PETITE-RIVIERE. Bis auf die Knochen abgemagerte Menschen. Männer, aus deren Augen der nahe Tod spricht. Frauen mit vertrockneten Brüsten. Spindeldürre Kinder mit festgeklemmten Spritzen in den Venen der Unterärmchen, die meisten am Tropf. Viele liegen halbnackt auf einer Liege, unter dem Gesäß ein Loch im Holzbrett, unter dem Loch ein Eimer. Für Würde ist wenig Platz hier im Krankenhaus von Petite-Rivière, einer Kleinstadt zwei Autostunden nördlich von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Intimität gibt es nicht. Alles muss schnell gehen. Jede Minute kann über Leben oder Tod entscheiden. Täglich fordert die Cholera im Land Dutzende neue Opfer.

Im Laufschritt werden die Patienten zum Hospital getragen. Die Cholerakranken werden separat von den übrigen Patienten in blauen Plastikzelten im Innenhof des Gebäudes versorgt. Wer Zutritt will oder den tristen Ort verlässt, muss die Hände desinfizieren und sich die Schuhsohlen abspritzen lassen. Die Angst vor dem tödlichen Bakterium ist allgegenwärtig. Die wenigen Ärzte und das Pflegepersonal tragen Gesichtsschleier und Plastikhandschuhe. Landesweit liegen 14600 Menschen wegen Cholera im Krankenhaus. Bis Sonntag wurden offiziell 917 Todesopfer gezählt, wahrscheinlich sind es mehr. In abgelegenen Dörfern, vermuten die Ärzte, werden viele Tote aus Angst vor Ansteckung einfach verscharrt.

Blauhelme im Verdacht

Zwei Drittel aller Todesfälle wurden bisher im Departement Artibonite registriert, in dem auch Petite-Rivière liegt. Hier werden 148 Cholera-Patienten versorgt. Nur wenige Kilometer weiter, in Verrettes, sind es knapp hundert, die abgemagert am Tropf hängen. Die meisten stammen aus dem Ort La Chapelle. Dort arbeitet der Arzt Carlo Emilcar in einer von der Frankfurter Hilfsorganisation „Medico international“ unterstützten Ambulanz. Vor dem kleinen Betongebäude, das eine Apotheke, einen Gebärraum, einen Behandlungsraum, eine Zahnarztpraxis und ein Labor beherbergt, stehen etwa 70 große Eimer aus Zement mit einem Loch im Boden. Sie sind für die Latrinen bestimmt.

„In vielen Dörfern hier verrichten die Menschen ihre Notdurft im Freien. Ein gefundenes Fressen für das Vibrio cholerae, den Erreger der Krankheit“, sagt Emilcar. Die Cholera verbreitet sich am häufigsten und am schnellsten durch mit Fäkalien verunreinigtes Wasser. Der Arzt hat in aller Eile zwei Dutzend hilfswilligen Personen einen Schnellkursus erteilt. Über Lautsprecher fordern sie nun die Einwohner des Städtchens und der umliegenden Dörfer auf, das Wasser mit Chlor zu versetzen, es abzukochen, möglichst oft die Hände zu waschen und vor allem nicht draußen im Freien den Darm zu entleeren. Diese Botschaften strahlt auch das lokale Radio stündlich aus. Und die Helfer des Arztes gehen von Haustür zu Haustür, um die Menschen zu überzeugen.

