Das Erbe der Diktatoren

In einer kleinen Straße im Zentrum von Bukarest, versteckt zwischen grauen Häusern und Plattenbauten, steht eine alte Villa, gebaut um die vorletzte Jahrhundertwende. Von außen ist es ein unscheinbares Gebäude. Doch in der großen Eingangshalle künden Marmor, Glasfresken und Holztäfelung vom Reichtum des einstigen Besitzers, eines Privatbankiers, dem das Haus als Bordell für betuchte Kunden diente. Die Kommunisten verboten Prostitution wie Privatbanken und nahmen das Gebäude in Beschlag, und nun, 20 Jahre nachdem die kommunistische Partei abdanken musste, sitzt im Chefsessel hinter dem alten Schreibtisch ein hagerer Mann mit grauem, eingefallenem Gesicht. Er zieht seine ärmellose gepolsterte Jacke, den darunterliegenden schwarzen Pullover und das Hemd hoch und zeigt seinen ausgemergelten Oberkörper. Teodor Maries ist – nach eigenen Angaben – seit 70 Tagen im Hungerstreik, wiegt trotz seiner beachtlichen Körpergröße von 1,85 Meter noch 55 Kilo und hat eine Körpertemperatur um die 35 Grad.

Maries ist Präsident der „Vereinigung des 21. Dezember 1989“, einer Organisation, die sich nach jenem Tag benannt hat, an dem Nicolae Ceausescu eine Massenkundgebung vor dem Gebäude des Zentralkomitees der Partei angeordnet hatte. Zehntausende von Arbeitern, Studenten und Angestellten wurden herbeigekarrt, die die Ereignisse von Timisoara verurteilen sollten. In der rumänischen Stadt hatten sich am Vortag nach mehrtägigen Unruhen Armeeeinheiten und Demonstranten verbrüdert und ein „Provisorisches Komitee der Revolution“ gegründet. Nun wollte der Diktator in Bukarest zum Gegenangriff blasen.

Vor einer riesigen Menge trat Ceausescu ans Mikrofon und schimpfte auf die „reaktionären, imperialistischen und chauvinistischen Kreise“, die hinter dem Aufstand in Timisoara stünden. Aber schon nach wenigen Minuten buhte und pfiff ihn das Publikum aus. Der „Conducator“, der Führer, wie er sich selber nannte, der nur Ergebenheit und Gehorsam gewohnt war, konnte seine Überraschung nicht verbergen. Und da die Kundgebung im Fernsehen live übertragen wurde, sah ganz Rumänien, wie das Gesicht des allmächtigen Übervaters der Nation zur Maske erstarrte. Der Bann war gebrochen.

Teodor Maries gehörte zu den ersten, die am Tag danach das ZK-Gebäude stürmten. Er war damals Profifußballer und spielte in der dritten Liga. „Ich bin durchs Fenster eingestiegen, nahm mir eines der Gewehre, die die Präsidialgarde zurückgelassen hatte, stürmte in den obersten Stock, um Ceausescu zu erschießen“, berichtet er mit einer Verve und Detailversessenheit, als hätte es sich gestern zugetragen. „Als ich im sechsten, dem obersten Stock, ankam, war Ceausescu gerade im Hubschrauber von der Dachterrasse abgeflogen.“

Um 12.08 Uhr flüchtete Ceausescu. Der Jubel war unbeschreiblich. Doch um 18 Uhr eröffneten Unbekannte das Feuer auf die Menge, die Armee schoss zurück. In den fünf Tagen nach der Flucht des Diktators wurden bei Schusswechseln an die tausend Menschen getötet. Rumänien war das einzige Land des Ostblocks, in dem der Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur 1989 mit einem Blutbad einherging. Doch ist bis heute ungeklärt, wer damals geschossen hat. Das staatliche Fernsehen sprach von Terroristen. Waren es Spezialeinheiten der Securitate, des gefürchteten Geheimdienstes? Oder hat die Armee die Schießereien inszeniert, um die Demonstrationen zu stoppen und die Machtübernahme der Wendehälse in Ruhe über die Bühne zu bringen? Waren ferngesteuerte Provokateure am Werk? Und wenn ja, von wem waren sie ferngesteuert?

