Das Erbe der Diktatoren

In einer kleinen Straße im Zentrum von Bukarest, versteckt zwischen grauen Häusern und Plattenbauten, steht eine alte Villa, gebaut um die vorletzte Jahrhundertwende. Von außen ist es ein unscheinbares Gebäude. Doch in der großen Eingangshalle künden Marmor, Glasfresken und Holztäfelung vom Reichtum des einstigen Besitzers. „Dies war das Freudenhaus eines Privatbankiers“, sagt Teodor Maries, „im oberen Stockwerk hatte jedes Zimmer ein eigenes Bad.“ Ein Bordell für betuchte Kunden. Die Kommunisten verboten Prostitution wie Privatbanken und nahmen das Haus für eigene Zwecke in Beschlag. Vor 20 Jahren wurden sie vertrieben. Und nun sitzt im großen Chefsessel hinter dem alten Schreibitsch ein hagerer Mann mit grauem, eingefallenem Gesicht. Er zieht seine ärmellose gepolsterte Jacke, den darunterliegenden schwarzen Pullover und das Hemd hoch und zeigt seinen ausgemergelten Oberkörper. Theodor Maries, Präsident der „Vereinigung des 21. Dezember 1989“ ist – nach eigenen Angaben – seit 70 Tagen im Hungerstreik, wiegt noch 55 Kilo und hat eine Körpertemperatur um die 35 Grad.

Am 21. Dezember 1989 hatte Staats- und Parteichef Nicolae Ceausescu – Titan der Titanen, Genie der Karpaten, um nur die geläufigsten seiner vielen selbst gewählten Titel zu erwähnen – eine Massenkundgebung vor dem Gebäude des Zentralkomitees der Partei angeordnet. Zehntausende von Arbeitern, Studenten und Angestellten wurden herbeigekarrt, die die Ereignisse von Temesvar verurteilen sollten. In der größten Stadt des rumänischen Banat hatten sich am Vortag nach mehrtägigen Unruhen Armeeeinheiten und Demonstranten verbrüdert. Ein „Provisorisches Komitee der Revolution“ war gegründet worden. Nun wollte der kommunistische Diktator in Bukarest zum Gegenangriff blasen. Vor einer riesigen Menge trat er ans Mikrophon und schimpfte wie ein Rohrspatz auf die „reaktionären, imperialistischen und chauvinistischen Kreise“, die hinter dem Aufstand in Temesvar stünden. Dann geschah das Unglaubliche. Nach wenigen Minuten schon buhte und pfiff ihn das Publikum aus. Ceausescu, der nur höfische Ergebenheit und sklavischen Gehorsam gewohnt war, konnte seine Überraschung nicht verbergen. Und da die Kundgebung im Fernsehen live übertragen wurde, sah ganz Rumänien wie sein Gesicht zur Fratze erstarrte. Der Bann war gebrochen.

Teodor Maries gehörte zu den ersten, die am Tag danach das ZK-Gebäude stürmten. Er war damals Profifußballer und spielte in der dritten Liga. „Ich bin durchs Fenster eingestiegen, nahm mir eines der Gewehre, die die Präsidialgarde zurückgelassen hatte, stürmte in den obersten Stock, um Ceausescu zu erschießen.“ Er berichtet alles mit einer Verve, als hätte es sich gestern zugetragen. „Als ich im sechsten, dem obersten Stock ankam, war Ceausescu gerade im Hubschrauber von der Dachterrasse abgeflogen.

