Die Schrift ist trotz der Patina, die dem Grabstein eine moosgrüne Farbe verleiht, gut lesbar. „Hier ruht in Gott mein theurer Gatte, unser geliebter Vater Sigmund Sternau, geb. den 2. März 1847, gest. den 30. Oktober 1895. Friede seiner Asche“. Daneben das Grab von Meta Sternau, geborene Lövenstein (1861-1899). Vor der letzten Ruhestätte des Ehepaars auf dem jüdischen Friedhof von Berlin-Weißensee, im Schatten blühender Rhododendren, steht ein Mann, das Haupt bedeckt mit einer Kippa. Mit den Füßen scharrt er das Gestrüpp etwas beiseite. Dann beugt er sich, um mit einem angefeuchteten Taschentuch den Vogelkot vom Grabstein zu entfernen. „Laisse ça, c’est la nature“, sagt die Frau neben ihm, „lass das, es ist die Natur.“ Nach einer geraumen Weile entfernen sich die beiden. Doch der Mann kommt zurück. Er hat vergessen, einen Kieselstein auf das Grabmal zu legen. Es ist das Zeichen dafür, dass das Grab noch besucht wird, dass der Tote noch nicht vergessen ist.
Pierre Lellouch, 69, ist das erste Mal in seinem Leben in Berlin. Er ist aus Vence, einem kleinen Städtchen oberhalb von Nizza, angereist, um das Grab seiner Großeltern zu besuchen. Aber auch in der vagen Hoffnung, Spuren seiner Eltern zu finden. Beide haben in Berlin gelebt, beide wurden in Auschwitz ermordet. Kein Grabstein erinnert an sie. Lellouch kennt niemanden, der sich an sie erinnert, niemanden, der ihm über sie etwas erzählen könnte.
Auch er selbst hat keine Erinnerungen an sie. Er war noch keine drei Jahre alt, als die Gestapo sie aus ihrer Wohnung in Nizza zerrte. Ihr einziges Kind hatten sie taufen lassen und rechtzeitig in einer Kinderkrippe untergebracht. Der Junge wurde von einer Reihe christlicher Familien versteckt. Nach Kriegsende adoptierte ihn Alfred Lellouch. Der algerische Jude war mit seiner Frau, Tochter russischer Aristokraten, die vor den bolschewistischen Revolutionären geflohen war, 1945 nach Nizza übersiedelt. Dort arbeitete er als Arzt für das Kinderhilfswerk OSE, das mitgeholfen hatte, jüdische Kinder vor dem Zugriff der Nazis zu retten.
Dass Alfred Lellouch nicht sein biologischer Vater war, erfuhr Pierre im Alter von acht Jahren. Auf Nachfragen erzählte der Arzt dem Jungen vom Krieg, von den Nazis, vom Schicksal seiner Eltern. Lellouchs Erinnerung an die Enthüllung, dass seine vermeintliche Eltern nicht seine wirklichen und seine wirklichen tot waren, ist verblasst. „Es hat mich damals nicht weiter beschäftigt“, meint Pierre Lellouch beim Kaffee in Berlin und staunt heute selbst ein bisschen darüber, „ich hatte Schwierigkeiten in der Schule, war ein Eigenbrötler. Heute gibt es eine Reihe Abhandlungen über traumatisierte Kinder, aber damals waren Verdrängung und Trauma überhaupt kein Thema.“
Von seinem Adoptivvater erfuhr der junge Lellouch auch, dass sein Vater „einen Film gemacht hat, der im Krieg verloren ging“. Vielleicht hat er selbst sich auch deshalb als Jugendlicher in der Filmbranche nach einem Job umgesehen, einem Kameramann assistiert und zeitweilig als Regieassistent gearbeitet. Aber auch der Sohn eines Cousins seines Adoptivvaters hatte ihm geraten, beim Film einzusteigen: Claude Lellouch, der später mit seinem Film „Un homme et une femme“ („Ein Mann und eine Frau“) beim Festival in Cannes 1966 den Grand Prix gewann. Gerne hätte Pierre Lellouch seinen Militärdienst in der Filmabteilung der Armee absolviert. Doch daraus wurde nichts. Der Adoptivvater war darüber nicht unglücklich. Er befürchtete, sein Sohn könnte als Soldat in Algerien, seiner Heimat, eingesetzt werden, wo sich die französische Armee und die antikoloniale Unabhängigkeitsbewegung einen erbitterten Krieg lieferten. Stattdessen wurde Pierre zum Militärdienst im badischen Offenbach abkommandiert. So kam der Sohn deutscher Juden in französischer Uniform und bewaffnet in das Land, aus dem seine Eltern einst vertrieben wurden.
