ATHEN. Vor zwei Jahren noch hat Markos in seinem Gebirgsdorf auf dem Peleponnes ein kleines Stück Land bebaut, Weinstöcke beschnitten und Oliven gepresst. Nun liegt er in sechs schmutzige Steppdecken gehüllt, drei über sich, drei unter sich, auf dem Bürgersteig einer Gasse in der Altstadt von Athen. Neben ihm schlafen vier Männer. Markos hält Wache. Es ist kurz vor Mitternacht. „Die Marokkaner haben Messer“, sagt er, „sie rauben uns aus.“
Es war ein ärmliches Leben, das Markos, 47 Jahre alt, auf dem Peleponnes führte, ziemlich langweilig und öde. Hätte er in seinem verdammten Bergkaff alt werden sollen, sterben, da, wo er geboren war? Als ihm ein Freund in der Hauptstadt einen Job bei der Stadtreinigung anbot, zögerte Markos nicht lange. Er erhielt einen Zeitvertrag, knapp tausend Euro im Monat, und durfte hoffen, nach dessen Ablauf, wie üblich, fest angestellt zu werden und in unkündbarer Stellung bis zum Ruhestand arbeiten zu können, mit der Aussicht auf eine Pension von 80 Prozent des letzten Gehalts.
Dann aber kam alles ganz anders. Die Schuld gibt Markos den Politikern aller Parteien, dem internationalen Kapital und vor allem Angela Merkel. Letztlich, da kennt Markos keinen Zweifel, zieht sie die Fäden und diktiert seinem Land die Politik. Vor zwei Jahren schon empfahl ein Hinterbänkler ihrer CDU den Griechen, zwecks Haushaltssanierung einige Inseln zu verkaufen. Und damals bildete ein deutsches Nachrichtenmagazin auf der Titelseite neben der Schlagzeile „Betrüger in der Euro-Familie“ die Liebesgöttin Aphrodite mit Stinkefinger ab. Das stieß vielen Griechen übel auf. Dass die Bundeskanzlerin in der vergangenen Woche seinem Land einen Sparkommissar vorsetzen wollte, sieht Markos als Bestätigung für seinen Verdacht.
Job verloren, Wohnung weg
Lohnkürzungen, Steuererhöhungen, all das hätte er noch hingenommen, aber dann kam die entscheidende Forderung des Auslands: keine neuen Stellen im öffentlichen Dienst. Markos bekam zwar noch einen zweiten Zeitvertrag, für 750 Euro im Monat, aber als er anders als die Festangestellten zwei Monate lang nicht bezahlt wurde, protestierte er – und wurde gefeuert. Dies ist jedenfalls seine Version der Geschichte, unüberprüfbar und doch durchaus glaubhaft. Die hundert Euro für die Kellerwohnung konnte er schon bald nicht mehr aufbringen, und so verlor Markos nach der Arbeit auch seine Bleibe. Seit anderthalb Monaten lebt er auf der Straße. „Wenn du Geld hast, kannst du auch als größter Gauner gut leben“, sagt er, „sonst bist du verloren. Da schreit kein Hahn nach dir.“
In Athen ist die Zahl der Obdachlosen in den letzten Monaten rasant gestiegen. Offiziell sind es mehr als 20 000, Hilfsorganisationen sprechen sogar von 30 000, die Bevölkerung einer Kleinstadt, verstreut in der Großstadt. In dunklen Gassen und in den hell erleuchteten Eingängen von U-Bahn-Stationen, an Orten, die der Regen nicht erreicht und wo es doch oft feucht ist, nach Urin stinkt, trifft man im nächtlichen Athen auf die vermummten Gestalten. Sie schlafen meistens in Gruppen, und die griechische Sprache hat auch schon einen Namen für sie gefunden: „Neoftochi“. Bislang gab es Arme und Reiche, unterLetzteren viele Neureiche, die es mit üblen Machenschaften und guten Beziehungen nach oben geschafft haben, in die Paläste von Kolonaki oder die Villenviertel von Kifissia. Nun gibt es auch die „Neoftochi“, die Neuarmen, diejenigen, die abgestürzt sind.