„Die Revolution wurde uns gestohlen“, behauptet Maries, „unsere Freiheit dauerte gerade sechs Stunden.“ Um 12.08 Uhr flüchtete Ceausescu. Gegen 14 Uhr gab Ion Iliescu, der einst hohe Parteiämter innehatte, bis er politisch kaltgestellt wurde, die Bildung einer „Front zur Nationalen Rettung“ bekannt. Gegen 18 Uhr eröffneten Unbekannte das Feuer auf Demonstranten, die Armee schoss zurück. In den fünf Tagen nach der Flucht des Diktators wurden bei Schusswechseln an die tausend Menschen getötet, sechs mal mehr als in den fünf Tagen zuvor während des Aufstandes in Temesvar. Rumänien war das einzige Land des Ostblocks, in dem der Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur 1989 mit einem Blutbad einherging. Doch ist bis heute für die fast tausend Toten in Bukarest niemand zur Rechenschaft gezogen worden. Nach wie vor ist völlig ungeklärt, wer damals geschossen hat. Das staatliche Fernsehen sprach von Terroristen. Waren es Spezialeinheiten der Securitate, des gefürchteten Geheimdienstes? Oder hat die Armee die Schießereien inszeniert, um die Demonstrationen zu stoppen und die Machtübernahme der Wendehälse in Ruhe über die Bühne zu bringen? Waren ferngesteuerte Provokateure am Werk? Aber von wem ferngesteuert? Noch liegt alles im Dunkeln.

Seit einem Jahr schon verlangt Maries die Herausgabe sämtlicher Dokumente aus den Archiven von Armee und Geheimdienst, um zu rekonstruieren, wer in den dramatischen Dezembertagen die Strippen gezogen hat. Aber erst am 10. März dieses Jahres gab Ministerpräsident Emil Boc bekannt, man werde nun alle bislang noch geheim gehaltenen Akten im Zusammenhang mit der antikommunistischen Revolution freigeben. Erst unter dem Druck eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hatte der Regierungschef nachgegeben. Inzwischen sind Kopien fast sämtlicher Dokumente am Sitz der „Vereinigung 21. Dezember 1989“ eingetroffen. Sechs hohe antike Schränke in dunklem Holz stehen im Chefbüro. Maries öffnet stolz einen nach dem andern. Alle sechs sind von oben bis unten mit Akten vollgestopft. Es sei nur noch eine Frage von Tagen, meint der frühere Sportler, bis die letzten Dossiers eintreffen würden und er seinen Hungerstreik abbrechen könne.

Aber dann wird die Arbeit erst beginnen. Maries will die Verantwortlichen für tausendfachen Tod vor Gericht bringen. Zumindest beratend wird ihm da wohl Dan Voinea zur Seite stehen. Der war bis im Mai 2009 Militärstaatsanwalt und schaut öfter mal in der Villa, die einst ein Edelpuff war, vorbei. Voinea, der mit seiner Leibesfülle neben dem abgemagerten Maries  den Charme eines Bonvivant ausstrahlt, wägt seine Worte genau ab, scheint die Reaktionen in den Gesichtszügen des Gesprächspartners zu analysieren, blickt misstrauisch durch die dicke Brille. Das Leben hat den 59-Jährigen gelehrt, vorsichtig zu sein.

Worte wie „Verfassungsschutz“ und „Bundesnachrichtendienst“ gehen Voinea akzentfrei über die Lippen. In den 90er Jahren half er den deutschen Behörden bei der Aufklärung einiger Attentate, die die Securitate in Westdeutschland verübt oder zu denen sie Beihilfe geleistet hatte. Johannes Weinrich, die rechte Hand des venezolanischen Superterroristen Ilich Ramírez Sánchez alias „Carlos“, wurde wegen des Bombenanschlags auf das Maison de France am Kurfürstendamm von 1983 zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Waffen hatte er vom rumänischen Geheimdienst, behauptet Voinea, der heute in Bukarest an einer Privatuniversität Kriminalistik, Strafrecht und Viktimologie (Wissenschaft von den Opfern) doziert.

