ZAHLÉ/BEIRUT. Die Straße windet sich hoch durch Pinien- und Zedernwälder. Der Blick auf Beirut, den Hafen, die Küste und das offene Meer ist atemberaubend. Der Lärm und die ständig verstopften Straßen der libanesischen Hauptstadt sind schon bald nur noch ferne Erinnerung. Hier oben in den Dörfern des Libanon-Gebirges geht es gemächlich zu. Das Brot wird in althergebrachter Weise auf einem heißen Stein gebacken und Fladen für Fladen reichlich mit einer Paste aus frischem Oregano bestrichen. Stattliche Kirchen und weithin sichtbare Muttergottes-Statuen bezeugen, dass hier christliches Gebiet ist. Oben, vom Bergkamm aus, sieht man hinüber auf einen kahlen Gebirgszug, den Antilibanon. Auf dessen Höhen verläuft die Grenze zu Syrien. Und dahinter tobt der Krieg.
Zwischen Libanon-Gebirge und Antilibanon liegt die fruchtbare Bekaa-Ebene, die Obst- und Gemüsekammer Libanons. Männer fahren Traktoren, Frauen pflücken die letzten Weintrauben von den Rebstöcken. Auch Marihuana gedeiht hier prächtig. In den 90er-Jahren wurden die Plantagen von den syrischen Truppen, die das Tal kontrollierten, auf Wunsch der USA systematisch vernichtet. Nun wird das betörende Gras wieder großflächig angebaut, zu Haschisch gepresst und den Kiffern Europas als „Roter Libanese“ verkauft.
Allein hier in dieser abgelegenen Hochebene, tausend Meter über dem Meeresspiegel, leben etwa 260.000 syrische Flüchtlinge, über ein Drittel jener 740.000 Menschen, die nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) aus Assads Reich in die Zedernrepublik geflohen sind. Wahrscheinlich sind es mehr als eine Million. Denn viele lassen sich beim UNHCR gar nicht registrieren. Dazu kommen wohl über 100.000 Saisonarbeiter aus Syrien, die vor dem Wintereinbruch in ihr Land zurückzukehren pflegten, dies nun aber nicht mehr wagen. Der kleine Libanon, halb so groß wie Sachsen, hat mit seinen knapp über vier Millionen Einwohnern etwa so viel Flüchtlinge aufgenommen wie Jordanien und die Türkei zusammen.
Doch es gibt hier im Libanon keine ausufernden Zeltstädte, wie wir sie aus dem Fernsehen kennen. Während in Jordanien 120.000 Flüchtlinge in einem einzigen riesigen Camp des UNHCR leben, stehen hier in der Bekaa-Ebene hunderte kleine Zeltlager, am Rand der Ortschaften, längs der Landstraße, fernab jeder Siedlung. Die Flüchtlinge haben sich ihre ärmlichen Unterkünfte aus Stoff, Jute und Plastik selbst zusammengestückelt. Es sind in der Regel Siedlungen von ein paar Dutzend Familien, vielleicht hundert Personen, an wenigen Orten allenfalls tausend. Die libanesische Regierung lässt keine großen UNHCR-Camps zu. Man will sich kein zweites Palästinenserproblem einhandeln. Die Lager der Flüchtlinge aus dem Palästinakrieg von 1947/48, aus dem der unabhängige Staat Israel hervorging, wurden in den 70er-Jahren zu Hochburgen der palästinensischen Guerilla. Diese hat den Ausbruch des libanesischen Bürgerkriegs (1975-1990), der über 90.000 Menschen das Leben kostete, Städte und Dörfer zerstörte und eine ganze Generation traumatisierte, wesentlich mitzuverantworten.
