Der Kampf um die Zukunft

DAKAR. Schuld war der Stromausfall. Ständig gingen die Lichter aus. Ohne Elektrizität aber kann der Frisör nicht arbeiten, weil der Haartrockner dann auch nicht arbeitet. Die Nähmaschine des Schneiders steht still. Und im Kühlschrank beginnt der Fisch zu stinken. Die Ersten, die öffentlich gegen die Malaise aufbegehrten waren die Imame von Guédiawaye, einem Vorort von Dakar, der Hauptstadt Senegals. Sie drohten, die Gläubigen dazu aufzurufen, die Stromrechnung nicht mehr zu bezahlen, wenn sich die Lage nicht verbessere. Das war vor einem Jahr. „Da habe ich mich geschämt“, sagt Fadel Barro, „ausgerechnet Imame im Rentenalter stiegen auf die Barrikaden, und wir, die Jungen, drehten Däumchen.“

Damals tat sich Fadel Barro, von Beruf Journalist, mit sechs Freunden zusammen, zwei von ihnen waren Rapper von Keur-Gui, einer Band, die für ihre frechen Texte in ganz Senegal bekannt ist. „Am 18. Januar des vergangenen Jahres gründeten wir ,Y en a marre‘ – ,Jetzt reicht es'“, sagt Fadel, „die tunesische Revolution war gerade vier Tage alt.“ Gewiss, Senegal ist keine Diktatur. Die Presse ist frei, die Parteien können ungehindert Wahlkampf betreiben. Aber wie in Tunesien gibt es eine weitgehend arbeitslose Jugend, die keine Perspektive sieht, dafür aber machtlos der Korruption der Mächtigen zuschaut. Wenn in Senegals Hauptstadt nun seit Tagen Aufstandsstimmung herrscht, Barrikaden brennen und Tränengas versprüht wird, ist dies auch das Verdienst der Jugend- und Rapperbewegung „Y en a marre“.

Ihre Forderung, die längst von allen Parteien der Opposition geteilt wird: Gorgui muss gehen. Gorgui ist ein Wort des Wolof, der senegalesischen Mehrheitssprache, und heißt auf Deutsch „der Alte“. Und „der Alte“ ist Abdoulaye Wade, der Präsident Senegals. Am Sonntag wird gewählt, Wade will ein drittes Mal Präsident werden. Zwar verbietet das die Verfassung. Aber der Verfassungsrat, die „fünf Weisen“, alle von Wade selbst eingesetzt, dem sie zudem eine saftige Erhöhung ihres Salärs verdanken, sind anderer Ansicht. Ende Januar erlaubten sie ihm eine dritte Kandidatur. Seither kommt der Senegal nicht zur Ruhe.

Angst vor der Verhaftung

Es ist nicht einfach, Fadel zu treffen. Der Journalist, der vor zwei Monaten seine Redaktion verlassen hat, um die Menschen aufzurütteln, um über SMS-Botschaften zur Demonstration aufzurufen, um Gorgui zu verjagen, schläft nicht mehr zu Hause. Auch meidet er den Spaziergang durch die Straßen der Hauptstadt. Termine macht er aus Sicherheitsgründen nur sehr kurzfristig. Nicht, dass gegen ihn ein Haftbefehl vorläge. Aber Mitglieder von „Y en a marre“ werden regelmäßig vorübergehend aus dem Verkehr gezogen, auf dem Kommissariat verprügelt und nach ein paar Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt. „Und ich gehöre schließlich dem Exekutivkomitee an“, sagt Fadel, „dem harten Kern.“ Er schiebt die schwarze Wollmütze hoch, die er auf der Straße in die Stirn zieht, und lacht. Nein, er ist nicht der verbissene Kämpfer, nicht der Typ Berufsrevolutionär, eher Rebell mit Lust aufs Leben, auf guten Rap.

Doch sein Anliegen ist ernst, und sein Ton wird verschwörerisch: „Wir sind dabei eine Gegenmacht aufzubauen“, sagt er, „wir sind übers ganze Land verteilt, schon 397 Geister.“ Nein, mit Magie und Mystik habe dies nichts zu tun, wehrt Fadel ab, die Bewegung pflege eben ihre eigene Sprache. „Ein Geist ist eine Zelle von mindestens 25 Personen, von denen mindestens zehn Frauen sein müssen.“ So steht es in den „Zehn Geboten“, die im Netz unter www.yenamarre-senegal.vom auf Französisch, der Amtssprache Senegals, abzurufen sind. Zehn Gebote, das erinnert an die Bibel oder hier im islamischen Senegal an die 14. Sure des Koran. Wieder setzt Fadel Barro sein schelmisches Lächeln auf. „Der Geist ist eine integrierende, laizistische und gewaltfreie Organisation“, heißt es im ersten Gebot. „Das geforderte Frauenquorum nehmen allerdings die meisten Geister nicht sonderlich ernst“, gibt er freimütig zu.

