Feigenschnaps und Nüsse

DJERBA. Es war einmal eine junge Frau. Sie lebte ganz allein in einer einfachen Holzhütte in einer ziemlich öden Landschaft auf einer Insel, die heute Djerba heißt und zu Tunesien gehört. Die Frau war so schön, dass keiner im Dorf es wagte, sich ihr zu nähern. Erst als die Hütte eines Tages Feuer fing, rannten die Leute hin und entdeckten zu ihrer großen Verwunderung, dass die schlichte Behausung komplett abgebrannt, der Körper der fremden Frau aber unversehrt geblieben war. Da wussten sie, dass eine Heilige gestorben war, und sie errichteten am Ort eine Synagoge, die sie El Ghriba, auf Deutsch „die Fremde“, nannten.


Vielleicht hat es sich aber auch ganz anders zugetragen. Etwa so: Als Nebukadnezar im Jahr 586 vor unserer Zeitrechnung Jerusalem eroberte, den Tempel Salomos zerstörte und das jüdische Volk in die babylonische Gefangenschaft führte, gelang einigen Juden die Flucht. Sie nahmen einen Stein, vielleicht auch eine Türe des zerstörten Tempels mit, schlugen sich durch die libysche Wüste und errichteten auf Djerba eine Synagoge, die Ghriba, in die sie die geretteten Reste des ersten Tempels von Jerusalem einbauten.

Wie auch immer es gewesen ist: Die Ghriba gilt als älteste Synagoge Afrikas, der erste Bau wurde im sechsten Jahrhundert errichtet. Einmal im Jahr versammeln sich hier Juden aus der tunesischen Diaspora, aus Frankreich, der Schweiz und Israel. Sie alle sind angereist zum Lag Ba Omar, am 33. Tag nach dem Pessach-Fest. An diesem Tag soll Rabbi Schimon Bar Jochai, ein Mystiker aus dem 2. Jahrhundert, gestorben sein. Er gilt hier als der Verfasser des Zohar. Doch das wichtigste Werk der jüdischen Kabbala wurde wohl erst tausend Jahre nach dem Tod des Rabbi geschrieben.

Über der Synagoge kreist ein Militärhubschrauber. Die Zufahrt zur Wallfahrtsstätte, die weitab jeder Siedlung steht, ist streng überwacht. Jedes Gepäckstück wird geröntgt. Am Eingang der Ghriba erinnert eine Tafel in arabischer, französischer und deutscher Sprache an die Tragödie, die sich hier vor elf Jahren zugetragen hat. Ein 25-jähriger Selbstmordattentäter hatte einen Tankwagen voll Flüssiggas vor der Synagoge zur Explosion gebracht. 21 Menschen starben, unter ihnen 14 deutsche Touristen.

Nach dem Anschlag brach in Tunesien nicht nur der Tourismus radikal ein. Seither pilgern auch deutlich weniger Juden nach Djerba, zumal seit dem Wahlsieg der gemäßigten Islamisten vor anderthalb Jahren radikale salafistische Gruppen Morgenluft wittern. Im vergangenen Jahr rief ein salafistischer Scheich auf dem Prachtboulevard im Zentrum von Tunis zur Tötung von Juden auf, und im Rundfunk forderte ein salafistischer Imam die Ausrottung aller Juden. Kamen vor dem Attentat am Lag Ba Omar noch jedes Jahr an die zehntausend Juden zur Ghriba, sind es dieses Mal gerade noch etwas mehr als tausend.

50 Kilo Gold für die Deutschen

Das Ehepaar La Salle aus dem französischen Nancy hat sich nicht abschrecken lassen. Die beiden Rentner stehen im hinteren Teil der Synagoge, die aus zwei überdachten Sälen besteht. Das Haupt hat er mit einer Kippa, sie mit einem Kopftuch bedeckt. Er fotografiert die blau-weißen Gewölbebögen, die Fayencen, die silbernen Votivtafeln, die Teva, einen jüdischen Kalender, hebräische Inschriften und das Mauerstück, das angeblich vom zerstörten Tempel Salomos stammt. Sie beschriftet drei Eier mit den Namen ihrer Enkelinnen. Dann kriecht sie mit einer brennenden Kerze durch eine Nische in der Wand in eine kleine Höhle hinunter.