Doch davon weiß Brahim Chaleb nichts. Damals war er noch Kind, heute ist er 35 Jahre alt und schaut aus wie ein 50-Jähriger. Er hat sich mit seiner Großfamilie – zehn Erwachsene und eine beachtliche Kinderschar – in fünf Zelten am Rand von Zahlé, der fast ausschließlich von Christen bewohnten größten Stadt der Bekaa-Ebene, niedergelassen. Zwei Kinder klammern sich an seine Hosenbeine. Ein halbes Dutzend Schafe und Ziegen suchen den Boden nach Gras ab. Eine Frau wäscht Blechkanister aus – Kochtöpfe für Suppen, Reis und Gemüse.
Schon ein Jahr lebt Chaleb nun hier. Am Anfang dachte er, es würde allenfalls einige Monate dauern, bis er und die Seinen wieder in ihr Dorf außerhalb von Aleppo zurückkehren könnten. Inzwischen hat er sich abgewöhnt, an die Zukunft zu denken. Doch er klagt nicht. Er hat Arbeit. Beim christlichen Bauern, auf dessen Grundstück seine sunnitische Familie ihre Zelte aufschlagen durfte, hilft er im Gemüsegarten aus, melkt Schafe und Ziegen und macht sich nützlich, wo immer es geht. 6000 libanesische Pfund erhält er dafür täglich – drei Euro. Die Arbeit ist ihm nicht fremd. In Syrien hat er ein Stück Land bewirtschaftet und hin und wieder auf dem Bau etwas hinzuverdient.
Auch zehn Schafe hatte er in Syrien. Doch da kam eines Tages ein bewaffneter Trupp an. „Sie ließen nicht mit sich reden“, sagt Chaleb, „einer drückte mir den Lauf des Gewehrs auf die Brust und die übrigen führten die Tiere ab.“ Kurz danach holten sie sein Auto. Und als dann die Bomben fielen, flüchtete das ganze Dorf. „Kein einziger ist geblieben“, sagt Chaleb, „selbst die Alten rannten los.“ Nur das Allernötigste raffte die Familie für die Flucht zusammen. „Bettlaken und Decken brachten uns Leute aus Zahlé“, berichtet Chaleb, im Winter ist es hier kälter als in Aleppo, es liegt sogar Schnee.“ Einen Blick in sein Zelt mag der Flüchtling dem Besucher nicht gewähren. Aus Scham. „Wir haben nicht einmal einen Teppich“, sagt er, „nur Lehmboden.“ Fotografieren lassen will er sich nicht. „Man weiß ja nie.“ Ein Dutzend Geheimdienste unterhält das syrische Regime. Und Syrien ist nur zehn Kilometer entfernt. Nach Damaskus ist es nur eine Stunde Autofahrt.
Im oberen Teil der Bekaa-Ebene mit dem Hauptort Baalbek, bekannt für seine imposanten Tempelanlagen aus römischer Zeit, wimmelt es von syrischen Geheimdienstlern. Dies behauptet jedenfalls Fadi, ein 25-jähriger Mann, Schuster von Beruf. Im Gesicht trägt er Narben. Seinen Nachnamen mag er nicht nennen. Fadi fordert den Besucher auf, seinen Oberarm zu drücken. „Da steckt noch eine Kugel drin“, sagt er, „zwanzig Zentimeter daneben.“ Um zwanzig Zentimeter hat der Scharfschütze in Homs, der drittgrößten Stadt Syriens, Fadis Herz verfehlt. Noch am selben Tag ist der Schuster über die Grenze in den Libanon geflohen. Das ist ein halbes Jahr her. Vor einem Monat ist er mit seiner Frau, deren Schwester und drei Kindern, alle im Vorschulalter, nach Zahlé gekommen. Er hat sich in einem Lager weit außerhalb der Stadt ein Plätzchen gekauft, um sein Zelt aufzustellen.