Voineas große Stunde schlug am Weihnachtstag 1989. Da verlas er in der Armeekaserne von Targoviste, einer Stadt siebzig Kilometer nordwestlich von Bukarest, die Anklage gegen Nicolae Ceausescu und seine Frau Elena. Er selbst hatte 22. Dezember 1989 am Sturm aufs ZK teilgenommen und als Militärstaatsanwalt im Gebäude den damaligen Innenminister Tudor Postelnicu verhaftet, der den Befehl gegeben hatte, in Temesvar auf die Demonstranten zu schießen. Am Tag danach stellte sich Voinea zur Verfügung, die Anklage gegen die Ceausescus zu übernehmen. Er hatte keine zwei Tage Zeit, sich auf den Prozess vorzubereiten. Er bezichtigte das Herrscherpaar der Untergrabung der Staatsgewalt, der Sabotage, der Untergrabung der nationalen Wirtschaft und des Völkermords. „Für die schwerwiegenden Verbrechen, die von den beiden Angeklagten im Namen des rumänischen Volkes begangen wurden“, so schloss der Militärstaatsanwalt sein Plädoyer, „fordere ich, Herr Vorsitzender, die Verurteilung dieser Tyrannen zum Tode.“ Das Gericht verkündete das Todesurteil. Nicolae und Elena Ceausescu wurden umgehend füsiliert. Der ganze Prozess hatte etwa eine Stunde gedauert. Es war eine juristische Farce.

„Niemand wies mich an, für Todesstrafe zu plädieren“, behauptet Voinea, der schon unter der Tyrannei sechs Jahre Militärstaatsanwalt war, „dass das Urteil schon vorab feststand, erfuhr ich erst später. Den Richtern war es von Iliescu und seinen engsten Mitarbeitern befohlen worden.“ Vermutlich schien ein regulärer Prozess den neuen Machthabern zu riskant. Mit der Erschießung des Präsidentenpaars, das einen bizarren Personenkult um sich betrieben hatte, waren dessen bewaffnete Anhänger entmutigt. Vielleicht verhinderte die Hinrichtung in der Kaserne von Targoviste weiteres Blutvergießen. „Inzwischen aber“, klagt Voinea, „gibt es schon wieder Personen, die Ceausescu als Opfer und mich als Täter sehen.“

Weil sie den Schießbefehl in Temesvar gegeben haben sollen, wurden vor anderthalb Jahren zwei Generäle zu je 15 Jahren Haft verurteilt: Victor Stanculescu und Mihaj Chitac. Stanculescu war am 22. Dezember 1989 Verteidigungsminister geworden, nachdem sich sein Vorgänger am selben Tag das Leben genommen hatte. Er hatte die Flucht Ceausescus organisiert, der ihm offenbar vertraute. Danach aber hatte er den Prozess gegen ihn arrangiert. Kurz nach Weihnachten 1989 wurde er Wirtschaftsminister, später kam er als Geschäftsmann zu Reichtum. Chitac hatte die Nachfolge des von Voinea am 22. Dezember festgenommen Innenministers angetreten und die Festnahme des Präsidentenpaares angeordnet. „Wegen der 72 Toten von Temesvar sitzen zwei Generäle im Gefängnis“, bilanziert Voinea, „wegen der fast tausend Toten von Bukarest ist niemand zur Rechenschaft gezogen worden.“ Voinea hat 34 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Vor einem Jahr wurde er als Militärstaatsanwalt abgesetzt. Wurde er einigen Leuten zu unbequem? Haben Seilschaften früherer Securitate-Offziere seine Ablösung durchgesetzt, wie viele vermuten? Voinea will sich dazu nicht explizit äußern. Er sagt nur: „Es fehlt am politischen Willen zur strafrechtlichen Aufarbeitung.“

Fehlt dieser Wille tatsächlich? Just darüber wird in Rumänien heute heftig gestritten. Die Opfer beteuern es. Die Regierung bestreitet es. Einigkeit herrscht darüber, dass während der ersten Amtszeit von Präsident Iliescu (1990-1996) keine ernsthaften Bemühungen gemacht wurden, die Verantwortlichen für die Verbrechen der Securitate, des wohl schlimmsten Geheimdienstes des Ostblocks, zur Rechenschaft zu ziehen. Es war die Regierung der Wendehälse. Zwar wurden 87 Spitzenfunktionäre des entmachteten Regimes schon 1990 zu Gefängnisstrafen verurteilt – zum Teil wegen „Genozid“ sogar zu lebenslanger Haft. Doch schon 1993 kamen die letzten von ihnen wieder frei. Die Securitate wurde nach dem Sturz Ceausescus zwar umgehend aufgelöst. Aber der neue Geheimdienst SRI übernahm nach eigenen Angaben 40 Prozent des Personals des offiziell verschwundenen Dienstes. Und noch 2006 beteuerte Präsident Traian Basescu, ein erklärter Gegner der Wendehälse: „Nur sechs Prozent der jetzigen SRI-Offiziere kommen aus dem früheren Geheimdienst.“ Nur? Man stelle sich vor, „nur“ sechs Prozent der heutigen BND-Beamten wären früher Stasi-Offiziere gewesen.

