Unter Plastik, neben Trümmern

PORT-AU-PRINCE. Der blütenweiße Nationalpalast liegt da wie ein zerquetschtes riesiges Insekt. Die Straßen im Zentrum scheinen gerade einen Bombenangriff hinter sich zu haben. Der Schutt ist erst zu einem geringen Teil abgeräumt. Magere Ziegen und fette schwarze karibische Schweine schnüffeln im kniehohen Müll, der die staubigen Straßen säumt und unter der tropischen Hitze dahinfault. Männer hämmern an Eisen und flicken Gummireifen, Frauen verkaufen gebratene Bananen und schwarzen Reis, bieten Zwiebeln an und Mangos, Avocados, Papayas. Und überall wird Wasser verkauft, sauberes Trinkwasser, in Zeiten der Cholera abgepackt in kleine Plastiktüten. Zehn Monate nach dem Erdbeben in Haiti, das eine Viertelmillion Tote hinterließ, haben sich die Menschen in Port-au-Prince mit Schutt, Staub und Dreck längst arrangiert.

Am 12. Januar dieses Jahres spätnachmittags stürzte auch das Haus von Carline Brunach ein. Jetzt sitzt sie in ihrem Zelt auf dem Champ de Mars, dem großen Platz vor dem Nationalpalast, dem einstigen Sitz des Präsidenten. 484 Familien, vielleicht 3000 Personen, haben sich hier niedergelassen. Sie teilen sich 50 Toiletten. Hilfsorganisationen versorgen das Camp mit Trinkwasser, Chlor und Seife. Die Angst vor der Cholera ist allgegenwärtig. „Es ist eng hier“, sagt Carline, „aber das war es in der alten Wohnung auch.“ In einem Raum des Zeltes schläft sie mit ihrem Mann und den vier Kindern, im anderen, dem kleineren, steht ein blank geputztes rotes Motorrad. Es wird gehütet wie ein Augapfel. Es ist die einzige Einkommensquelle der Familie. Carlines Mann ist Mototaxi-Chauffeur. Schon vor dem großen Beben waren die mit tiefen Löchern übersäten Straßen der Hauptstadt verstopft. Seit sie an vielen Stellen durch den Schutt der zerstörten Häuser noch schmaler geworden sind, kommt der Autoverkehr noch öfter zum Erliegen. Da steigen viele auf das wendigere Mototaxi um.

„Am Anfang war die spontane Solidarität riesig, jeder half jedem“, berichtet Carline, „aber inzwischen hat sich alles normalisiert.“ Zur Normalität gehören Diebstahl, Prostitution und Gewalt. „Im Lager sind schon viele Mädchen vergewaltigt worden“, sagt sie, „von bewaffneten Jugendbanden.“ – „Weshalb zeigen Sie sie nicht bei der Polizei an?“ Die Frage nötigt ihr nur ein gequältes Lächeln ab. Der Polizei traut hier niemand, und der Justiz erst recht nicht. Wahrscheinlich hat Carline auch Angst vor Repressalien der Banden. Und wie sieht sie ihre Zukunft? „Wir bleiben wohl hier“, sagt sie, „wohin sollen wir denn?“ Einige sind gegangen – in andere Lager, zu Familien auf dem Land. Seither ist ein reger Handel mit den Zelten entstanden, die Hilfsorganisationen geschenkt haben. Umgerechnet 30 Euro kostet eines , für viele das Einkommen eines Monats.

Neue Slums

Nach offiziellen Angaben leben etwa 1,6Millionen Menschen unter Plastik, die allermeisten im Großraum Port-au-Prince. In der Hauptstadt begegnet man den Zelten buchstäblich auf Schritt und Tritt. Sie wurden in Gärten, Hinterhöfen, Ruinen, manchmal auch auf den Dächern oder auf dem Bürgersteig aufgeschlagen – im Zentrum wie in den Außenvierteln, in den Slums wie in den reicheren Wohngegenden. Drei Viertel aber wohnen in einem der 460 Zeltlager, wo sich einige schon ihre Hütte mit Wellblech und Holz gezimmert haben.

