Die Schrift ist trotz der Patina, die dem Stein eine moosgrüne Farbe verleiht, gut lesbar. „Hier ruht in Gott mein theurer Gatte, unser geliebter Vater Sigmund Sternau, geb. den 2. März 1847, gest. den 30. Oktober 1895. Friede seiner Asche“. Daneben das Grab von Meta Sternau, geborene Lövenstein, geboren 1861, gestorben 1899. Vor der letzten Ruhestätte des Ehepaars auf dem jüdischen Friedhof von Berlin-Weißensee, steht ein Mann, das Haupt bedeckt mit einer Kippa. Mit den Füßen scharrt er das Gestrüpp beiseite, vielleicht, um die Gefühle zu verbergen, die ihn überwältigen. Schließlich beugt er sich vor, um mit einem angefeuchteten Taschentuch den Vogeldreck vom Grabstein zu entfernen. „Laisse ça, c’est la nature“, sagt die Frau neben ihm leise. „Lass das, es ist die Natur.“ Der Mann legt Kieselsteine auf die Grabsteine. Es ist das Zeichen dafür, dass die Gräber noch besucht werden, dass die Toten nicht vergessen sind.

Pierre Lellouch, 69, ist das erste Mal in seinem Leben in Berlin. Zusammen mit seiner Frau ist er aus Vence, einem kleinen Städtchen nördlich von Nizza, angereist, um das Grab seiner Großeltern zu besuchen. Aber auch in der Hoffnung, Spuren seiner Eltern zu finden: Alfred Sternau und Ruth Sternau, geborene Abrahamsohn. Beide haben in Berlin gelebt, beide wurden in Auschwitz ermordet. Viel mehr weiß er nicht über sie.

Es war im August 1943, er war keine drei Jahre alt, als die Gestapo seine Eltern aus ihrer Wohnung in Nizza abholte. Ihren einzigen Sohn hatten sie vorher noch taufen lassen und in einer christlichen Familie versteckt. Nach Kriegsende wurde er von dem Arzt Alfred Lellouch, einem algerischen Juden, adoptiert. Dass Lellouch nicht sein biologischer Vater war, erfuhr Pierre im Alter von acht Jahren. Der Arzt erzählte dem Jungen vom Krieg, von den Nazis, vom Schicksal der Eltern. Er sagte, dass sie Sternau hießen.

„Es hat mich damals nicht weiter beschäftigt“, sagt Pierre Lellouch, „im Nachhinein staune ich selber darüber.“ Er erzählt, dass er Schwierigkeiten in der Schule hatte, ein Eigenbrötler war, und dass er heute darüber nachdenke, ob seine Probleme damals damit zu tun hatten, dass er als kleiner Junge oft herumgeschubst worden sei. „Heute“, sagt Lellouch, „gibt es viele Abhandlungen über traumatisierte Kinder, aber damals waren Verdrängung und Trauma überhaupt kein Thema.“

1961 wurde Pierre Lellouch zum Militärdienst im badischen Offenburg abkommandiert. Dort lernte der 20-jährige Soldat Heidi Hoferer kennen. Sie studierte damals an einer privaten Fremdsprachenschule Französisch und übersetzte für ihn. Es funkte zwischen den beiden. 1964 heirateten sie. Heidi folgte ihrem Mann nach Südfrankreich.

Pierre Lellouch spricht bis heute kein Deutsch. „Er hat da eine Blockade“, sagt seine Frau, die ihm hilft, seine Familiengeschichte zu recherchieren. Pierre Lellouch hat seine Spurensuche erst sehr spät begonnen. Bei Antibes an der Côte d’Azur führte er ein Kleidergeschäft, das er nach seiner Pensionierung vor fünf Jahren seinem Sohn überschrieb. „Ich arbeitete pausenlos, sieben Tage die Woche“, sagt er, „für anderes war da keine Zeit.“

1999 tippt er das erste Mal „Sternau“ ins Internet. Aber erst, als er 2005 pensioniert wird, findet er die Zeit, mit der Spurensuche zu beginnen. Der Rentner schreibt Standesämter, Archive und Museen an. Eine Historikerin des Holocaust Museum in Washington schickt ihm einen Auszug aus dem Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger vom 10. Mai 1939, aus dem hervorgeht, dass Alfred Sternau und seine Frau Ruth „der deutschen Staatsangehörigkeit für verlustig“ erklärt wurden. Die Universität Greifswald, wo Sternau Jura studiert und 1915 seine Dissertation eingereicht hat, teilt ihm mit, dass ab 1938 Personen, die als Juden oder Emigranten ausgebürgert wurden, die Doktorgrade aberkannt wurden. Im Jahr 2000 sei Alfred Sternau namentlich rehabilitiert worden.