Während in Ost-Berlin im Januar 1990 die Stasi-Zentrale gestürmt wurde und zwei Jahre nach dem Fall der Mauer das Stasi-Unterlagen-Gesetz in Kraft trat, dauerte es nach Ceausescus Sturz zehn Jahre, bis im Jahr 2000 der Nationale Rat zum Studium der Securitate-Archive (CNSAS) gegründet wurde, ein rumänisches Pendant zur Birthler-Behörde. Aber just im selben Jahr kehrte der Chef der Wendehals-Regierung Iliescu an die Macht zurück und blieb bis 2004 im Amt. Präsident des CNSAS ist Dragos Petrescu. Der 47-jährige Historiker ist recht optimistisch: „Im Jahr 2005 hatten wir erst rund 10.000 Akten, heute sind es zwei Millionen.“ Nur noch etwa 60.000 seien aus Gründen der nationalen Sicherheit nicht deklassifiziert, aber Einsicht in diese habe sein Institut trotzdem. Im übrigen ist das Interesse am eigenen Dossier recht beschränkt. Während in Deutschland bereits rund 2,6 Millionen Bürger einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt haben, sind es in Rumänien erst einige zehntausend.

Die rumänisch-deutsche Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die 1987 in den Westen ausgereist ist und heute in Berlin lebt, schrieb im vergangenen Jahr über ihre eigene Akte, diese sei „ein Machwerk des SRI im Namen der alten Securitate“, der zehn Jahre Zeit gehabt habe, um daran zu arbeiten. Ihre Akte sei „regelrecht entkernt“. Darin stehe kein Wort über die beiden misslungenen Anwerbeversuche der Securitate und auch keines über deren infame Strategie, sie danach in der Öffentlichkeit als Securitate-Spitzel zu diffamieren. Und natürlich auch kein Wort über die körperlichen Misshandlungen bei den Verhören.

Anders als in der DDR gab es in Rumänien unter der Herrschaft Ceausescus bis zuletzt keine organisierte Opposition. Mit hunderttausenden Spitzeln hatte die Securitate ein enges Netz von Terror, Einschüchterung, Angst und Misstrauen gewebt, das die ganze Gesellschaft lähmte. Aktionen des Widerstands gab es nur vereinzelt, und meistens erfuhr man im Ausland davon nichts. Der Fall Radu Filipescu war da eine Ausnahme. Der 54-jährige Elektroingenieur lacht heute über seine tollkühnen Aktionen, und aus den Augen spricht der Schalk. Mit Hilfe einer selbst gebastelten Matrize stellte er 1983 in dreiwöchiger Arbeit 10.000 Flugblätter her, die er in die Briefkästen steckte. „Wer gegen Ceausescus ist“, stand auf den Blättern, „kommt am 30. Januar um fünf Uhr nachmittags zum Platz des Palastes.“ Zur besagten Stunde war der Platz voll von Spitzeln der Securitate, die zum Teil mit Videokameras angerückt waren. Als Filipescu vier Monate später bei einer zweiten Aktion mit einer Tasche voll Flugblätter durch die Treppenhäuser schlich, wurde er verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.

Dass seine Verhaftung auch jenseits der Grenzen Rumäniens bekannt wurde, hatte Filipescu der heute 81-jährigen Lia Stoica zu verdanken. Die noch immer recht alerte Frau steuert ihr Auto in einem Tempo durch Bukarests Straßen, dass einem schwindlig wird. Schmunzelnd erzählt sie, wie sie damals mit ihrem Mann einen Text verfasste, ihn auswendig lernte, die Notizen zerriss, anlässlich einer beruflichen Reise im Ausland den Text neu schrieb und Amnesty International zuschickte. Die Menschenrechtsorganisation erklärte Filipescu zum Gefangenen des Monats und veröffentlichte in der „Frankfurter Rundschau“ einen Aufruf: „Schreiben Sie bitte höflich formulierte Briefe und bitten Sie um die Freilassung. An: Presidentele, Republicii Socialiste Romania, Nicolae Ceausescu“.

