Im Schatten der Revolution

TUNIS. Von Platanen gesäumte Boulevards führen sternförmig zum Hauptplatz. Stuckverzierte Fassaden künden von der Gründerzeit. Die Bewohner von Menzel Bourguiba, sechzig Kilometer nördlich von Tunis gelegen, nennen ihre Stadt gern Klein-Paris. Gebaut wurde sie 1897 von den Franzosen. Damals hieß sie Ferryville, benannt nach dem französischen Premierminister Jules Ferry, unter dem wenige Jahre zuvor Tunesien ein Protektorat Frankreichs geworden war. 1956 wurde der Maghreb-Staat unabhängig und noch im selben Jahr ließ Habib Bourguiba, der die Macht im Land übernommen hatte, die Stadt selbstbewusst umtaufen in Menzel Bourguiba – Haus von Bourguiba.


Bourguiba erlebt in oppositionellen Kreisen Tunesiens heute eine Renaissance. Zwar hatte er eine Einparteiendiktatur errichtet, doch wurden unter seiner Herrschaft den Frauen fast die gleichen Rechte wie den Männern zugestanden. Zudem bestand eine strikte Trennung von Staat und Religion. Seit den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung im vergangenen Oktober, aus denen die gemäßigten Islamisten von Ennahda als stärkste Kraft hervorgingen, stehen das Vermächtnis Bourguibas und die neuen Freiheiten, die im vergangenen Jahr mit über dreihundert Todesopfern erstritten wurden, nun wieder zur Debatte.

Auch in Menzel Bourguiba. Gegenüber der Kirche, die mangels Christen heute eine Bibliothek ist, steht im Schatten eines Laubbaumes eine Gruppe von Männern. Sie diskutieren aufgeregt darüber, was am Vortag passiert ist. „Sie kamen um drei Uhr nachmittags“, sagt Fredj Hamdi, ein schmächtiger Mann mit schwarzer Hornbrille, „es ging alles sehr schnell.“ Schon bald ließen sich just vor der Kirche und dem angrenzenden Haus der Kultur an die vierhundert Salafisten auf dem Bürgersteig nieder und beteten. Hamdi, ein Soziologe in Rente, ist Direktor des Kulturfestivals der Stadt. Er hatte den Performance-Künstler Lotfi Abdelli eingeladen, im Haus der Kultur aufzutreten. Doch nun war dieses regelrecht belagert. Als die Salafisten nach Sonnenuntergang auch noch Essen auspackten, um vor dem Gebäude gemeinsam das Fasten zu brechen, rief Hamdi die Stadtverwaltung an und forderte Zugang zum Veranstaltungsgebäude. „Nichts geschah“, sagt er, „die Polizei, keine hundert Meter vom Haus der Kultur entfernt, griff nicht ein.“ Auf dem Polizeiposten hätten die Salafisten sogar Wasser für ihre rituellen Waschungen erhalten.

Riskante Frechheiten

Der 42-jährige Komiker Lotfi Abdelli ist für die Islamisten ein rotes Tuch. In dem preisgekrönten Film „Making of“ aus dem Jahr 2006 spielte er die Hauptrolle des jungen Muslims, der durch Gehirnwäsche zu einem religiös verblendeten Terroristen abgerichtet wird. Zum Star des ganzen Landes wurde er während der Revolution vom Januar 2011. Damals hatte er – drei Tage vor der Flucht von Präsident Zine El Abidine Ben Ali ins saudische Exil – auf Facebook gepostet: „Ben Ali, du bist wie ein Joghurt. Verfallsdatum abgelaufen. Wegwerfen. Hau ab!“ Niemand dachte in jenen Tagen daran, dass der Diktator dann tatsächlich so schnell aufgeben würde. Abdelli riskierte mit seiner Frechheit viel. Sein „Hau ab!“ – „Dégage“! – wurde zum Schlachtruf der Revolution.

Nachdem sie gesiegt hatte, warfen die Islamisten, denen Lotfi Abdelli seit seiner Filmrolle suspekt war, ein äußerst wachsames Auge auf ihn. Nun also sollte er in Menzel Bourguiba mit seinem Programm „Hundert Prozent Halal“ auftreten. „Halal“ bedeutet so viel wie: nach islamischem Recht erlaubt, zulässig. Die Imame von zwei Moscheen fanden Abdellis Stück ganz und gar nicht zulässig. Sie riefen in ihrer Freitagspredigt dazu auf, die Aufführung zu verhindern. „Die meisten Salafisten aber, die vor dem Haus der Kultur ihr Fasten brachen, stammen nicht von hier“, sagt Hamdi, „sie kamen von außerhalb.“ Das Spektakel sollte um 22 Uhr beginnen. Doch da hatten die Salafisten schon längst die Haustür eingetreten, den Projektor gestohlen und das Bühnenbild zerstört.