Vorher hat die Familie fünf Monate lang in einem Lager bei Baalbek gelebt. Die Dörfer in der Umgebung der Stadt sind vorwiegend schiitisch. Und sie werden faktisch von der schiitischen Hisbollah („Partei Gottes“) kontrolliert. Diese ist in der libanesischen Regierung mit einigen Ministern vertreten, unterhält aber eine eigene Miliz, die stärker und besser ausgerüstet ist als die libanesische Armee. Vor Baalbek hat sie einen Checkpoint eingerichtet. Sie bestimmt, wer die Stadt betreten darf und wer nicht. „Wir hatten Angst vor der Hisbollah“, sagt Fadi, „sie schüchtert die Flüchtlinge ein, sie will sie vertreiben.“
Viele sind, wie Fadi, von Baalbek nach Zahlé geflüchtet. Schließlich kämpft die Hisbollah seit vier Monaten schon mit mindestens tausend Mann offen an der Seite der syrischen Armee – auf syrischem Territorium. Aber auch vom libanesischen Bekaa-Tal aus greift sie immer wieder die Stellungen syrischer Rebellen an. Diese halten dagegen: Ab und zu schlagen Raketen im Bekaa-Tal ein. Der Krieg hat die Grenze überschritten.
Und ein Ende des Kriegs ist nicht abzusehen. Er wird nicht ausbluten, weil auf beiden Seiten die Waffenzufuhr gesichert ist. Das UNHCR rechnet offenbar für den Libanon mit einer Million registrierter Flüchtlinge bis Jahresende. Diese Zahl legte es jedenfalls im Juni seinen Berechnungen zugrunde, als es die Kosten allein für die syrischen Flüchtlinge im Libanon mit 1,7 Milliarden Dollar veranschlagte. „Eingegangen sind bislang davon lediglich 27 Prozent“, sagt Dana Sleiman, in der UNHCR-Zentrale von Beirut für die Pressefragen zuständig. Die Kosten für notwendige Krankenhausaufenthalte übernimmt das UNHCR nur noch zu 75 Prozent. Für den Rest müssen die Flüchtlinge selbst aufkommen, wenn nicht eine der 60 vorwiegend europäischen Hilfsorganisationen einspringt, die mit dem UNHCR zusammenarbeiten.
Die wichtigste Arbeit leisten diese regierungsunabhängigen Hilfsorganisationen. Sie versorgen auch Flüchtlinge, die noch nicht registriert sind, mit Nahrungsmitteln, Decken und Medikamenten. Denn wer sich registrieren lassen will, muss mindestens einen Monat warten, bis er an der Reihe ist und Hilfspakete des UNHCR bekommt. „Unsere Kapazitäten sind ausgelastet, wir registrieren allein hier in der Beiruter Zentrale zur Zeit jeden Tag 1.900 Flüchtlinge“, sagt Sleiman, „und es gibt im Libanon noch drei weitere UNHCR-Büros, wo es genauso aussieht wie hier. Hunderte von Syrern drängeln sich vor der UNHCR-Zentrale, fliegende Händler machen ihre Geschäfte, und ein Flüchtling aus dem Sudan schreit unentwegt, weil ihm das UNHCR kein US-Visum besorgen will.
Nicht nur die UNHCR-Zentrale, der ganze Libanon platzt aus allen Nähten. Françoise, so wollen wir sie hier nennen, ist eine Europäerin, die bei „Life4Syria“ (Leben für Syrien) arbeitet, einer Hilfsorganisation, die – über zehn syrische lokale Hilfsnetzwerke – seit zwei Jahren Verletzte und Vertriebene in Syrien selbst versorgt und ungefähr 4.500 Familien, also rund 25.000 Personen erreicht. Ihre Arbeit führt sie im Libanon mit vielen Syrern zusammen, und in die Bekaa-Ebene reist sie oft. „Es ist eine hochexplosive Stimmung“, sagt Françoise, „viele Libanesen wünschen sich die Syrer dahin, wo der Pfeffer wächst.“
In Beirut seien die Mieten horrend gestiegen, sagt Françoise, überhaupt sei manches teurer geworden, seit eine Million Flüchtlinge im Land sind. Viele Libanesen bangen um ihren Arbeitsplatz, weil die notleidenden Syrer zum halben Lohn arbeiten. Auf dem Land sind Kleinhändler sauer, weil Flüchtlinge auf der Straße, auf der Ladefläche von Kleinlastern oder auch schon in eigenen Läden die gleiche Ware billiger anbieten. Anwohner von Zeltlagern mit oft katastrophaler sanitärer Ausstattung beschweren sich über den herumliegenden Unrat oder Fäkalien. Eltern sind besorgt, dass ihre Kinder wegen der Kontakte mit Flüchtlingskindern mit Läusen nach Hause kommen.