„Unsere Freiheit dauerte gerade sechs Stunden“, sagt Teodor Maries, „die Revolution wurde uns gestohlen“. Er möchte wissen, von wem. Seit einem Jahr schon verlangt er die Herausgabe sämtlicher Dokumente aus den Archiven von Armee und Geheimdienst, um zu rekonstruieren, wer in den Dezembertagen die Strippen gezogen hat. Seit zwei Monaten hungert er dafür. Unter dem Druck eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gab Ministerpräsident Emil Boc am 10. März schließlich bekannt, man werde nun alle bislang noch geheim gehaltenen Akten im Zusammenhang mit der antikommunistischen Revolution freigeben. Inzwischen sind Kopien fast sämtlicher Dokumente am Sitz der „Vereinigung 21. Dezember 1989“ eingetroffen. Sechs hohe antike Schränke in dunklem Holz stehen im Chefbüro. Maries öffnet stolz einen nach dem anderen. Alle sechs sind von oben bis unten mit Akten vollgestopft. Es sei nur noch eine Frage von Tagen, meint er, bis die letzten Dossiers eintreffen würden und er seinen Hungerstreik abbrechen könne.

Maries will die Verantwortlichen für tausendfachen Tod vor Gericht bringen. Dan Voinea wird ihm dabei zur Seite stehen. Der 59-jährige Jurist schaut öfter mal in der Villa, dem einstigen Edelpuff, vorbei. Neben dem abgemagerten Maries strahlt er mit seiner Leibesfülle den Charme eines Bonvivants aus. Worte wie „Verfassungsschutz“ und „Bundesnachrichtendienst“ gehen ihm akzentfrei über die Lippen, seit er in den Neunzigerjahren den deutschen Behörden bei der Aufklärung einiger Attentate half, die die Securitate in Westdeutschland verübt hatte. In den letzten sechs Jahren der Ceausescu-Diktatur, als das Volk nur noch selten Butter hatte, war Voinea Militärstaatsanwalt – und blieb es auch nach der Wende.

Voineas große Stunde schlug am Weihnachtstag 1989. Da verlas er in der Armeekaserne von Târgoviste, einer Stadt siebzig Kilometer nordwestlich von Bukarest, die Anklage gegen Nicolae Ceausescu und seine Frau Elena, die beim Volk noch mehr verhasst war als ihr Gemahl. Drei Tage zuvor hatte der weitsichtige Militärstaatsanwalt beim Sturm auf das ZK Ceausescus Innenminister verhaftet, der fünf Tage zuvor in Timisoara den Schießbefehl erteilt hatte. Erst damit habe er sich selbst, so sagt Voinea, für den Prozess gegen das Herrscherpaar qualifiziert. Er hatte weniger als 48 Stunden Zeit, die Anklage vorzubereiten. Doch es reichte, um das Herrscherpaar der Untergrabung der Staatsgewalt und der nationalen Wirtschaft, der Sabotage und des Völkermords zu bezichtigen. „Für die schwerwiegenden Verbrechen, die von den beiden Angeklagten im Namen des rumänischen Volkes begangen wurden“, so schloss Voinea damals sein Plädoyer, „fordere ich, Herr Vorsitzender, die Verurteilung dieser Tyrannen zum Tode.“ Das Gericht verkündete das Todesurteil. Nicolae und Elena Ceausescu wurden umgehend erschossen. Der ganze Prozess hatte etwa eine Stunde gedauert. Es war eine juristische Farce.

Dass das Todesurteil bereits vor dem Prozess feststand, habe er erst später erfahren, sagt Voinea. Er hätte gerne einen richtigen Prozess mit Zeugenbefragung und Appellationsmöglichkeit gehabt. „Doch Ceausescu betonte wiederholt, er erkenne die Zuständigkeit des Gerichts nicht an und werde sich nur vor dem Parlament verantworten, außerdem dürstete die Straße nach Blut. Es waren eben keine normalen Tage, und deshalb war ein normaler Prozess nicht möglich.“ Vermutlich schien ein regulärer Prozess den neuen Machthabern zu riskant zu sein. Nach der Erschießung des Präsidentenpaars, das einen bizarren Personenkult um sich betrieben hatte, waren dessen bewaffnete Anhänger entmutigt. Vielleicht verhinderte die Hinrichtung in der Kaserne von Târgoviste weiteres Blutvergießen.