Der Diktator ließ den Elektroingenieur auf internationalen Druck hin frei. Doch dieser gab nicht klein bei. Nach einer dritten Flugblattaktion wurde er 1987 wieder verhaftet und auch schwer misshandelt. Filipescu ist heute durchaus stolz auf seine Geschichte, mindestens so stolz aber ist er über seine Erfindung des in den USA und in Europa patentierten Parrot-Clip, einer elektrischen Prüfklemme, die ihm 1991 auf der Brüsseler Welterfindungsmesse die Goldmedaille einbrachte. Der frühere Rebell hat nach der Wende die „Gruppe für den sozialen Dialog“ gegründet, die eine eigene Wochenzeitschrift herausgibt. Seine Akten hat Filipescu gesehen. „Vieles wurde mir vorenthalten“, sagt er, „aber inzwischen interessiert mich das alles nicht mehr.“

Da ist Marius Oprea verbissener. Der Weg zu ihm macht den Besucher mit einer der sonderbarsten Hinterlassenschaften der Diktatur bekannt. Er führt über zwei Plätze, auf denen Dutzende herrenloser Hunde streunen. Seit Ceausescu Ende der 70er Jahre einen Großteil der Altstadt abreißen ließ, um das monströse „Haus des Volkes“, nach dem Pentagon das zweitgrößte Haus der Welt, zu bauen, plagt sich die Stadt mit dem Problem der Vierbeiner. Zehntausende Bukarester mussten damals ihre Einfamilienhäuser verlassen. Die meisten hatten einen Wachhund. Als die Vertriebenen in die eiligst hochgezogenen Plattenbauten einquartiert wurden, ließen viele die Tiere zurück, zumal zu jener Zeit auch noch eine saftige Hundesteuer eingeführt wurde und das Haustier bei der grassierenden Armut ein Luxusgut war. Heute gibt es trotz Tötungskampagnen, die nach Einspruch der französischen Schauspielerin Brigitte Bardot zeitweilig unterbrochen wurden, wohl mindestens 30.000 herrenlose Hunde in der Stadt. Jährlich werden zehntausende Bukarester mit Wadenbissen verarztet.

Opreas Wohnung steht voller Kisten. Alles ist verpackt. Er muss die Wohnung bis Monatsende räumen. Es war eine Dienstwohnung und Oprea wurde gekündigt. Vier Jahre lang leitete der Historiker das von ihm gegründete halbstaatliche „Institut für die Erforschung der Verbrechen des Kommunismus“. Zur Begrüßung steckt er eine DVD in seinen Laptop. Es ist ein Achtminutenfilm über die Ausgrabungen, die er leitet. „Diese beiden hier wurden füsiliert, dann ans Kreuz geschlagen und an den Straßenrand gestellt“, kommentiert er, „hier ein 16-jähriges Mädchen, erschossen von der Securitate… ein 15-jähriger Junge, seine neun-jährige Schwester hat gesehen, wie er hingerichtet und verscharrt wurde…“ Es sind Bilder von Totenschädeln, halben Skeletten, isolierten Oberschenkelknochen, Bilder des Grauens.

Oprea geht von bis zu 10.000 Personen aus, die von der Securitate ohne jeden Prozess füsiliert wurden. Immer wieder geht er in die Karpaten, spricht mit den Bauern über die alten Geschichten, sucht anonyme Gräber. Über 50 Leichen hat er bislang ausgegraben, mehr als 400 Securitate-Mitglieder als Folterer und Mörder denunziert, woraufhin Offiziere des früheren Geheimdienstes ihn vor Gericht brachten. „812 Jahre Gefängnis wurden, zusammengerechnet, gegen mich beantragt“, sagt Oprea sehr selbstbewusst, „aber bislang habe ich alle Prozesse gewonnen.“ Er sieht sich selbst als rumänischen Wiesenthal, als Securitate-Jäger.