In Offenbach lernte der 20-jährige Soldat Heidi Hoferer kennen, die er 1964 heiratete und ohne die er vermutlich nie nach Berlin ans Grab seiner Großeltern gekommen wäre, weil er deren Namen, Geburtsdatum und Geburtsort wohl nicht in Erfahrung gebracht hätte. Denn Pierre Lellouch spricht bis heute kein Deutsch. „Er hat da eine Blockade“, sagt seine Frau, die ihm seit Jahren hilft, seine Familiengeschichte zu recherchieren. Die Spurensuche hat Pierre Lellouch erst sehr spät begonnen. Aber er hatte eben immer andere Sorgen, die sich vordrängten, da waren die Arbeit und die Kinder. Das Gymnasium hatte er vor dem Abitur verlassen. Beim Film war er auch nicht weitergekommen. Also hatte er ein Kleidergeschäft eröffnet, das er bis zu seiner Pensionierung führte und das vor fünf Jahren sein Sohn übernommen hat. „Zu Beginn verkauften wir Kinderkleider, später Bademode, noch später Herrenmode“, berichtet Lellouch, „ich arbeitete pausenlos, sieben Tage die Woche. Für anderes war da keine Zeit.“
Doch dann hat das Internet die Welt revolutioniert und auch im Leben Lellouchs ein neues Kapitel eröffnet. „Schon 1999“, erinnert sich der Rentner, „tippte ich ‚Sternau’ in eine Suchmaschine.“ Es gab viele Sternaus, vor allem in den USA, nur wenige in Deutschland. „Ich schrieb sie an, aber Antworten erhielt ich nur von Amerikanern, einige schickten mir ihren Stammbaum. Doch ich kam nicht weiter.“ Erst 2008 zeigte sich ein Lichtstreifen am Horizont. Im Internet stieß Lellouch auf Alfred Sternau, der in den 30er Jahren in der Filmbranche tätig gewesen, zwar nicht als Regisseur, wie er bislang geglaubt hatte, sondern als Produzent, wie sich nun herausstellte.
Sternau hatte – so las der Franzose nun in seinem Computer – 1932/33 einen Film mit dem Titel „Brennendes Geheimnis“ produziert, eine Verfilmung der gleichnamigen Novelle Stefan Zweigs. Regie hatte Robert Siodmak geführt, ein in Dresden geborener US-Amerikaner polnisch-jüdischer Abstammung. Der Film wurde 1997 vom französischen Fernsehsender France 3 ausgestrahlt. „Ich war schrecklich aufgewühlt“, berichtet Lellouch, „und kontaktierte France 3. Man nannte mir eine Verleihfirma in Luxemburg, die mir schließlich eine DVD schickte.“ Der Film erzählt die Geschichte des zwölfjährigen Edgar, der in einem Tessiner Hotel mit seiner schönen Mutter Urlaub macht und zufällig Zeuge ihrer Affäre mit einem Rennfahrer wird, den er verehrt. Obwohl verstört, hält er aber gegenüber seinem Vater den Mund. Verstört war auch Lellouch. Denn im Abspann wurden nur die Schauspieler aufgeführt, aber nicht die technischen Mitarbeiter und auch nicht der Produzent Alfred Sternau, sein Vater.
Den Grund dafür brachte Lellouch erst später in Erfahrung. Im ursprünglichen Abspann kamen einfach zu viele Juden vor. Und so bestanden die Nazi-Zensoren auf einer Kürzung. Der Film wurde am 20. März 1933 im Berliner Kino Kapitol uraufgeführt. Doch schon wenige Tage danach verbot das eine Woche zuvor gegründete und von Joseph Goebbels geleitete Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda weitere Aufführungen. Der „Völkische Beobachter“ befand, dass sich „in diesem Film das Judenpack geradezu zusammengeballt“ habe. Sternau und Siodmak verließen Nazideutschland noch im selben Jahr.