Es ist die Stelle, an der der Legende nach die Holzhütte der schönen jungen Frau gestanden hat. Dort stellt Madame La Salle die Kerze auf und legt die Eier hin – in der Hoffnung, dass es klappt und zwei ihrer Enkelinnen einen guten Ehemann finden und die dritte ein gesundes Kind bekommt. Ob sie denn an die magische Kraft des Ortes glaubt? „Schaden kann es jedenfalls nicht“, sagt sie etwas verlegen. Früher legten die Pilger rohe Eier hin, die nach einer Nacht in der Wärme von Dutzenden Kerzen hart wurden. Heute kauft man im Vorhof bereits gekochte Eier. Wahrscheinlich würden im Gedränge ohnehin zu viele zerbrechen.

Im vorderen Teil der Synagoge geht es zu wie auf einem Jahrmarkt. Zwei beleibte Rabbiner in Pluderhose, der eine mit einer Scheschia, einem roten Fez, auf dem Kopf, der andere mit einer Kipa, psalmodieren, lesen aus heiligen Büchern, weihen gegen einen kleinen Obolus den Boukha, einen Feigenschnaps, der, in Plastikbechern abgefüllt, die Runde macht. Ungesalzene Pistazien und andere Nüsse werden mit dem Hochprozentigen besprengt. Auch sie machen die Runde, einige verschwinden in Hosentaschen – für die Angehörigen, die zu Hause bleiben mussten. Frauen stoßen traditionelle Youyou-Rufe aus, lange, spitze, modulierte Schreie, um ihrer Freude Ausdruck zu geben.

Über tausend Pilger sind aus dem Ausland angereist. Aber auch die einheimischen Juden feiern mit. „Es gibt in ganz Tunesien noch etwa 1500 Juden“, sagt der 70-jährige Perez Trabelsi, „1200 von ihnen leben auf Djerba, die übrigen fast alle in Tunis.“ Trabelsi ist seit 23 Jahren Präsident der Ghriba. Haben die Juden jetzt, wo Islamisten das Land regieren, Angst? „Ach was“, wehrt Trabelsi ab, „das wird schon gehen.“

Es wird im Rückblick nur eine weitere Episode in der über 2000 Jahre alten Geschichte der Juden in diesem Teil Afrikas sein, in der sie der Herrschaft der Römer, der Vandalen, der Byzantiner, der Araber, der Spanier, der Osmanen und der Franzosen unterworfen waren. Oft wurden sie diskriminiert, manchmal wenigstens in Ruhe gelassen. Auch die Deutschen waren sechs Monate im Land – von November 1942 bis Mai 1943. Über 4000 Juden mussten in verschiedenen Lagern Zwangsarbeit leisten. Die Besatzer erlegten den jüdischen Gemeinden zudem Zwangsabgaben auf. „Wir auf Djerba hatten 50 Kilogramm Gold abzuliefern“, berichtet Trabelsi, „45 Kilo wurden aus Synagogen abtransportiert, für die restlichen fünf mussten die jüdischen Familien aufkommen. Auch meine Mutter gab ihren Schmuck her.“

Die „Endlösung“ sahen die Nazis auch für die tunesischen Juden vor. Doch so weit kam es nicht mehr. Ihre Ausrottung in Tunesien hätte vor der Weltöffentlichkeit nicht geheim gehalten werden können, schreibt der tunesische Historiker Paul Sebag, ein profunder Kenner der Geschichte der Juden seines Landes – und zum Abtransport in die Todesfabriken von Auschwitz, Sobibor und Treblinka fehlten die Schiffe und Flugzeuge. Die wurden für militärisch vorrangige Aufgaben benötigt. 1946 gab es 70000 Juden in Tunesien, 10000 mehr als zehn Jahre zuvor.

Heute sind es noch 1500. Viele zogen nach der Staatsgründung Israels weg, andere emigrierten, weil sie im seit 1956 unabhängigen Tunesien weniger Aufstiegschancen hatten als die Muslime. Wieder andere kehrten ihrer Heimat nach den antijüdischen Ausschreitungen während des Sechstagekrieges 1967 den Rücken. Doch während die Zahl der Juden im Großraum Tunis seit Kriegsende auf weniger als ein Prozent geschrumpft ist, ist sie auf Djerba im selben Zeitraum nur auf knapp 30 Prozent gefallen.