Weshalb Opreas Institut mit einem andern zusammengelegt und unter neue Führung gestellt wurde, ist unklar. Der neue Chef, Ioan Stanomir, im Gegensatz zu seinem impulsiven Vorgänger ein zurückhaltender, alles eher vorsichtig formulierender Verfassungsjurist, sieht keine politische Dimension bei der Entscheidung, eher einen üblichen Personalwechsel. Immerhin war Oprea Sicherheitsberater des früheren Premierministers Calin Popescu-Tariceanu, und dessen Partei, der auch Oprea angehört, ist nun in Opposition. Aber die neue Regierungskoalition hat sich schon vor zwei Jahren gebildet. Weshalb hat man ihn nicht schon damals entlassen? Oprea will nicht schlecht über seinen Nachfolger reden. Er sagt nur: „Ich wurde unbequem für die Staatsanwälte. Ich machte denen viel Arbeit“, und dann fügt er hinzu, was man in Bukarest immer wieder hört: „Die alten Seilschaften funktionieren noch, der Staat wird von den alten Kräften kontrolliert.“ Ähnlich drückte sich der Militärstaatsanwalt Voinea aus, ähnlich formulierte es Filipescu.

Ähnlich sagt es auch der Historiker, Politologe und Schriftsteller Stelian Tanase, Autor von 16 Büchern und Herausgeber einer politologischen Zeitschrift: „Banken, Außenhandel, Medien, all dies ist im wesentlichen in Händen früherer Mitglieder der Securitate.“ Der aufgelöste Geheimdienst habe nach dem Kollaps des Kommunismus sich die wirtschaftliche Macht gesichert. Die Parteien seien von wirtschaftlichen Gangs kontrolliert. „Wir haben eine sehr fragile Demokratie. Vieles ist nur Fassade. Das Establishment ist korrupt. Polizei und Gangs sind verbandelt.“ Alles Verschwörungstheorie? In der Presse finden sich fast täglich Belege, die eine solche Sicht der Dinge untermauern.

Oprea wird weitermachen. Er wird unter dem Dach einer von Tanase geleiteten Stiftung arbeiten. Er wird weiter nach Leichen suchen, um „diejenigen als Helden zu begraben, die als Hunde verscharrt wurden“. Es sind nicht Opfer der Diktatur Ceausescus, sondern seines kommunistischen Vorgängers Gheorge Gheorghiu-Dej, der von 1947 bis 1965 das Land regierte. Rund 80.000 Bauern, die sich der Kollektivierung widersetzten, wurden von der Securitate verhaftet, in deren Gefängnisse zeitweilig Häftlinge gezwungen wurden, sich gegenseitig zu foltern. Mindestens 200.000 Menschen kamen im „rumänischen GULag“ zu Tode, vielleicht auch doppelt oder dreimal so viele. „Ceausescu hatte es nicht nötig zu killen“, sagt Oprea, „die Angst, die der Terror Gheorghiu-Dejs geschaffen hatte, machte er sich zunutze, um alles zu kontrollieren“.

Zehntausende sind nach der Machtübernahme der Kommunisten in die Gebirgswälder der Karpaten geflüchtet, um den von Terror begleiteten Zwangskollektivierungen und Enteignungen zu entgehen. Bis 1962 gab es sogar bewaffnete Partisanen. Dem antikommunistischen Widerstand ist im siebenbürgischen Brasov (Kronstadt) ein Museum gewidmet. Geleitet wird es von Octav Bjoza, dem Präsidenten des nationalen „Verbands ehemaliger politischer Gefangener“. Er selbst trat als 18-Jähriger der „Rumänischen Jugendgarde“ bei, einem Trupp von 15 Studenten und Schülern, der 1958, zwei Jahre nach seiner Gründung, zerschlagen wurde. Vier Jahre lang saß Bjoza im Gefängnis. „Man hat mich mit Stacheldraht-Peitschen geschlagen“, berichtet er, „aber andere haben mehr gelitten, hatten kaputte Knochen, zerschmetterte Seelen.“  Es habe in den Karpaten nicht einen Berg ohne Partisanen gegeben. „Unsere Gruppe hatte einen Revolver und ein Bajonett“, lacht er, „nicht viel gegen die Panzer der Russen, die ja noch im Land standen, aber wir wollten uns bewaffnen.“