„Es gibt viele reale Probleme, aber auch viele eingebildete“, resümiert Françoise und präsentiert die Ergebnisse einer Umfrage des norwegischen Forschungsinstituts Fafo vom Mai dieses Jahres, als die Situation noch weniger dramatisch war: 61 Prozent der Libanesen wollen keine Syrer als Nachbarn; 67 Prozent mögen nicht mit Syrern zusammen essen; 67 Prozent glauben, dass der Konflikt in Syrien zu einem neuen Bürgerkrieg im Libanon führt.
Soweit muss es nicht kommen. Aber die Erinnerung an die Schrecken des 15-jährigen Bürgerkrieges ist noch wach. Auch in Zahlé. Aufgebrachte Einwohner blockieren die Straße nach Beirut. Ein Trupp bewaffneter Hisbollah-Mitglieder soll am Rand der christlichen Stadt aufgetaucht sein. Die Aufregung ist groß. Frauen holen ihre neugierigen Kinder von der Straße. Schließlich stellt sich heraus, dass tatsächlich Mitglieder der schiitischen Miliz dabei sind, unterirdisch verlegte Kabel ihres eigenen Telefonnetzes zu reparieren. Als die Regierung vor fünf Jahren dieses illegale Netz stilllegen wollte, hatte die Hisbollah aus Protest kurzerhand große Teile von Beirut militärisch besetzt. Das Land stand am Rand eines Bürgerkriegs.
Auch in Beirut zeigt die Hisbollah ihre Krallen. Seit am 15. August in Dahieh, ihrer Hochburg in Beiruts Süden, eine Autobombe explodierte und 27 Tote forderte, halten in den schiitischen Vierteln der Hauptstadt Mitglieder ihrer Miliz, manchmal Halbwüchsige mit Kalaschnikow, an Checkpoints jedes Auto an. Die „Partei Gottes“ begründet dies damit, dass der Staat vor Ort offenbar die Sicherheit nicht gewährleisten könne. Dieser bemüht sich durchaus, einen andern Eindruck zu verschaffen. Im Zentrum Beiruts kontrollieren Regierungssoldaten die Taschen der Fußgänger. Die Armee bietet inzwischen Apps für Smartphones an, über die verängstigte Bürger verdächtige Gegenstände melden können.
Die Angst ist im Libanon mit Händen zu fassen und es ist nicht auszuschließen, dass sie in Aggression gegen die Flüchtlinge umschlägt, die – laut der bereits erwähnten Umfrage von Fafo – nach Ansicht von 52 Prozent der Libanesen eine Gefahr für die Sicherheit und nationale Stabilität bilden. Jeder Tag bringt neue Meldungen, die der Verunsicherung Nahrung geben: Im Bekaa-Tal wurden zwei syrische Goldhändler entführt. In einem nördlichen Vorort von Beirut starb ein Syrer, als er einen Sprengsatz anbringen wollte. Laut inzwischen wieder zurückgezogener Aussage seiner Ehefrau, war er Offizier eines der vielen militärischen Geheimdienste seines Landes. Am wenigsten Angst scheinen in dieser aufgeheizten Atmosphäre die Flüchtlinge zu haben. Sie haben den Krieg hinter sich gelassen, vor dem sich die Libanesen fürchten.
© Berliner Zeitung (unredigierte Fassung, die veröffentlichte mag geringfügig davon abweichen)
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 26.09.2013