„Hier entstehen neue Slums, die bleiben werden, wenn nichts geschieht“, prophezeit Arnold Antonin. Der 68-jährige Filmregisseur und Bürgerrechtler rief noch am Tag des Bebens sein Team zusammen und begann sofort mit der Arbeit. Im kleinen Vorführraum seines Büros in Pétion-Ville oberhalb von Port-au-Prince schiebt er eine DVD in den Recorder. „Chronik einer angekündigten Katastrophe“ heißt das Dokument mit herzzerreißenden und anklagenden Szenen. Ein Jahr vor der Tragödie hatte Antonin öffentlich vor den Konsequenzen eines Erdbebens gewarnt. Einen Monat vor der Katastrophe war eine Schule eingestürzt und hatte hundert Schüler und Lehrer unter sich begraben. Kurz danach krachte eine Kirche in sich zusammen. Die Regierung tat nichts, traf keine Vorsorge.

Sie tat auch nach der großen Katastrophe nichts. Während die Überlebenden die Verschütteten zu bergen versuchten, sich gegenseitig mit Nahrung, Decken und Wasser aushalfen, jammerte Präsident Préval, dessen Residenz eingestürzt war, er wisse nicht, wo er die nächste Nacht verbringen solle. Ja, so ging es anderthalb Millionen Haitianern! Einen Monat hat es gedauert, bis René Préval seine erste Ansprache an die Nation hielt. „Hätte er noch am Tag des Erdbebens wie Churchill nach der Bombardierung Londons beherzt die Leute mobilisiert und zur Zusammenarbeit bei der Bewältigung einer großen nationalen Aufgabe aufgerufen, hätte er vieles bewirken können“, sagt Antonin, „aber er hat diese Chance verpasst.“

Von Wiederaufbau ist zehn Monate nach dem Beben nichts zu sehen und nichts zu spüren. Dafür wird Préval bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am Sonntag seine Quittung erhalten. Sein Kandidat, Jude Célestin, den die Regierungspartei in letzter Minute aus dem Hut gezaubert hat – eine Wiederwahl Prévals lässt die Verfassung nicht zu -, wird wohl durchfallen. Die besten Chancen hat die Oppositionspolitikerin Mirlande Manigat, Ehefrau von Leslie Manigat, der 1988 zum Präsidenten gewählt, aber kurz nach Amtsantritt von den Militärs gestürzt wurde.

Eigeninitiative unerwünscht

Acht Milliarden Euro stellten die Geberländer im März auf ihrer Konferenz in New York Haiti für die nächsten fünf Jahre in Aussicht, die Hälfte davon soll bis Ende 2011 fließen. „Aber es gibt keinen Masterplan für den Wiederaufbau“, klagt Antonin, der ein Jahr vor dem Erdbeben eine „Bewegung für ein schönes Haiti“ gründete. Die Initiative, der 120 Komitees, Vereine und Organisationen angehören, schrieb Préval sowie Bill Clinton und dem haitianischen Ministerpräsidenten Jean-Max Bellerive einen offenen Brief. Clinton und Bellerive sind Ko-Präsidenten des Interimskomitees für den Wiederaufbau Haitis, das über die Verwendung der Hilfsgelder entscheidet. In ihrem Schreiben skizzierte die Initiative ihre Vorstellungen für den Wiederaufbau: Nicht die repräsentativen Prachtbauten in der Hauptstadt müssten vorrangig wiederaufgebaut werden; vor allem müsste viel Wohnraum in den zerstörten Städten der Provinzen geschaffen werden. Wenn dort gleichzeitig an wichtigen landwirtschaftlichen, industriellen oder touristischen Orten gezielt Arbeitsplätze geschaffen würden, könnte dies einen Sog auslösen, der viele Menschen bewegen würde, in die Provinz zu ziehen, wodurch dort weitere Arbeitsplätze geschaffen würden. So könnte eine Dezentralisierung eingeleitet werden, wie sie alle Entwicklungsexperten und auch die Regierung selbst für notwendig erachten. Weder Préval noch Clinton noch Bellerive antworteten.