Die Straße zum Glück

Haithen Bergaoui hat die wichtigsten Szenen des Geschehens gefilmt. Er zeigt sie auf dem Handy. Man sieht, wie bärtige Männer, viele in Djellabas, arabischen Männerröcken, Gebetsteppiche ausbreiten. Ein Mann mit weißer Strickmütze schreitet auf dem Bürgersteig hin und her. Er ist offenbar derjenige, der die Aktion organisiert. Bergaoui ist 23 Jahre alt und Rundfunkdirektor. Er leitet das zehnköpfige Team, das Radio Sawt (Stimme) betreibt, einen Sender, der nur über Internet zu empfangen ist. Im Aufnahmestudio dient als Schalldichtung eine Wand aus Eierkartons.
Das Studio liegt im ersten Stock eines unscheinbaren Gebäudes. Im Parterre ist das Parteibüro von Ennahda, der gemäßigten islamistischen Partei, die die Wahlen gewonnen hat. Im zweiten Stock befindet sich das Büro einer salafistischen Gruppe. „Wir werden vielleicht bald ausziehen müssen“, sagt Bergaoui, „der Vermieter, ein Metzger, steht unter Druck der Salafisten. Denen schmeckt nicht, dass hier Männer und Frauen in einem Büro zusammenarbeiten.“

Der Mann mit der Strickmütze, der die Aktion gegen den Komiker Lotfi Abdelli dirigierte, heißt Anwar Ellahouichi. Zum Gespräch erscheint er in der gleichen Aufmachung, die er in dem Handyfilm trägt. Zunächst einmal redet Ellahouichi über seine Vergangenheit, an die er nicht nur gute Erinnerungen hat. „Mit 17 Jahren ging ich allein nach Italien“, beginnt er seine Erzählung, „ich nahm das Schiff nach Sizilien, schlug mich bis in den Piemont nach Turin durch. Irgendwann bin ich auf die schiefe Bahn geraten, nahm Kokain, Heroin und handelte auch mit Drogen. Ich war deswegen auch ein paar Mal im Gefängnis.“ Eines Tages, sagt er, sei die Erleuchtung gekommen. „Gott führte mich auf den richtigen Weg, ich entdeckte die Religion und fand die Straße zum Glück.“

Zurück in Tunesien, kam Ellahouichi unter der Diktatur Ben Alis wie Tausende von Islamisten wieder ins Gefängnis, diesmal fast zwei Jahre lang. „Waren Sie schon damals Salafist?“ – „Ich bin ein Muslim, die anderen nennen uns Salafisten.“ Auf die Frage, was er von Ennahda hält, verdreht er nur die Augen und macht mit der Hand eine Wegwerfbewegung, als ob er eine lästige Fliege verscheuchen wolle. „Und weshalb haben Sie Abdellis Auftritt verhindert?“ – „In seinem Stück wird Gott gelästert.“ – „Haben Sie es denn gesehen?“ – „Nein, nur ganz kurze Auszüge.“ – „Wo denn?“ Statt einer Antwort kommt eine Gegenfrage: „Wussten Sie, dass am 27. Tag des Ramadan der Erzengel Gabriel einst dem Propheten den Koran gebracht hat?“ – „Nein, aber was hat dies mit Abdellis Performance zu tun?“ – „Am Vorabend des 27. Tages des Ramadan konnte man ein solches Spektakel nicht zulassen. Die ganze Stadt wäre in Aufruhr geraten. Wir haben Schlimmeres verhindert.“

Die Ennahda, die bei Weitem stärkste der drei Parteien der Regierungskoalition, präsentiert sich gern als eine religiös grundierte Partei – ähnlich wie die katholisch geprägte CSU. Will sie aber wirklich die Demokratie? War es nur eine unglücklich gewählte Metapher, als Ministerpräsident Hamadi Jebali, der unter Ben Ali lange im Gefängnis saß, sagte: „Wir befinden uns am Beginn einer neuen Zivilisation, dem sechsten Kalifat“? War es ein Freud’scher Versprecher, als er bei einer Eröffnungsfeier verkündete: „Zusammen werden wir eine Dikta… Demokratie erschaffen“? Offiziell verurteilt die Partei immer wieder die Gewalt der Salafisten, andererseits weigert sie sich, ihrem illegalen Treiben Einhalt zu gebieten. Schließlich sagte Ennahda-Chef Rached Ghannouchi: „Es sind doch unsere Kinder, sie erinnern mich an meine Jugend.“ Ghannouchi, der einst Gewalt predigte und sich heute moderat gibt, hat kein öffentliches Amt inne, gilt aber als der mächtigste Mann im Staat.