„Sie lassen sich in drei Kategorien aufteilen“, sagt Giorgos Apostolopoulos. „Erstens: Alte, die mit ihrer nun auf 300 Euro gekürzten Minimalrente nicht mehr auskommen. Zweitens: kinderreiche Familien, denen Wasser und Strom gesperrt wurde, weil sie die Rechnung nicht mehr zahlen konnten und die nun nicht einmal mehr eine warme Mahlzeit zubereiten können. Drittens: Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, deshalb die Miete für die Wohnung nicht mehr aufbringen und oft mit Laptop unter dem Arm bei uns anklopfen.“
Giorgos Apostolopoulos arbeitet im städtischen Obdachlosenheim, das 160 Personen beherbergt und jeden Tag 1450 Arme verköstigt – am Mittag Griechen und jetzt, am Abend, auch Ausländer. Im Hinterhof stehen sie an für eine warme Suppe. Brot, Milch, Reis, Nudeln und auch Kleider werden ausgegeben. Vorsorglich stehen ein halbes Dutzend Polizisten bei den Töpfen. „Manchmal gibt es eben Zoff“, sagt Apostolopoulos, „aber wir haben mit ihnen eine Übereinkunft getroffen: Sie führen keine Identitätskontrollen durch.“ Unter den Ausländern sind viele, die illegal ins Land gekommen sind.
Das Obdachlosenheim liegt im Stadtzentrum, nur wenige hundert Meter vom Omonia-Platz entfernt, wo Prostitution und Drogenhandel blühen. Abseits der verkehrsreichen Hauptadern trifft man hier nachts keine Griechen mehr, und auch tagsüber meiden die meisten die engen Straßen des Viertels, aus Angst vor kleinkriminellen Banden, die auf Handtaschenraub spezialisiert sind.
Viele Athener ärgern sich darüber, dass sie am Omonia-Platz nicht mehr wie zu alten Zeiten sorglos flanieren können. Dass vor einer Woche das Parlament ein Gesetz verabschiedete, das generell eine vorzeitige Freilassung von Strafgefangenen vorsieht, löste weithin Kopfschütteln aus. Um die überfüllten Haftanstalten zu entlasten, müssen künftig Häftlinge mit einer Strafe bis zu drei Jahren Haft nur noch ein Zehntel dieser Zeit absitzen. Wer bis zu fünf Jahren verurteilt ist, kommt nach einem Fünftel auf freien Fuß, und wer bis zu zehn Jahren verdonnert wurde, kommt nach der Hälfte frei. Die Kriminellen, die das Viertel unsicher machen, daran gibt es kaum Zweifel, sind fast ausschließlich Ausländer. Viele Griechen fühlen sich ihnen schutzlos ausgeliefert. Immer wieder machen Schlägertrupps aus dem Umkreis der rechtsradikalen Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) Jagd auf alle, deren Haut dunkler ist als ihre eigene.
Über 85 Prozent all jener, die auf illegalem Weg in die Europäische Union einwandern, kommen in Griechenland an. Daran ist die Geografie schuld. Denn die Grenze zwischen dem türkischen Festland und den ihm vorgelagerten zahllosen griechischen Inseln lässt sich nur schwer überwachen. Die meisten illegalen Einwanderer möchten weiterziehen, vor allem nach Deutschland oder Frankreich, doch sie bleiben in Griechenland stecken, weil nach EU-Recht der Staat, in dem die Einwanderer EU-Boden betreten, verpflichtet ist, sie aufzunehmen oder in ihre Herkunftsländer abzuschieben. Das ist bequem für Länder wie Deutschland, die keine EU-Außengrenze haben. „Europa lässt uns mit dem Problem allein“, klagen viele Griechen, die durchaus ein Herz für gestrandete Immigranten haben.
Hunderttausende illegaler Immigranten, eine Arbeitslosigkeit von 19 Prozent, bei Jugendlichen unter 25 Jahren erreicht sie sogar 47 Prozent, eine scharfe Wirtschaftsrezession, die Hunderttausende ins Elend stürzt – das ist gesellschaftlicher Sprengstoff. In Athen wird nahezu täglich demonstriert. Aber eine Aufstandsstimmung herrscht nicht. Eher machen sich Depression, Hoffnungslosigkeit, Resignation breit. „Doch die Situation kann jederzeit umschlagen“, meint Dimitris Parsanoglou, Soziologe an der Athener Panteion-Universität. Eine von Gewaltausbrüchen begleitete soziale Revolte mag er nicht ausschließen. Das Politbarometer spricht eine deutliche Sprache. Das linke und das rechte Lager sind zwar weiterhin ungefähr gleich stark. Vor allem bei der Linken aber zeichnet sich eine dramatische Entwicklung ab.