„Zivilgesellschaftliche Initiative ist offenbar nicht erwünscht“, stellt die argentinische Architektin Beatriz Corbanese fest, die seit mehr als 20 Jahren im Land lebt und sich ein autonomes Institut für den Wiederaufbau wünscht, in dem Stadtforscher, Ingenieure, Geologen, Soziologen und Architekten einen Masterplan erarbeiten. Stattdessen Stückwerk. Jedes Ministerium formuliert Projekte und holt sich Gelder. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy sorgt sich um den Wiederaufbau des Nationalpalastes. Mit der Ausarbeitung eines Plans für die Rekonstruktion des historischen Zentrums der Stadt wurde die britische Prinz-Charles-Stiftung beauftragt. Als ob Haiti selbst keine Fachkräfte hätte.

Zum Beispiel Karin Jadotte Bouchereau. „Bevor wir aufbauen, sollten wir erst mal räumen“, sagt die Architektin und Stadtforscherin, „aber es ist ja noch nicht mal geklärt, wohin der Schutt soll. Und inzwischen reißen die Menschen das Eisen aus den eingestürzten Mauern, mixen aus dem Schutt neuen Zement und bauen aus schlechtem Material neue Häuser, die beim nächsten Erdbeben noch schneller einstürzen. Der helle Wahn.“

Es werde sehr schwer, die Menschen aus ihren Zelten zu holen, sagt Jadotte. Zwei Drittel der Lagerbewohner hätten früher zur Miete gewohnt, für das Zelt zahlten sie jedoch nichts. Zudem: Wer sich auf dem Champ de Mars niedergelassen hat, kann auf den Märkten und in den Läden der unmittelbaren Umgebung eher Gelegenheitsarbeiten finden als im Außenviertel und erspart sich auch noch die Kosten für die Anreise ins Zentrum. Und was den Komfort betrifft: Auch in den eingestürzten Vierteln gab es in der Regel keine Toiletten, nur Gemeinschaftslatrinen – wie im Zeltlager auch. „Viele, die sich auf dem Champ de Mars niedergelassen haben“, vermutet Jadotte, „spekulieren darauf, dass man ihnen schon bald eine Wohnung anbieten wird, um den Park im Zentrum der Stadt zeltfrei zu kriegen.“ Oft würden Familien auseinanderziehen und sich auf mehrere Lager verteilen, um die Chancen auf eine eigene Wohnung zu erhöhen.

Einer hat schon die Bremse gezogen und nimmt in seinem Lager keine neue Obdachlosen mehr auf. Es ist der Hollywood-Star Sean Penn. Noch am Tag des Erdbebens stürmten Obdachlose die allerfeinste Adresse der Hauptstadt: den Golfplatz des Club Pétion-Ville, der dem US-Bürger Bill Evans gehört. Hier dinierten, parlierten und golften zu besseren Zeiten Diplomaten, Minister und Geschäftsleute. Es ist ein wunderschöner, von Zitronenbäumen gesäumter Ort, weit oberhalb der brodelnden Hauptstadt mit ihrer stickigen, Luft. Hier herrscht ein frischeres Klima. 55000 Menschen haben sich auf dem Golfplatz niedergelassen. Es ist das größte Zeltlager Haitis. Hier tauchte schon eine Woche nach dem Erdbeben Sean Penn auf, der Schauspieler, Regisseur und Ex-Man von Madonna. Er lebte sechs Monate in einem Zelt, bevor er in der Nähe eine Wohnung bezog.