Habib Kazdaghli, ein Mann mit ergrautem Haar und ergrautem Schnäuzer, hat seine eigenen Erfahrungen mit den Salafisten gemacht. Der Geschichtsprofessor ist Dekan der Philologischen Fakultät der Universität Manouba am Stadtrand von Tunis. Der weitläufige Campus liegt fernab jeder Siedlung. „Ende November kamen einige Dutzend Salafisten, die nicht zur Fakultät gehörten, breiteten ihre Matratzen aus und schliefen vor dem Eingang, im Treppenhaus und hier oben vor meinem Büro“, sagt Kazdaghli, „sie forderten die Einrichtung eines Gebetsraums auf dem Universitätsgelände, einen nach Geschlecht getrennten Unterricht und dass ihre ‚Schwestern‘ mit Niqab in Vorlesungen, Seminare und zu den Examina erscheinen dürfen.“ Der Niqab ist der Gesichtsschleier, der nur die Augen freigibt. Kazdaghli beugte sich dem Druck nicht „Ich will doch die Studentinnen sehen, die ich unterrichte“, sagt der Dekan.
Acht Tage lang stolperte Kazdaghli über Matratzen, Gebetsteppiche und Schuhe in sein Büro. „Es war eine Art Koexistenz“, sagt er, „sie waren da, aber ließen mich arbeiten.“ Doch nach einer Woche verwehrten ihm die Bärtigen den Zugang zu seinem Arbeitsplatz. Kazdaghli ordnete daraufhin die Schließung der Fakultät an und rief die Polizei. Es dauerte einen Monat, bis sie kam und dem Sit-in ein Ende setzte. Der Unterricht wurde wieder aufgenommen. Doch die Salafisten hatten nicht aufgegeben.

Im März dieses Jahres betraten zwei Studentinnen Kazdaghlis Büro und verwüsteten es. Einen Teil der Szene hat ein Student mit seinem Handy aufgenommen und ins Internet gestellt. Der Dekan setzt sich an den Computer und führt die Sequenz vor. Man sieht zwei schwarz vermummte Frauen, die Stühle umwerfen, Papiere durch das Büro schleudern und hysterisch schreien. „Am Tag danach versammelten sich an die hundert Bärtige vor der Fakultät, holten die tunesische Nationalflagge ein und hissten die schwarze Fahne der Salafisten“, sagt Kazdaghli, „der Polizeiposten ist keine hundert Meter vom Fahnenmast entfern, doch die Polizei griff nicht ein.“

Anfang Juni bekam Habib Kazdaghli dann eine Vorladung vor Gericht. Er habe am 6. März gegen eine Studentin mit Niqab Gewalt ausgeübt. Der Dekan bestreitet das rundweg. Beweise gibt es keine. Und zahlreiche Zeugen bestätigen, dass zum Zeitpunkt der angeblichen Tat der Beschuldigte bei der Polizei war, um Anzeige gegen die beiden Frauen zu erstatten, die sein Büro verwüstet hatten. Dem Dekan drohen fünf Jahre Gefängnis, weil er – so die Anklage – „bei der Ausübung seiner Funktion als Beamter ohne legitimen Anlass Gewalt an Personen begangen“ habe.
In Tunesien, wo die arabische Revolution ihren Anfang genommen hat, verschärft sich die Auseinandersetzung zwischen islamistischen und laizistischen Kräften. Die Ennahda-Partei will ein schwammiges Gesetz verabschieden lassen, mit dem Gotteslästerung unter Strafe gestellt wird. Sie stellt auch die rechtliche Gleichheit von Männern und Frauen infrage, was vor wenigen Tagen über zehntausend Menschen auf die Straße gebracht hat. Und die Salafisten agieren immer häufiger als Stoßtrupp einer schleichenden Islamisierung.

Einen Tag, nachdem in der vergangenen Woche Lotfi Abdellis Performance verhindert wurde, sprengten in Kairouan, einer Stadt im Zentrum des Landes, Salafisten ein Konzert, weil dort auch iranische Sufis auftreten sollten, also Schiiten, Andersgläubige. Am folgenden Tag griffen mit Säbeln bewaffnete Salafisten in Bizerte, im Norden, eine Diskussionsveranstaltung der Tunesischen Liga für Toleranz an. Es sind längst keine Einzelfälle mehr.

Ein Mann, acht Leibwächter

Aber Lotfi Abdelli lässt sich nicht kleinkriegen. Zwei Tage nach dem Zwischenfall in Menzel Bourguiba tritt er in Hammam-Lif auf, einem Badeort in der Nähe von Tunis. An die 3000 Menschen sind gekommen. Vor allem Jugendliche. Sie schreien und toben. Abdelli ist ihr Held. Der Komiker begrüßt alle, „insbesondere die Religiösen, die gekommen sind, um mich zu sehen“. Dann legt er los mit seiner Show, tanzt über die Bühne, spielt viele Rollen quasi gleichzeitig, spricht über Politik und Sexualität, über Salafisten und Schwule. Zwei Stunden redet er nonstop.

Dann sitzt er erschöpft in der Garderobe. „Ich mache mich über vieles lustig“, sagt er, „über die heuchlerische Politik, über das verquaste Verhältnis der Islamisten zur Sexualität. Aber nie, wirklich nie würde ich mich über die Religion lustig machen. Es ist ja meine.“ Lotfi Abdelli ist ein gläubiger Muslim. Das sagt er ganz offen. Dann lässt er sich von acht Leibwächtern einer privaten Sicherheitsfirma nach Tunis begleiten.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 22.08.2012

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