Wie so viele rumänische Offiziere und Politiker hat auch Voinea vor 20 Jahren – im Dezember 1989 – die Seite gewechselt. Heute liegt ihm daran, zu klären, was damals, 1989, in Rumänien geschehen ist. „Niemand ist wegen der Toten zur Rechenschaft gezogen worden“, ereifert er sich. 34 Ermittlungsverfahren hat er eingeleitet. Was aus den Fällen geworden ist, weiß Voinea nicht. Vor einem Jahr wurde er als Militärstaatsanwalt abgesetzt. Haben Seilschaften früherer Securitate-Offziere seine Ablösung durchgesetzt, wie viele vermuten? Wurde er zu unbequem? Voinea, der heute in Bukarest an einer Privatuniversität Strafrecht und Kriminalistik unterrichtet, will sich dazu nicht äußern. Er sagt nur: „Es fehlt am politischen Willen zur strafrechtlichen Aufarbeitung.“

Fehlt dieser Wille tatsächlich? Just darüber wird in Rumänien heute heftig gestritten. Die Opfer beteuern es. Die Regierung bestreitet es. Einigkeit herrscht darüber, dass während der ersten Amtszeit von Präsident Ion Iliescu, von 1990 bis 1996, keine ernsthaften Bemühungen gemacht wurden, die Verantwortlichen für die Verbrechen der Securitate, des wohl schlimmsten Geheimdienstes des Ostblocks, zur Rechenschaft zu ziehen. Zwar wurden 87 Spitzenfunktionäre des entmachteten Regimes 1990 zu Gefängnisstrafen verurteilt – zum Teil sogar zu lebenslanger Haft. Doch schon 1993 kamen die letzten von ihnen wieder frei. Die Securitate wurde nach dem Sturz Ceausescus aufgelöst. Aber der neue Geheimdienst SRI übernahm nach eigenen Angaben 40 Prozent des Personals des offiziell verschwundenen Dienstes. Und noch 2006 beteuerte Präsident Traian Basescu, ein erklärter Gegner der Wendehälse: „Nur sechs Prozent der jetzigen SRI-Offiziere kommen aus dem früheren Geheimdienst.“ Nur? Man stelle sich vor, „nur“ sechs Prozent der heutigen BND-Beamten wären früher Stasi-Offiziere gewesen.

Während in Ost-Berlin im Januar 1990 die Stasi-Zentrale gestürmt wurde und zwei Jahre nach dem Fall der Mauer das Stasi-Unterlagen-Gesetz in Kraft trat, dauerte es nach Ceausescus Sturz zehn Jahre, bis im Jahr 2000 der Nationale Rat zum Studium der Securitate-Archive (CNSAS) gegründet wurde, ein rumänisches Pendant zur Birthler-Behörde. „Im Jahr 2005 hatten wir erst rund 10 000 Akten“, sagt dessen Leiter Dragos Petrescu, ein 47-jähriger Historiker, „heute sind es zwei Millionen.“ Dass unter Iliescus Präsidentschaft Armee und Geheimdienst die Herausgabe der Akten nach Kräften blockierten, scheint Petrescu offensichtlich. Da hätten die alten Seilschaften gespielt. Und natürlich sei vieles geschreddert worden. Im Übrigen ist das Interesse am eigenen Dossier bislang recht beschränkt. Während in Deutschland bereits rund 2,6 Millionen Bürger einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt haben, sind es in Rumänien erst einige zehntausend.

Die rumänisch-deutsche Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die 1987 in den Westen ausgereist ist und heute in Berlin lebt, schrieb im vergangenen Jahr über ihre eigene Akte, diese sei „ein Machwerk des SRI im Namen der alten Securitate“, der zehn Jahre Zeit gehabt habe, um daran zu arbeiten. Ihre Akte sei „regelrecht entkernt“. Darin stehe kein Wort über die beiden misslungenen Anwerbeversuche der Securitate und auch keines über deren infame Strategie, sie danach in der Öffentlichkeit als Spitzel des gefürchteten Geheimdienstes zu diffamieren. Und natürlich auch kein Wort über die körperlichen Misshandlungen bei den zahlreichen Verhören.

Anders als in der DDR gab es in Rumänien unter der Herrschaft Ceausescus bis zuletzt keine organisierte Opposition. Aktionen des Widerstands gab es nur vereinzelt, und im Ausland erfuhr man nur selten davon. Mit Hunderttausenden Spitzeln hatte die Securitate ein enges Netz von Einschüchterung, Angst und Misstrauen gewebt, das die Gesellschaft lähmte. Es war zudem eine Gesellschaft, die traumatisiert war. Ceausescus Vorgänger Gheorghe Gheorghiu-Dej, der von 1947 bis 1965 über Rumänien herrschte, hatte vermeintliche oder tatsächliche Oppositionelle zu Tausenden erschießen lassen und Hunderttausende deportiert und in Lagern zur Zwangsarbeit verpflichtet. In Rumänien herrschte ein Massenterror wie in keinem anderen Satellitenstaat der Sowjetunion. Der Terror begann nicht mit Ceausescu.