Dann zeigt Bjoza die Schaukästen des Museums. In einem liegt Erde vom Grab des 2006 verstorbenen ehemaligen Partisanenführers Ion Gavrila Ogoranu. Daneben ist das Radio, das dieser in den Wäldern benutzt hat, und in einem weiteren Schaukasten ist ein Testament, das er in einer Höhle schrieb. „Seine letzten sechs Partisanen wurden von 1.200 Soldaten gejagt“, erzählt Bjosa, „er kämpfte bis 1959, wurde in Abwesenheit zum Tod verurteilt, hielt sich bis 1976 versteckt, wurde festgenommen und schon bald wieder freigelassen. Das stimmt alles. Was Bjoza nicht sagt und was die über 3.000 Schüler, die in den vergangenen zehn Jahren das Museum besuchten, nicht erfuhren: Gavrila Ogoranu war während des Zweiten Weltkrieges Chef der „Kreuzbruderschaften“, der Jugendorganisation der rechtsextremen „Eisernen Garde“, die zusammen mit dem antisemitischen General Ion Antonescu, einem Verbündeten Hitlers, 1940 in Rumänien eine Diktatur errichtete. 1941 scheiterte ein Aufstand der Garde gegen Antonescu, der seine rechtsextreme Konkurrenz schließlich entmachtete. Während des Aufstands massakrierten die Legionäre der Eisernen Garde in Bukarest zahlreiche Juden und verwüsteten das jüdische Viertel.

Unter denjenigen, die bewaffnet kämpften, gab es sehr viele versprengte Soldaten von Antonescus Armee und Legionäre der Eisernen Garde, die schon beim Einmarsch der Roten Armee in die Bergen geflüchtet waren. Diesen Zusammenhang blendet das Museum in Brasov aus. Auch Constantin Popescus Film über Gavrila Ogoranu („Portrait of the Fighter as a Young Man“), der trotz der Proteste des Bukarester Elie-Wiesel-Instituts für Holocaust-Forschung auf der letzten Berlinale gezeigt wurde, verschweigt ihn. Selbst nach der Wende von 1989 blieb der ehemalige Partisanenführer und Antisemit seinem faschistischen Weltbild treu und tat sich als militanter Rechtsextremist hervor. Antonescus Regime wird von jenen, die sich um die Opfer des Kommunismus kümmern, mitunter beschönigt. Doch unter seiner Herrschaft wurden nach einem 2004 veröffentlichten umfassenden Bericht des Elie-Wiesel-Instituts im damaligen rumänischen Hoheitsgebiet mindestens 280.000 Juden ermordet – mehr als unter jedem anderen mit Hitler verbündeten Regime.

Teodor Maries hat seinen Hungerstreik inzwischen abgebrochen. Aber solange die Ereignisse im Dezember 1989 nicht aufgeklärt sind, wird die Geburt des postkommunistischen Rumäniens ein Mysterium bleiben, das Verschwörungstheorien nährt. Und wenn die Verbrechen der Securitate während der 50 Jahre kommunistischer Herrschaft juristisch nicht verfolgt werden, droht eine Versöhnung der rumänischen Gesellschaft und eine Stabilisierung der Demokratie zu scheitern. Doch um dem großrumänischen Nationalismus und dem latenten Antisemitismus den Boden zu entziehen, müssen auch die Massenverbrechen, die dem kommunistischen Terror vorangingen, zum Thema einer öffentlichen Debatte werden. Ein Anfang ist gemacht. Neben den vielen Stätten der Erinnerung an die kommunistische Diktatur, gibt es seit letztem Jahr in Bukarest ein Holocaust-Denkmal.

Thomas Schmid, leicht gekürzt erschienen in: Berliner Zeitung, 10./11.04.2010