„Wir sind keine Politiker“, sagt Fadel Barro, „und wir wollen auch keine werden. Wir unterstützen bei den Wahlen vom Sonntag keine Kandidaten, aber Wade muss weg.“ Dass Wade gehen muss, findet auch Senegals bekanntester Bürger: Youssou N’Dour. Der in einfachen Verhältnissen aufgewachsene Grammy-Gewinner von 2005, für die Jugend Afrikas eine Ikone, hat den westafrikanischen Mbalax-Musikstil mit Elementen von Samba, Rap und Soul vermischt. Weltweit füllt er Konzerthallen. In Senegal ist er auch wegen seines sozialen und politischen Engagements äußerst populär. Schon 1985 organisierte er ein Konzert für Nelson Mandela, damals Afrikas berühmtester Häftling. Er unterstützt den Kampf gegen Malaria und die Gründung von Internet-Cafés. Heute besitzt Youssou N’Dour in Senegal den Fernsehsender mit der wohl höchsten Einschaltquote, den am meisten gehörten Rundfunksender und die Tageszeitung mit der höchsten Auflage.

Im Dezember kündigte Youssou N’Dour seine Bewerbung für die Präsidentschaft Senegals an. Ende Januar ließen die „fünf Weisen“ seine Kandidatur nicht zu, weil er die nötigen Unterschriften nicht eingereicht habe. „Wir haben ihn nicht unterstützt“, bekräftigt Fadel Barro, „wir stehen zwar alle auf seine Musik, aber aus dem Wahlkampf halten wir uns heraus.“ Das hindert Youssou, 52 Jahre alt, nicht, die Rapper und Jugendlichen von „Y en a marre“ bei jeder Gelegenheit öffentlich in Schutz zu nehmen. Und der Weltstar ist sich auch nicht zu schade, für ihr und sein Anliegen – Wade muss weg – auf die Straße zu gehen. Er hat seine eigene Bewegung gegründet. Sie heißt „Fekke ma ci bolle“ („Ich mische mich ein“).

Es ist Dienstagabend. Noch fünf Tage bis zu den Wahlen. Die Behörden haben im Stadtzentrum von Dakar sämtliche Demonstrationen verboten. Trotzdem zieht über die Avenue Georges Pompidou ein Zug von einigen tausend Demonstranten. Erklärtes Ziel ist es, eine Versammlung auf dem Unabhängigkeitsplatz im Herzen der Stadt abzuhalten. Vorneweg fährt ein Kleinlaster, auf dessen Ladefläche Youssou N‘ Dour steht – in Anzug, weißem Hemd, ohne Krawatte. Um seinen Hals baumelt vorsorglich eine Gesichtsmaske, wie sie in Operationssälen üblich ist, als Schutz vor dem Tränengas. „Youssou! Youssou!“, skandieren seine Anhänger, Mbalax-Rhythmen dröhnen aus Lautsprechern, einige tanzen auf der Straße, helmbewehrte Journalisten stehen beidseits der Front. orange gekleidete Ärzte warten auf ihren Einsatz.

Auch drei Präsidentschaftskandidaten der Opposition sind zur Demonstration gekommen: Cheikh Bamba Dièye, der jüngste der 17 Bewerber um das höchste Amt, Idrissa Seck, der Wade zwei Jahre lang als Premierminister gedient und sich mit ihm dann überworfen hat, und Ibrahima Fall, Verfassungsrechtler und einst Dekan der Juristischen Fakultät der Universität von Dakar. Aber die Blicke richten sich auf Youssou. Er hält eine Rede, halb auf Wolof, halb auf Französisch. „Ich kenne eure Probleme“, sagt er in väterlichem Ton, „aber die Zukunft gehört euch.“ Noch steht sein Wagen fünf Meter vor dem ersten Polizeiwagen entfernt.

Die Stimmung ist nicht aggressiv, aber angespannt: Wie soll es weitergehen? Die Polizei kann den Weg nicht freigeben. Sie hat keine Order. Die Demonstranten können nicht einfach wieder abziehen. Es wäre ein Gesichtsverlust. Da fliegt der erste Stein, Sekunden später fallen Schüsse. Dutzende. Es ist keine scharfe Munition, nur Tränengasgranaten. Tausende rennen durch die Straßen, versuchen, dem beißenden Nebel zu entrinnen. Ein Feuerwerkskörper trifft Youssou am linken Bein. Ein Arzt eilt herbei. „Da mache ich keine Staatsaffäre draus“, sagt der Musiker und lacht. Schon bald werden vom Markt Holztische herbeigebracht, Barrikaden errichtet, in Brand gesteckt. Wie zwei Tage zuvor, nachdem die Polizei eine Tränengasgranate in eine Moschee gefeuert hatte; wie drei Tage zuvor, als zwei Rapper von „Y en a marre“ festgenommen worden waren. Wie inzwischen eigentlich jeden Tag. Weil es jeden Tag einen guten Grund zum Protest gibt.