2008 stößt Lellouch auf einen Eintrag, dass ein Alfred Sternau in den Dreißgerjahren in der Filmbranche tätig war. 1932/33 hatte er unter dem Titel „Brennendes Geheimnis“, einen Film nach der gleichnamigen Novelle Stefan Zweigs produziert. Was Lellouch wundert: Im Abspann wurden nur die Schauspieler aufgeführt, nicht aber die technischen Mitarbeiter und auch nicht der Produzent Alfred Sternau, sein Vater.

Den Grund dafür bringt Lellouch erst später in Erfahrung. Im ursprünglichen Abspann kamen zu viele Juden vor. Und so bestanden die Nazi-Zensoren auf einer Kürzung. Der Film wurde am 20. März 1933 im Berliner Kino Capitol uraufgeführt. Doch schon wenige Tage danach verbot Joseph Goebbels weitere Aufführungen. Sternau verließ Nazideutschland noch im selben Jahr.

Für Pierre Lellouch ist die Suche nach seinen Eltern inzwischen zum Lebensinhalt geworden. Im Polizeiarchiv von Nizza findet er ein Foto seines Vaters. Es liegt seiner Polizeiakte bei und zeigt ihn im Profil. Der knapp 49-jährige Flüchtling mit streng nach hinten gekämmtem Haar hat den Blick fest nach vorn gerichtet.

Oft hat Lellouch dieses Foto betrachtet, immer wieder hat er versucht, den Blick seines Vaters zu deuten. Wie ein innerlich gebrochener Mann wirkt er auf dem Foto jedenfalls nicht. Aber was beweist schon ein Bild?

Auch von Sternaus Frau Ruth existiert in Nizza eine Polizeiakte. Bloß ist das eingeklebte Foto nicht mehr da. Nur die Spur des Klebers ist noch zu sehen.

Pierre Lellouch forscht weiter. Er findet heraus, dass Sternau sich gerade ein halbes Jahr in Frankreich befand, als am 1.September 1939 der Zweite Weltkrieg begann. Wie Lion Feuchtwanger, Max Ernst und viele andere Deutsche, die in Frankreich Zuflucht suchten, wurde er im September 1939 als Bürger des feindlichen Staates in einer stillgelegten Ziegelfabrik in der Nähe von Aix-en-Provence interniert. Allerdings kam er nach wenigen Tagen wieder frei. Nach der Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 wurde Sternau ein zweites Mal in Les Milles interniert, diesmal als Jude. Man hielt ihn über zwei Monate im Lager fest.

Das erste schriftliche Dokument seines Vaters erhält Lellouch von der Stiftung Deutsche Kinemathek in Berlin, es ist ein Brief von Februar 1941. Er ist auf Maschine getippt, aber von Hand unterzeichnet. „Dr. Alfred Sternau“ steht da, in engem Schriftzug. Aus Nizza schreibt Sternau an Paul Kohner, einen befreundeten Filmproduzenten aus dem Erzgebirge, der seit den Zwanzigerjahren in den USA lebt. Er bittet ihn um Hilfe. Für ihn, schreibt Sternau, sei das eine Frage von Sein oder Nichtsein.

Es ist ein Brief aus der Zeit, als die Nazis Frankreich überfallen und die nördliche Hälfte des Landes besetzt hatten. Im unbesetzten Süden regierte Marschall Pétain, der mit den Nazis kollaborierte und schon bald Gesetze erließ, die sich gegen die jüdischen Ausländer im Land richteten. Tausende Juden versuchten, in die USA zu fliehen. Voraussetzung dafür war ein Affidavit, eine Bürgschaft eines Freundes, Verwandten oder Bekannten im Aufnahmeland, in der dieser sich verpflichtete, im Notfall für den Unterhalt des Flüchtlings aufzukommen. Aber Kohner kann Sternau nicht helfen. Der Brief war vielleicht sein letzter Versuch, dem Schicksal zu entrinnen. Er war gescheitert. Sternau saß fest. Die Grenzen waren gesperrt.

Im September 1943 besetzten die Deutschen auch den Teil Frankreichs, in dem die Sternaus lebten. Eine Spezialeinheit der SS machte in Nizza Jagd auf die Juden. Alfred und Ruth Sternau wurden verhaftet und ins Durchgangs- und Sammellager Drancy bei Paris deportiert. Dort bestiegen sie am 10. Oktober im Konvoi 60 den Zug nach Auschwitz, wo sie gleich nach ihrer Ankunft am 13. Oktober ermordet wurden. Die Daten der letzten Reise seiner Eltern hat Lellouch vom Pariser Rechtsanwalt und Historiker Serge Klarsfeld erfahren, der ein Standardwerk über die Judenverfolgung in Frankreich verfasst hat.