Lellouch hatte eine Spur gefunden und verfolgte sie nun hartnäckig. In seinem Städtchen in der Provence googelte er sich zur Stiftung Deutsche Kinemathek durch und fragten nach Material über Sternau. Wenige Wochen später erhielt er Post aus Berlin. „Es war das erste schriftliche Dokument meines Vaters, das ich in Händen hielt“, sagt Lellouch, „es hat mich tief bewegt.“ Noch hatte er keine Ahnung, wie sein Vater aussah, aber er hatte nun einen Schriftwechsel von 1941 in den Händen. Aus Nizza schreibt Sternau im Februar an Paul Kohner, einen befreundeten Filmproduzenten aus dem Erzgebirge, der seit den 20er Jahren in den USA lebt: „Sie können sich denken, dass ich mich mit meiner Frau und einem zwei Monate alten Sohn in einer mehr als prekären Situation befinde (…) Ich sehe unsere einzige Hoffnung in einer leider sehr verspäteten Migration nach U.S.A. (…) Ich brauche nicht zu betonen, dass wir Ihnen für alle Schritte, die Sie in unserer Affidavit-Angelegenheit zu unternehmen bereit sind, die für uns heute eine Frage des Seins oder Nichtseins ist, unendlich dankbar sein würden (…) Mit den allerbesten Grüßen auch im Namen meiner Frau. Ihr ergebener Dr. Alfred Sternau.“
Sein oder Nichtsein. Für die Sternaus war es tatsächlich eine Frage von Leben und Tod. Die Nazis hatten Frankreich überfallen und die nördliche Hälfte des Landes besetzt. Im Süden, mit Amtssitz in Vichy, regierte Marschall Pétain, der auf Kollaboration mit den Nazis setzte und schon bald Gesetze erließ, die sich gegen die jüdischen Ausländer im Land richteten. Tausende Juden versuchten angesichts der dramatischen Lage in die USA zu entkommen. In ihrem autobiographischen Roman „Transit“ beschreibt die deutsche Schriftstellerin Anna Seghers eindrücklich, wie sie verzweifelt versuchen, sich die dazu nötigen Papiere zu verschaffen, vor allem ein Affidavit, eine Bürgschaft, auf der das amerikanische Konsulat bestand.
„Lieber Herr Dr. Sternau“, antwortet Paul Kohnen im März 1941, „es würde mir eine besondere Freude sein, Ihnen in der Angelegenheit des Affidavits zu helfen, und ich wäre auch gerne bereit, Ihnen mein Affidavit zu geben. Nur ist das im Augenblick ganz unmöglich, weil ich gerade die Nachricht erhalten habe, dass der Amerikanische Konsul in Marseille mein letztes Affidavit (…) nicht akzeptierte. Ich habe in dieser Richtung schon zu viel getan, und da jeder ja nur im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten derartige Garantien übernehmen kann, ist mein Limit erreicht und alle weiteren Affidavite von mir sind damit wertlos (…) Es tut mir wirklich sehr leid, dass ich Ihnen eine so negative Antwort geben muss (…) und verbleibe mit den besten Grüßen, auch an Ihre Familie, Ihr ergebener Paul Kohner.“
Für Alfred Sternau kam diese Antwort letztlich einem Todesurteil gleich. Sein wohl letzter Versuch, dem Schicksal zu entrinnen war, gescheitert.
2005 ging Pierre Lellouch in den Ruhestand. Seither ist die Spurensuche zu seinem Lebensinhalt geworden, zu einer Obsession gewissermaßen. Der Rentner hat Standesämter und Archive angeschrieben, Museen und Historiker konsultiert, um die Geschichte seiner Familie zu ergründen. Das Bundesarchiv in Berlin hat ihm bestätigt, dass seine Eltern im Gedenkbuch „Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945“ eingetragen sind. Eine Historikerin des Holocaust Memorial Museum in Washington schickte ihm einen Auszug aus dem Deutschen Reichsanzeiger und Preußischem Staatsanzeiger vom 10. Mai 1939, aus dem hervorgeht, dass Alfred Sternau, geboren 1890 in Burtscheid (bei Aachen) und seine Frau Ruth, geborene Abrahamsohn, geboren 1905 in Berlin-Wilmersdorf „der deutschen Staatsangehörigkeit für verlustig“ erklärt wurden. Die Universität Greifswald, wo Sternau Jura studiert und 1915 seine Dissertation „Das Recht der Notenbanken nach deutschem Verwaltungsrecht“ eingereicht hatte, teilte ihm mit, dass „ab 1938 Personen, die als Juden oder Emigranten ausgebürgert wurden, in Folge des Ausbürgerungsaktes die Doktorgrade aberkannt“ wurde, dass Alfred Sternau im Oktober 2000 aber namentlich rehabilitiert worden sei. So fügen sich Steinchen für Steinchen in einem noch unübersichtlichen Puzzle zusammen.