Der Hauptgrund aber ist immer derselbe: Wade. Tatsächlich droht der 85-jährige Präsident mit seiner Mischung aus Halsstarrigkeit und Machtversessenheit, Senegal, den einzigen Staat Westafrikas, der nie einen Putsch kannte, ins Chaos zu stürzen. Drei Präsidenten hatte das Land bisher. Der Sozialist Leopold Senghor führte es von der Unabhängigkeit 1960 bis 1980 und trat, was man in Afrika damals kaum kannte, aus Altersgründen zurück. Ihm folgte Abdou Diouf, ebenfalls Sozialist. Er verlor im Jahr 2000 die Wahlen und übergab den Stab an den liberalen Oppositionsführer Abdoulaye Wade. Der „Alte“ aber will einfach weitermachen, das Ruder nicht abgeben.

Wenn Pierre Sané, 62, aus dem Fenster seiner geräumigen Wohnung schaut, liegt ihm der Unabhängigkeitsplatz, den die Polizei gerade erfolgreich verteidigt hat, zu Füßen. Sané ist vor anderthalb Jahren wieder in seine Heimat zurückgekehrt. Mit seinem ergrauten Bart und der schwarzen Brille strahlt er eine Ruhe aus, die in scharfem Kontrast zur allgemeinen Aufregung in der Stadt steht. Zehn Jahre lang war er Generalsekretär von Amnesty International, danach zehn Jahre lang Assistierender Generaldirektor der Unesco. Heute leitet er das Imagine Africa Institute, einen Think Tank, der sich vor allem mit Süd-Süd-Kooperation, regionaler Integration und Dezentralisierung befasst.

„Wenn es korrekt zugeht, kann Wade die Wahlen nicht gewinnen“, behauptet er. Vor zwei Jahren hat die Partei des Präsidenten die Kommunalwahlen landesweit verloren. Und seither hat Wade noch mehr an Zustimmung eingebüßt. Einen Wahlbetrug will Sané nicht ausschließen. Die Resultate der Wahlen unter Soldaten, Polizisten, Gendarmen und Feuerwehrleuten, die bereits am vergangenen Wochenende stattfanden, werden bis zum Sonntag unter Verschluss gehalten, können also manipuliert werden. Über 100000 wahlberechtigte Bürger haben noch keine Wahlunterlagen erhalten. Wo sind diese? Werden sie in den Händen von Wades Anhängern landen? Das Votum der Diaspora wird von den Botschaften kontrolliert. Auch eine Manipulation an der Software der Wahlcomputer will Sané nicht ausschließen.

„Wenn Wade sich bereits nach dem ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit zum Sieger erklärt, wird die Opposition dies nicht anerkennen“, prophezeit Sané, „und wenn er in einem zweiten Wahlgang gegen den bestplatzierten Kandidaten der Opposition antritt, wird er verlieren, da die gesamte Opposition sich gegen Wade stellt.“ Sämtliche Oppositionsparteien und zahlreiche Organisationen der Zivilgesellschaft haben sich zur „Bewegung des 23. Juni“ zusammengeschlossen. Damals, vor acht Monaten, hat Wade unter dem Druck der Straße sein Projekt einer Verfassungsänderung, die seinem Sohn den Weg an die Macht bahnen sollte, zurückgezogen. Wird er jetzt im letzten Moment unter dem wachsenden Druck der Straße seine Kandidatur zurückziehen? Wird man die Wahlen verschieben, damit seine Partei einen neuen Kandidaten aufstellen kann? Viele hoffen es. Wenige wagen, es zu glauben.

Der neue Typ des Senegalesen

„Wade muss gehen“, sagt Fadel Barro, der Mitgründer von „Y en a marre“, der Bewegung, in der Tausende Jugendliche organisiert sind und die ebenfalls der „Bewegung des 23. Juni“ angehört. Aber seine Ziele hat der streitbare Journalist weiter gesteckt: „Wir müssen die demokratischen Errungenschaften und die Republik bewahren und die Werte des Nts fördern.“ Wie bitte? „Der Nts ist die Abkürzung für den neuen Typ des Senegalesen.“ So steht es im dritten Gebot der Charta von „Y en a marre“. Und wieder lacht er schelmisch. Will er tatsächlich – wie einst Che Guevara – den „neuen Menschen“ schaffen? Ja, doch, er meint es ernst. „Jenseits meiner Bemühungen, ein guter Nts zu sein“, schreibt er dort, „informiere ich den Bürger, überwache die Regierenden, belebe die demokratische Debatte, sensibilisiere für die Notwendigkeit eines Mentalitätswechsels, um unser Land aus seiner schwierigen Lage herauszuholen. (…) Unser Engagement ist unerschütterlich. Weder Todesdrohungen noch Korruptionsangebote noch Gefängnis können uns aufhalten.“

Es sind vielleicht etwas pathetische Worte. Aber Todesdrohungen erhält Fadel Barro quasi täglich, und im vergangenen Jahr, so sagt er, wurde er aufs Polizeikommissariat zitiert. Und dort habe ihm ein Regierungsbeamter zu seiner großen Verblüffung einen Ministerposten angeboten. Jetzt wartet er auf den Sonntag. Auf das Wahlergebnis. Seine Hoffnung ist ungebrochen.


© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, 23.02.2012

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