Würde morgen gewählt, wäre neuesten Umfragen zufolge die sozialdemokratische Pasok, die vor zwei Jahren mit 44 Prozent die Parlamentswahlen haushoch gewann, mit nur acht Prozent gerade noch fünftstärkste Partei. Die linksradikale Syriza würde ihren Stimmanteil von fünf Prozent auf zwölf Prozent steigern und die Kommunisten ihren von acht Prozent auf 13 Prozent. Stärkste Kraft im linken Lager aber würde die ebenfalls links von der Pasok angesiedelte Demokratische Linke, gegründet vor erst anderthalb Jahren, mit 18 Prozent.
Als Griechenland vor knapp zwei Jahren nur durch ein erstes Hilfspaket in Höhe von 110 Milliarden Euro dem Bankrott entging, waren sich die seriöse Wirtschaftswissenschaftler weitgehend einig, dass ein radikales Sparprogramm in eine Rezession münden müsse. „Wir waren Rufer in der Wüste“, sagt Parsanoglou, „heute aber geben uns alle recht.“ Natürlich musste eine radikale Kürzung der Löhne zu weniger Einnahmen aus Einkommenssteuern führen, zu weniger Konsum, zur Schließung von Läden, zu mehr Arbeitslosigkeit, zu einem wirtschaftlichen Rückgang, der ein neues größeres Hilfspaket erforderlich machte. Weshalb hat die Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds trotzdem diesen desaströsen Weg erzwungen? Man findet in Athen keine Antwort auf die Frage. Und so sprießen Verschwörungstheorien. Viele Griechen meinen, Deutschland wolle sich Europa unterwerfen.
Spenden für die Bedürftigen
„Wozu Opfer bringen“, gibt Dimitris Parsanoglou, der Soziologe, zu bedenken, „wenn der Sinn nicht klar ist, wenn ein Ende des Tunnels nicht in Sicht ist?“ In Technopolis, dem alten Gaswerk von Athen, das zum Kulturpark umgebaut wurde, nächtigen illegal eingewanderte Marokkaner und „Neoftochi“, Neuarme, die die Krise aus der Bahn geworfen hat, gemeinsam in den zum Schlafsaal mutierten Ausstellungshallen.
Die orthodoxe Kirche verköstigt allein in den Armenküchen Athens über 17 000 Personen, in ganz Griechenland nach eigenen Angaben 250 000. Die Lebensmittel, die sich bei der Kirche des Heiligen Geistes im Stadtteil Thissio stapeln, stammen von vielen Gläubigen, einfachen Leuten, die helfen wollen. Theodoros Manoussos, der die Spenden sammelt und verteilt, kann zwischen den zahlreichen Telefonanrufen keinen Satz zu Ende bringen. Ein junger Mann bietet eine Fleischlieferung aus dem Großmarkt an. Eine resolute Frau hat in vier Fünfsternehotels der Hauptstadt das Management überredet, Lebensmittel, die zu normalen Zeiten weggeworfen werden – bereits gegrillte, aber von der Kundschaft nicht georderte Hähnchen etwa -, der Kirche zu spenden. In Manoussos‘ Büro türmen sich Kartons mit vollen Weinflaschen, angeliefert von einer Kooperative auf dem Peleponnes. Die Hilfe ist überwältigend.
Auch Markos, der, eingewickelt in sechs Decken, auf dem Bürgersteig einer Gasse der Altstadt Wache schiebt, hat von der Armenspeisung erfahren. Doch er steht nicht mehr auf, wenn es hell wird. Seit Tagen hat er Fieber. Der Rücken schmerzt. Ein Streetworker bringt ihm Essen. Ins Obdachlosenheim will Markos nicht. Dort sei es ihm zu eng, zu schmutzig, sagt er, dort gebe es immer nur Streit. Wie es weitergeht, weiß er nicht. Vielleicht kehrt er in sein Dorf zurück.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 11.02.2012