Als bislang wichtigste Fundgrube erwies sich das Polizeiarchiv von Nizza. Dort fand Pierre Lellouch ein Foto seines Vaters. Oft hatte er sich vorgestellt, wie sein Erzeuger denn wohl ausgesehen haben könnte. Aus der Polizeiakte über Sternau geht hervor, dass der jüdische Flüchtling 1937 aus Madrid nach Italien kam, dort in San Remo (unweit der französischen Grenze) wohnte und anfang 1939 nach Nizza übersiedelte. Der Akte lag ein Bild bei, das Alfred Sternau – wie bei polizeilichen Aufnahmen von Asylsuchenden und Verbrechern auch heute noch üblich – im Profil zeigt. Der knapp 49-jährige Flüchtling mit streng nach hinten gekämmtem Haar, hat den Blick fest nach vorn gerichtet. Noch scheint Sternau an eine Zukunft zu glauben. Auch von seiner Frau Ruth existiert in Nizza eine Polizeiakte. Bloß ist das eingeklebte Foto irgendwann irgendwo herausgefallen. Bis heute hat Lellouch keine Ahnung, wie denn seine Mutter ausgesehen hat.
Wann sein Vater, der 1933 Deutschland verlassen hat, nach Spanien gekommen ist, weiß Lellouch bis heute nicht. Auch nicht, weshalb er 1937 – vermutlich vor dem Spanischen Bürgerkrieg – ausgerechnet ins faschistische Italien floh. Wahrscheinlich siedelte er im Februar 1939 nach Frankreich um, weil fünf Monate zuvor Mussolini seine ersten Rassengesetze, die sich vor allem gegen die Juden richteten, erlassen hatte. Sternau befand sich gerade ein halbes Jahr in Frankreich, als Deutschland am 1. September 1939 Polen überfiel, das mit Frankreich verbündet war. Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen. Wie Lion Feuchtwanger, Max Ernst und viele andere Deutsche, die in Frankreich Zuflucht gesucht hatten – wurde er im September 1939 als Bürger des feindlichen Staates in der stillgelegten Ziegelfabrik von Les Milles, einem Dörfchen in der Nähe von Aix-en-Provence, interniert. Allerdings kam er nach wenigen Tagen schon frei. Nach der Kapitulation Frankreichs im Juni 1940, wurde Sternau ein zweites Mal in Les Milles interniert – diesmal nicht mehr als Deutscher, sondern als Jude – auf Anordnung des deutschfreundlichen Vichy-Regimes. Man hielt ihn über zwei Monate im Lager fest.
Ab August 1942 lieferte das Vichy-Regime staatenlose Juden an die Deutschen aus. Der Abtransport in die Sammellager im besetzten Norden wurde ausschließlich von der französischen Polizei durchgeführt. In Nizza, Monaco und dem angrenzenden Departement Basses-Alpes wurden an einem Augusttag bei einer Razzia 560 Juden festgenommen und abtransportiert. Die Sternaus waren nicht dabei.
Im Spätherbst 1942 entspannte sich die Situation für die Juden in Nizza. Nach der Landung der Alliierten in Nordafrika war die Wehrmacht auch in die bislang unbesetzte Zone Frankreichs eingerückt, hatte aber gleichzeitig Nizza und einen grenznahen Streifen den Italienern zur Besatzung überlassen. Und anders als im faschistischen Italien selbst wurden in den von der italienischen Armee besetzten Gebieten die Juden in Ruhe gelassen, sie erhielten sogar Niederlassungsbewilligungen. Die Nazis fluchten, die Gestapo schimpfte, die Côte d’Azur sei „für die Juden in Frankreich zum gelobten Land“ geworden.