Die 1200 Juden Djerbas wohnen ausschließlich in zwei Dörfern: In Hara Saghira (auf Deutsch: kleines Dorf) unweit der Ghriba, gibt es heute noch 80 Juden, sie sind längst zur Minderheit im Dorf geworden. Über tausend Juden leben in Hara Kebira (großes Dorf), das ein Außenviertel von Djerbas Hauptstadt Houmt Souk ist. Hier leben sie unter sich. Neben fast jedem Türeingang hängt eine Mesusa, eine Schriftkapsel mit einem Thora-Vers. Auf einige Hausmauern sind blaue Fische, Hände und die Menorah gemalt. „Die Fische stehen für Fruchtbarkeit“, erklärt Laula, „die Hände sollen das Böse abwehren, die siebenarmige Menorah symbolisiert die Erleuchtung. Wo du solche Symbole siehst, da hat jemand geheiratet.“

Getrennte Geschlechter

Laula ist 14 Jahre alt, trägt Kippa und Designer-Brille und besucht wie alle Kinder hier eine Jeschiwa, eine jüdische Schule. Er ist in der Abschlussklasse. Ins Gymnasium wird der Junge nicht wechseln. Nicht, weil es seine Noten nicht zulassen. Der Vater ist dagegen. Das Gymnasium ist eine gemischte Schule. Da sitzen auch Muslime. Und zudem werden im Gymnasium wie in allen staatlichen Schulen Tunesiens Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet. In den Jeschiwas hingegen herrscht Geschlechtertrennung.

Laulas Schule steht neben einer der elf Synagogen des Dorfes. Der Klassenraum ist vollgestopft mit Büchern in hebräischer Sprache. Zuhause sprechen die Kinder einen arabischen Dialekt. In der Schule lernen sie neben Hocharabisch Französisch und Hebräisch – bei einem alten Mann, der in Pluderhose und schwarzem Talar ins Klassenzimmer kommt. Doch reden will der Hebräischlehrer mit dem Reporter nicht, jedenfalls nicht ohne Genehmigung des Großrabbiners.

Der Großrabbiner von Tunesien lebt ebenfalls in Hara Kebira. Er heißt Haim Bittan und führt einen Tante-Emma-Laden. Aber auch er mag nicht reden. Vielleicht hat er einfach keine Lust mehr, nachdem seine jüngsten Äußerungen für einiges Aufsehen gesorgt haben. Die Partei, die die Juden Tunesiens am besten verteidigt, hatte er gesagt, sei Ennahda, die islamistische Regierungspartei. Drei Monate vor der Jasmin-Revolution im Januar 2011 hatte er den damaligen Diktator Zine el Abidine Ben Ali gebeten, 2014 erneut zu kandidieren. Vielleicht ist beides demselben Reflex geschuldet: Als Repräsentant einer Minderheit, die sich doch bedroht fühlt, will er den Mächtigen ganz diplomatisch positive Signale senden.

„Nein, bedroht fühlen wir uns nun wirklich nicht“, sagt Samuel, „wir laden uns doch gegenseitig zu den Festen ein, sie kommen zum Rosch ha Schana, wir gehen zum Aid el Fitr.“ Samuel besitzt eines der 40 jüdischen Schmuckgeschäfte, die im Basar von Houmt Souk eines neben dem andern stehen. Die meisten seiner Kunden sind Muslime, die hier für die Hochzeit ihrer Töchter die fein ziselierten Stücke kaufen, die sein Bruder, ein Gold- und Silberschmied, herstellt.

In der Oukala, der Karanwanserei der Ghriba, der Herberge, in der früher arme Pilger nächtigten, wird der Abschluss des Lag Ba Omar gefeiert. Eine jüdische Musikgruppe spielt traditionelle Tanzmusik, es herrscht Feststimmung. Man sitzt auf Holzbänken, isst Couscous. Einige vom Feigenschnaps angeheiterte Männer tanzen. Die Menara, ein Kultobjekt, das eine Braut symbolisiert, die auf den Bräutigam wartet, wird mit farbigen Tüchern und Blumen geschmückt und danach auf einer dreirädrigen Handkarre in einer Prozession übers Gelände der Ghriba gefahren, bevor sie wieder in die Synagoge zurückkehrt. Früher führte der Umzug zu den beiden Synagogen im nahen Hara Saghira. Aber aus Sicherheitsgründen hat man auch dieses Jahr wieder darauf verzichtet. Einige Hundert muslimische Polizisten sind zum Schutz des jüdischen Festes abkommandiert. Man ist auf Djerba stolz auf das friedliche Zusammenleben der Religionen. „Es gibt nur einen Gott“, hört man immer wieder, „ob er nun Allah heißt oder Jahwe.“

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 04.05.2013

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