 17 Uhr gilt eine strikte Ausgangssperre. Die verstärkte Präsenz der Armee wird von den meisten Tunesiern gutgeheißen. Die Streitkräfte haben keinen schlechten Ruf. Sie waren nicht in die Repression involviert, während die Polizei als korrupt und brutal gilt. Dass die Armee am Flughafen offenbar die Ausreise hochkorrupter Mitglieder des Familien-Clans von Ben Ali verhinderte, möglicherweise Hunderte Polizisten von Spezialeinheiten festnahm und nun auch gegen die Leibgarde Ben Alis vorgeht und deren Chef verhaftete, mehrt ihren Ruf.

Zivilpolizisten und bewaffnete Anhänger der Regierungspartei, die man hier Milizionäre nennt, verbreiten jedoch auch nach Ben Alis Flucht Terror. Im Hauptbahnhof von Tunis wurden sämtliche Fahrkartenschalter und Läden zerstört sowie ein Café und ein Kiosk in Brand gesetzt. Noch stinkt es nach Rauch. Die Züge fahren nicht mehr. Vor der Eingangshalle haben Soldaten Stellung bezogen. „Es waren Milizionäre“, sagt der Bahnhofsvorstand, der vor Ort war, mit Bestimmtheit, „Männer des Regimes, keine Demonstranten, genau wie im Hôpital Charles Nicolle, glauben Sie mir.“

Das Hôpital Charles Nicolle, das zweitgrößte Krankenhaus der Hauptstadt, liegt oberhalb der Medina, der Altstadt mit ihren überdachten Souks. Auf dem Gelände vor der Chirurgie-Station diskutiert aufgeregt eine Gruppe von Ärzten. „Sie kamen nach Inkrafttreten der Ausgangssperre mit Ketten und Eisenrohren und verlangten Zutritt zum Gelände“, berichtet Nadia Kaffel Ben Cherif, Fachärztin für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, „es waren Milizionäre.“ Zusammen mit herbeigeeilten Anwohnern hätten die Ärzte die Eindringlinge abwehren können. Offenbar handelte es sich um einen Racheakt. Über 5000 Mitarbeiter verschiedener Krankenhäuser hatten am Freitag hier oben auf einer Demonstration den Rücktritt Ben Alis verlangt.

In La Marsa allerdings hat auch die andere Seite zugeschlagen. La Marsa ist der Nobelvorort von Tunis. Hier, direkt am Meer, etwa zwanzig Kilometer außerhalb des Stadtzentrums, hat der verzweigte Clan Ben Alis und seiner Ehefrau Leila Trabelsis seine Villen. Rached Achour kennt sie alle, denn sie haben in seinem Laden Fisch, Garnelen und Muscheln gekauft. „Leila Trabelsi“, sagt der Fischhändler, „kam aus der untersten Unterschicht, sie war Friseuse, sie musste in ihrer Kindheit vieles entbehren, vielleicht ist sie deshalb so raffgierig geworden.“ Dann zeichnet Achour ein Organigramm des Clans: Leila Trabelsi, ihr Neffe Imed, ihre Brüder Med, Mourad und Monsef, dessen Sohn Moez, ihre Schwestern und deren Ehemänner … 28 Namen hängen am gekritzelten Stammbaum, dann ist das Blatt voll und Achour bittet um noch einen Zettel, denn die Verwandten der Verwandten sind längst nicht alle aufgezählt.

Mindestens neun Angehörige des Clans habe die Armee, die am Freitag den Flughafen vorübergehend schloss, an der Ausreise gehindert, behauptet Achour. Und Imed Trabelsi sei in der Abflughalle getötet worden. Am Abend wird der Tod des ersten Mitglieds der Familie des geflüchteten Präsidenten offiziell mitgeteilt. Imed Trabelsi, von Frankreich im Zusammenhang mit dem Diebstahl einer Luxusyacht polizeilich gesucht, war vor Kurzem Bürgermeister von La Goulette geworden. Dort soll der bedeutende Frachthafen erweitert werden und es winke viel Geld, behaupten die Leute.

Ungefähr 20 Villen wurden in La Marsa geplündert und zum Teil in Brand gesteckt. „Sie gehörten alle dem Trabelsi-Clan“, behauptet Achour. Die ersten beiden Häuser stehen keine zehn Fußminuten vom Fischladen entfernt. Sie sind im neoklassischen Stil erbaut. Die Fenster sind eingeschlagen, im Garten liegen zerbrochene Möbel. Einige Mauern sind rußgeschwärzt.

Bürgerwehr im Badeort

Auf der Hauptstraße, die zum Badeort Gammarth führt, gibt es über ein Dutzend Straßensperren aus Betonklötzen, Plastikstühlen, Blumentöpfen und Abfalleimern, errichtet von Anwohnern. Die Menschen haben Angst vor Plünderern. Sie stehen da mit langen Stöcken, Ketten, Schaufeln und Pickeln, um ihre Habe zu verteidigen: Betagte Männer, junge Frauen, Halbwüchsige beiderlei Geschlechts. „Die Gewerkschaft hat uns aufgerufen, uns kollektiv zu verteidigen“, sagt Nina, eine schmächtige Frau mit einer großen Axt in den Händen, „gestern Nacht kamen Räuber und brachen hier überall in unsere Häuser ein. Wir werden nun die ganze Nacht Wache halten.“ Auch der Ministerpräsident hatte dazu aufgerufen: Die Polizei könne die Sicherheit nicht gewähren – die Leute glauben, dass sie es auch gar nicht will.

Der Rückweg in die Stadt führt über Carthage, das alte Karthago. Hier residierte bis vor drei Tagen Ben Ali, und hier ist ein Supermarkt abgebrannt. Auch er gehörte dem Trabelsi-Clan. Dutzende Autos fahren am Sonntagnachmittag vor und laden ein, was übriggeblieben ist. Die Lebensmittel sind schließlich vielerorts knapp geworden.

Zurück im Zentrum. Die Avenue Habib Bourguiba ist menschenleer. Vor der französischen Botschaft fallen zwei Schüsse. Weitere Panzerfahrzeuge fahren vor. Die Soldaten sind nervös und rennen zum Teil mit gezückten Pistolen über den Bürgersteig. Von Auseinandersetzungen zwischen Zivilpolizisten und Soldaten ist die Rede, vielleicht sind es auch Angehörige der Leibgarde Ben Alis. Niemand weiß Genaues. In den Hauseingängen kauern Menschen. Es fallen weitere Schüsse, keine Salven, aber Dutzende von Einzelschüssen, immer wieder, seit einer halben Stunde schon. Heckenschützen? Am Freitag hatten hier über zehntausend Menschen den Sieg über Ben Ali gefeiert.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 17.01.2011

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