Doch es war eine kurze Verschnaufpause. Sie dauerte gerade zehn Monate. Als Mussolini im September 1943 gestürzt wurde, besetzten die Deutschen auch diesen Teil Frankreichs. Eine Spezialeinheit der SS, angeführt von Hauptsturmführer Alois Brunner, machte nun auch in Nizza Jagd auf die Juden. Im August 1943 wurden Alfred und Ruth Sternau verhaftet und ins Durchgangs- und Sammellager Drancy bei Paris deportiert. Dort bestiegen sie am 10. Oktober den Zug nach Auschwitz, wo sie gleich nach ihrer Ankunft ermordet wurden.
Pierre Lellouch ist nach Berlin gekommen, um seine Eltern dem Vergessen zu entreißen. Wer, wenn nicht er, der einzige Nachkomme des Ehepaars, ist dafür verantwortlich, dass sie in Erinnerung bleiben? Im Nachhinein wirft sich der französische Rentner vor, nicht früher nach ihnen gesucht zu haben. Viele Spuren haben sich längst verflüchtigt. In Berlin, San Remo und Nizza sind viele Personen, die seine Eltern gekannt haben, inzwischen gestorben.
Auch der Mann, dem Lellouch wohl wesentlich sein Leben zu verdanken hat und der sich Marcel nannte, ist tot. Hinter dem Pseudonym versteckte sich Moussa Abadi, ein syrischer Jude, der in Paris studierte und im Sommer 1940 nach Nizza umzog. Ein italienischer Militärpfarrer, der von der Ostfront an die Côte d’Azur gekommen war, berichtete ihm im Juni 1943 von der Ermordung jüdischer Kinder durch die Einsatztruppen der Sicherheitspolizei und des SD in Russland. Abadi ging zu Monseigneur Rémond, Erzbischof von Nizza. „Monseigneur, ich bin nicht von Ihrer Herde, ich glaube nicht an Ihren Gott“, sagte er Rémond, „ich bitte Sie, mir bei einer undankbaren, gefährlichen Aufgabe zu helfen, die vielleicht Ihre und meine Kräfte übersteigt und die vielleicht uns in den Tod führt, Sie und mich. Es geht um Kinder, Monseigneur, die nicht an Ihren Gott glauben und deren Eltern man jahrhundertelang bezichtigte, Ihren Gott zu Tode gebracht zu haben.“
Der Erzbischof von Nizza, der mit Pétain befreundet war und mit ihm oft Boule spielte, aber gleichzeitig jeden Rassismus und Antisemitismus strikt ablehnte, stellte ihm in seinem Bischofspalais ein Büro zur Verfügung. Zusammen mit der Pariser Jüdin Odette Rosenstock knüpfte Abadi das „Réseau Marcel“, ein Netz zur Rettung jüdischer Kinder. Als die Deutschen im September in Nizza einmarschierten, gingen die beiden in den Untergrund und brachten jüdische Kinder bei christlichen Familien unter. Der Gestapo gelang es nicht, „Marcel“, dessen wahre Identität sie kannte, aufzuspüren. Odette Rosenstock, seine spätere Ehefrau, wurde im April 1944 festgenommen und nach Auschwitz deportiert, von dort später nach Bergen-Belsen überstellt und überlebte. Über 500 Kinder haben dem mutigen Paar ihr Leben zu verdanken.
„Wahrscheinlich auch ich“, sagt Pierre Lellouch, der im Dezember 1940 als Pierre William Charles Sternau in Villefranche-sur-Mer, einem Vorort von Nizza, geboren wurde – in der Villa der Amerikanerin Ottilie Moore. Dies schien seiner Mutter der sicherste Ort. Dort fand auch Charlotte Salomon Unterschlupf. Die Berliner Malerin wurde mit demselben Konvoi wie die Eltern Lellouchs nach Auschwitz deportiert und dort gleich nach Ankunft ermordet. Die im fünften Monat schwangere Künstlerin hatte ihre Bilder in Kartons verpackt und diese mit „Ottilie Moore“ beschriftet. So wurden ihre zwischen 1939 und 1942 entstandene Gouachen, ein Tagebuch in Bildern, gerettet.