Dringendstes Symptom für Cholera ist extremer Durchfall – oft verlieren die Kranken binnen weniger Stunden zehn Liter Flüssigkeit. Wird ihnen dann nicht sofort oral oder intravenös mit Salzen und Zucker versetzte Flüssigkeit zugeführt, kann der Tod sehr schnell eintreten. „Drei Viertel aller mit Cholera infizierten Menschen aber zeigen keine Symptome und werden auch nicht krank“, sagt Emilcar. „Doch wenn die hygienischen Umstände schlecht sind, tragen sie zur Verbreitung des Erregers bei.“

Noch ist unklar, wie es geschehen konnte, dass in Haiti erstmals seit mehr als 50Jahren wieder die Cholera ausbrach, und warum ausgerechnet hier, in Artibonite. Doch es gibt einen begründeten Verdacht. Er hat zu tun mit der UN-Blauhelmtruppe Minustah, die rund 9000 Soldaten aus 19 Staaten umfasst. Das nepalesische Minustah-Kontingent hat sein Lager am 14. Oktober etwa 20 Kilometer oberhalb von La Chapelle, direkt am Artibonite-Fluss, aufgeschlagen. Leute wollen gesehen haben, wie die Soldaten die Fäkalien ihrer Latrinen in den Fluss kippten. Am 19. Oktober trat in Artibonite der erste Fall von Cholera auf.

Bakteriologische Untersuchungen hätten ergeben, dass sich die Erreger – vom Camp der Nepalesen aus gesehen – nur flussabwärts, nicht aber flussaufwärts nachweisen ließen, berichtet Emilcar. Zudem sei in Nepal im Jahr 2010 eine Cholera-Epidemie ausgebrochen, und das Bakterium sei das gleiche gewesen. Könnte es nicht auch sein, dass es die Cholera in abgelegenen Gegenden Haitis immer gab, sie aber unentdeckt blieb, weil die Bauern ihre Toten verscharrten? Das sei so gut wie ausgeschlossen, erwidert der Arzt.

Der Chef der UN-Mission in Haiti, der Guatemalteke Edmond Mulet, versicherte hingegen der spanischen Zeitung El País, man habe die Fäkalien und Abwässer des nepalesischen Lagers untersuchen lassen und keine Erreger gefunden. Unabhängig von der Querele waschen wenige Kilometer flussabwärts der nepalesischen Basis Frauen Wäsche zwischen badenden Kindern.

Am schlimmsten in den Slums

Im Departement Artibonite fordert die Cholera jede Stunde neue Opfer. So weit ist es in der Drei-Millionen-Stadt Port-au-Prince noch nicht. Doch auch die Hauptstadt, wo die Hälfte der Einwohner seit dem Erdbeben vom vergangenen Januar in Zelten lebt, vermeldet bereits ihre ersten Cholera-Toten. Noch herrscht in den Camps keine Panik. Aber die Angst, das Bakterium könnte sich auch hier unkontrolliert ausbreiten, ist mit Händen zu greifen. Die hygienischen Bedingungen sind prekär. Doch zumindest gibt es eine Reihe von Gemeinschaftslatrinen, die Menschen werden mit Trinkwasser versorgt. Und seit Freitag verteilt das Gesundheitsministerium auch Chlor und Desinfektionsmittel.

Schlimmer sieht es in den Elendsvierteln aus. In Cité Soleil, dem mit 300000 Einwohnern größten Slum Haitis, hat die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ ein Aufnahmelager eingerichtet. Vor dem grünen Stahltor kommt ein Mann mit einer Schubkarre angerannt. Auf dem Gefährt liegt der ausgemergelte Körper einer jungen Frau. Ein Mädchen bringt ein Kleinkind vorbei. Die französischen Helfer prüfen die Fälle und bringen die Kranken, bei denen Verdacht auf Cholera besteht, in eines der vier Behandlungszentren, die die Organisation in Port-au-Prince unterhält. An die tausend Leute werden dort versorgt.

In Cité Soleil gibt es keine Kanalisation. Die allermeisten Häuser haben keine Toiletten und kein fließendes Wasser. Man lebt auf engstem Raum zusammen. Die Straßen und Gassen zwischen den Elendsbehausungen sind mit stinkenden Pfützen übersät, zwischen denen Frauen Suppe kochen, Bananen braten, Mangos und Orangen schälen. Eine Umgebung wie geschaffen für den Cholera-Erreger.


© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 16.11.2010