Sean Penn kommt im blitzblanken schwarzen Jeep angerollt. Vor der Cholera-Station, wo fünf ausgemergelte Patienten am Tropf hängen, steigt er aus: Cargohose, bis zum Bauchnabel offenes Hemd, Zigarette hinter dem Ohr. Doch ein Gespräch ist nicht möglich. Penn wird sofort von rabiaten Mitgliedern seiner Hilfsorganisation abgeschirmt. Der Schauspieler schaut noch immer regelmäßig hier vorbei. Verschiedene Organisationen sind im Camp tätig. Verwaltet und überwacht aber wird das Lager von Penns Truppe. Ihre Mitglieder tragen alle ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift J/P – Human Relief Organization. Das P steht für Penn, das J für Diana Jenkins, eine Bosnierin, die 1992 aus dem belagerten Sarajevo floh, später einen reichen britischen Finanzier heiratete, einen Fotoband über Hollywood-Stars herausgab und eine Million Dollar ins Camp investierte. Penn und Jenkins rekrutierten schon wenige Tage nach dem Erdbeben medizinisches Personal, orderten Wasserfilter und Medikamente und charterten ein Frachtflugzeug.

Sean Penn gegen Wyclef Jean

Auf dem Neun-Loch-Golfplatz ist eine Zeltstadt mit Eigenleben entstanden, mit Märkten und einem Lebensmittelladen, Internet-Point und Kinoleinwand, mit Barbieren und Friseuren, mit einer Apotheke, einer Schule und einer Theaterbühne. Penn hat sich mit seinem Engagement auch Feinde eingebrockt, die ihm vorwerfen, es gehe ihm um die Vermarktung seiner Person. „Sterbt qualvoll an Enddarmkrebs!“, beschied er in seiner gewohnt ruppigen Art den Kritikern in einem Fernseh-Interview. Es hat sich herumgesprochen im Camp. „Penn ist ein guter Kerl“, sagt Jonas, der mit einer Machete Zuckerrohr schält, ein Stück absäbelt und zum Kauen reicht, „aber Wyclef ist besser.“ Jonas ist 20Jahre alt und trägt Dreadlocks. In seinem früheren Leben war er Musiker, bis der Gitarrist seiner Band unter den Trümmern beerdigt wurde. Die Geschichte des Streits zwischen Penn und Wyclef kennen die Jungen hier alle.

Wyclef Jean wollte sich am Sonntag zum Präsidenten wählen lassen. Der in Haiti geborene amerikanische Hip-Hopper ist bei der haitianischen Jugend äußerst populär. Schon vor dem Erdbeben hatte er „Yéle Haiti“, eine humanitäre Organisation, gegründet und war vom Präsidenten zum Botschafter des guten Willens seines Landes ernannt worden. Wyclef habe er in Haiti gar nie gesehen, geiferte Sean Penn. Der Rapper konterte musikalisch. In seinen Song „Wenn ich Präsident wäre“ flocht er den Satz ein: „Ich habe eine Botschaft für Sean Penn. Wahrscheinlich hat er mich nicht gesehen, weil er zu beschäftigt damit war, Kokain zu schnupfen.“ Penn schlug zurück und behauptete, der Rapper habe 400000 Dollar Spendengelder unterschlagen. Mag sein. Da die haitianische Gesellschaft eine sehr junge ist, hätte Wyclef als Außenseiter bei den Wahlen trotzdem gute Chancen gehabt. Doch wurde seine Kandidatur – formell korrekt – nicht zugelassen, weil er in den letzten fünf Jahren nicht in Haiti wohnte.

Ob der 38-jährige Hip-Hopper wirklich der richtige Präsident für Haiti wäre? Jonas schüttelt seine Dreadlocks und sagt: „Jedenfalls nicht schlechter als die andern.“ Er wird nun die oppositionelle Mirlande Manigat wählen, nur, um der Regierung eins auszuwischen. „Die tut nichts, wirklich nichts. Seit zehn Monaten leben wir im Zelt. Und nichts tut sich.“


© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 25.11.2010