Viele solcher Details haben Heidi und Pierre Lellouch in zäher jahrelanger Recherche zusammengetragen – in Archiven, Bibliotheken, Museen und im Internet. Die Suchmaschine hat den Franzosen aus der Provence auch zu einer Anzeige von eBay geführt. Da bot einer günstige Papiere aus dem Reichsbankschatz an, unter anderem eine Aktie über hundert Reichsmark einer Tuchfabrik Aachen „vorm. Süskind & Sternau-Aktiengesellschaft“. Der vormalige Inhaber stellte sich als Lellouchs Großvater Sigmund Sternau heraus. In Burscheid bei Aachen wurde 1890 dessen Sohn Alfred Sternau geboren. Übers Internet fand Lellouch Kontakt zum Verein „Tuchwerk Aachen“ und zu Andreas Lorenz, der in Aachen ein Museum über die Geschichte örtlicher Tuchfabriken gegründet hatte und die beiden Franzosen zu sich einlud.
Das war 2008. Zum erstenmal seit seinem Militärdienst in Offenbach betrat Pierre Lellouch deutschen Boden. Lorenz brachte ihn zum Küster Sebastian Elverfeldt, einem Experten des Aachener Judentums. Der wusste vom weiteren Lebensweg des Tuchmachers, der spätestens 1910 nach Berlin umgezogen war. Dort auf dem jüdischen Friedhof Weißensee werde wohl auch sein Grab sein.
„Bisher dachte ich immer die Friedhöfe seien Orte, wo eben Körper verwesen“, notierte Lellouch nach seinem Besuch in Berlin-Weißensee in sein Reisetagebuch, „dass sie nur die Vergänglichkeit der Menschen repräsentieren. Für mich war der Ort der Erinnerung und des Andenkens an dahingegangene Personen immer das Herz. Aber als ich all diese über hundert Jahre alten Grabstelen sah, habe ich die emotionale Anziehungskraft solcher Orte begriffen.“
Nach dem Friedhofsbesuch machen sich die Lellouchs zum Zeitschriftenarchiv der Staatsbibliothek auf. In der Vossischen Zeitung suchen sie nach Rezensionen des Films „Das brennende Geheimnis“. Der französische Rentner bedient den Mikrofilmapparat, als ob er schon immer Historiker gewesen wäre. Aus digitalisierten Zeitungen lädt er jede Notiz, die weiter führen könnte, auf seinen Stick. Aus gedruckten Bänden fotografiert er ganze Seiten mit seiner digitalen Kamera. Schließlich findet er im Feuilleton eine Anzeige des Kinos Kapitol, das auf den Film verweist. Neben dem Produzenten Alfred Sternau, dem Regisseur Robert Siodmak und den Schauspielern wird auch die Bühnenbildnerin Ruth Sternau genannt. Es ist Pierre Lellouchs Mutter, die Abrahamsohn hieß, bevor sie Alfred Sternau ehelichte.
Über seine Mutter wusste Lellouch vor seinem Besuch in Berlin weniger als über ihre Vorfahren: Sie ist in Berlin geboren, Tochter eines Notars namens Willy Abrahamsohn, der 1898 in Erlangen eine Dissertation mit dem Titel „Das Hausrecht des Gastwirts“ schrieb, 1907 an einem Autounfall beteiligt war und noch 1931 eine Kanzlei am Kurfürstendamm hatte. Willy Abrahamsohn war mit einer Tochter des Bankiers Emil Heymann verheiratet. Doch dann besucht Lellouch in Berlin das Jüdische Museum. Kurz vor dem Ausgang entdeckt er ein Foto eines Bankiers Emil Heymann. Es ist sein Urgroßvater. Wieder ein kleines Stück im großen Puzzle. Der wichtigste Stein im Mosaik, an dem Pierre Lellouch seit Jahren arbeitet, aber fehlt noch: das Bild seiner Mutter. Er hat keine Ahnung, wie sie ausgesehen hat. „Eines Tages ins Gesicht meiner Mutter zu schauen“, sagt er beim Abschied in Berlin, „das wäre die Krönung meiner Recherche.“
Wochen nach seinem Besuch in Berlin Pierre Lellouch Post von einer Frau aus Los Angeles. Sie heißt Katleen Heymann, ist 76 Jahre alt und die einzige Tochter von Irene, der Nichte des Bankiers. In dem Brief steckt das Foto einer jungen Frau, sie trägt kurzes blondes Haar. Auf der Rückseite des Fotos steht auf Englisch „This may be Ruth, but I am not sure“ – „das könnte Ruth sein, aber ich bin mir nicht sicher“.
Thomas Schmid
Der Beitrag erschien stark gekürzt, etwa in halber Länge in der Berliner Zeitung, 13.11.2010