Viele Spuren haben sich verflüchtigt. Die Menschen in Berlin, San Remo und Nizza, die seine Eltern kannten, sind gestorben. Auch der Mann, dem Lellouch wohl wesentlich sein Leben zu verdanken hat und der sich „Marcel“ nannte, ist tot. Hinter dem Pseudonym versteckte sich Moussa Abadi, ein syrischer Jude, der in Paris studiert hatte und im Sommer 1940 nach Nizza umgezogen war. Zusammen mit der Pariser Jüdin Odette Rosenstock knüpfte Abadi das „Réseau Marcel“, ein Netz zur Rettung jüdischer Kinder. Als die Deutschen im September in Nizza einmarschierten, gingen die beiden in den Untergrund und brachten jüdische Kinder bei christlichen Familien unter. Der Gestapo gelang es nicht, „Marcel“ aufzuspüren, obwohl sie seine Identität kannte. Über 500 Kinder haben dem mutigen Paar ihr Leben zu verdanken. Wahrscheinlich auch Pierre Lellouch.

Die meisten ihrer Informationen finden Heidi und Pierre Lellouch im Internet, so stoßen sie auch auf eine Anzeige von eBay. Dort werden günstige Papiere aus dem Reichsbankschatz angeboten, unter anderem eine Aktie über 100 Reichsmark einer Tuchfabrik Aachen „vorm. Süskind & Sternau-Aktiengesellschaft“. Lellouch ist elektrisiert, als er den Namen liest. In Burscheid bei Aachen, wurde 1890 sein Vater Alfred Sternau geboren.

Lellouch nimmt Kontakt zu Andreas Lorenz auf, der in Aachen ein Museum über die Geschichte örtlicher Tuchfabriken gegründet hat, und der lädt die beiden Franzosen zu sich ein. Lorenz weiß alles über die Tuchfabriken der Region Aachen, von ihm erfährt Pierre Lellouch, dass der vormalige Besitzer der Tuchfabrik tatsächlich sein Großvater Sigmund war. Lorenz bringt sie auch zum ehemaligen Küster von St. Paul in Aachen, einem Experten des Aachener Judentums. Von dem Küster erfährt er, dass der Großvater auf dem jüdischen Friedhof Weißensee seine letzte Ruhe gefunden hat.

Und so kommen die Lellouchs schließlich nach Berlin, gehen auf den Friedhof und anschließend zur Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek. Sie ist seit 1997 im ehemaligen Getreidespeicher des Berliner Westhafens untergebracht. Heidi Lellouch fragt nach der Berliner Presse aus dem Jahr 1933. Eine Bibliotheksangestellte schleppt einige dicke Folianten herbei. Das Ehepaar blättert und blättert, in der Hoffnung, Rezensionen des Films „Das brennende Geheimnis“ zu finden. Die Vossische Zeitung ist digitalisiert. Das spart Zeit. Jede Notiz, die weiter führen könnte, lädt Lellouch auf seinen Stick. Das Berliner Tageblatt ist nur auf Film vorhanden. Doch der Rentner bedient den Mikrofilmapparat, als sei er schon immer Historiker gewesen. Schließlich findet er im Feuilleton eine Anzeige des Kinos Capitol, das auf den Spielfilm verweist. Neben dem Produzenten Alfred Sternau, dem Regisseur Robert Siodmak und den Schauspielern Willy Forst und Hilde Wagener wird auch die Bühnenbildnerin Ruth Sternau genannt. Es ist Pierre Lellouchs Mutter.

Über sie weiß Lellouch nach all seinen Recherchen nur, dass sie vor ihrer Heirat Abrahamsohn hieß und ihr Vater mit einer Tochter des Bankiers Emil Heymann verheiratet war. Aber dann entdeckt er im Jüdischen Museum, kurz vor dem Ausgang, plötzlich ein Foto von Emil Heymann, seinem Urgroßvater. Und Wochen nach seinem Besuch in Berlin bekommt er Post von einer Frau aus Los Angeles. Sie heißt Katleen Heymann, ist 76 Jahre alt und die einzige Tochter von Irene, der Nichte des Bankiers. In dem Brief steckt das Foto einer jungen Frau, sie trägt kurzes blondes Haar. Auf der Rückseite des Fotos steht auf Englisch „This may be Ruth, but I am not sure“ – „das könnte Ruth sein, aber ich bin mir nicht sicher“.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 13.11.2010

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