Licht in diese dunkelsten Jahre der Nachkriegszeit zu bringen, darum bemüht sich hartnäckig seit Jahren Marius Oprea. Der Weg zu ihm macht den Besucher mit einer der sonderbarsten Hinterlassenschaften der Diktatur bekannt. Er führt über zwei Plätze, auf denen Dutzende herrenloser Hunde streunen. Seit Ceausescu Ende der Siebzigerjahre einen Großteil der Altstadt von Bukarest abreißen ließ, um das monströse „Haus des Volkes“, nach dem Pentagon das zweitgrößte Gebäude der Welt, zu bauen, plagt sich die Stadt mit dem Hundeproblem. Zehntausende Bukarester mussten damals ihre Einfamilienhäuser verlassen. Die meisten hatten einen Wachhund. Als die Vertriebenen in die eiligst hochgezogenen Plattenbauten einquartiert wurden, ließen viele die Tiere zurück, manch einer auch, um die neu eingeführte Hundesteuer einzusparen. Heute gibt es trotz wiederholter Tötungskampagnen wohl mindestens 30 000 herrenlose Hunde in der Stadt. Jährlich werden Zehntausende Bukarester mit Wadenbissen verarztet.

Opreas Wohnung steht voller Kisten. Alles ist verpackt. Er muss die drei Zimmer bis Monatsende räumen. Es war eine Dienstwohnung, und Oprea wurde gekündigt. Vier Jahre lang leitete der Historiker das von ihm gegründete halbstaatliche „Institut für die Erforschung der Verbrechen des Kommunismus“. Zur Begrüßung steckt er eine DVD in seinen Laptop. Es ist ein Achtminutenfilm über die Ausgrabungen, die er leitet, Bilder von Totenschädeln, halben Skeletten, isolierten Oberschenkelknochen, Bilder des Grauens. „Diese beiden hier wurden füsiliert, dann ans Kreuz geschlagen und an den Straßenrand gestellt“, kommentiert er, „hier ein 16-jähriges Mädchen, erschossen von der Securitate . ein 15-jähriger Junge, seine neunjährige Schwester hat gesehen, wie er hingerichtet und verscharrt wurde .“

Oprea geht von bis zu 10 000 Personen aus, die von der Securitate ohne jeden Prozess umgebracht wurden. Immer wieder reist er in die Karpaten, spricht mit den Bauern über die alten Geschichten, sucht anonyme Gräber. Über 50 Leichen hat er bislang ausgegraben und mehr als 400 Securitate-Mitglieder als Folterer und Mörder identifiziert. Offiziere des früheren Geheimdienstes brachten ihn mehrfach vor Gericht. „812 Jahre Gefängnis wurden zusammengerechnet gegen mich beantragt“, sagt Oprea selbstbewusst, „aber bislang habe ich alle Prozesse gewonnen.“ Er sieht sich als rumänischen Wiesenthal, als Securitate-Jäger.

Weshalb Oprea entlassen wurde, ist unklar. Der neue Chef des Instituts, Ioan Stanomir, ein zurückhaltender, vorsichtig formulierender Verfassungsjurist, sieht keine politischen Absichten hinter der Entscheidung, eher einen üblichen Personalwechsel. Immerhin war Oprea Sicherheitsberater des früheren Premierministers, und dessen Partei, der auch Oprea angehört, ist nun in der Opposition.

Aber die neue Regierungskoalition hatte sich schon vor zwei Jahren gebildet. Weshalb hat man ihn nicht schon damals entlassen?

Oprea will nicht schlecht über seinen Nachfolger reden. Er sagt nur: „Ich wurde unbequem für die Staatsanwälte. Ich machte denen viel Arbeit“, und dann fügt er hinzu, was man in Bukarest immer wieder hört: „Die alten Seilschaften funktionieren noch, der Staat wird von den alten Kräften kontrolliert.“ Ähnlich drückte sich der frühere Militärstaatsanwalt Voinea aus.

Oprea gibt nicht auf. Er wird weiter nach Leichen suchen, um „diejenigen als Helden zu begraben, die als Hunde verscharrt wurden“. Es sind nicht Opfer der Diktatur Ceausescus, sondern seines kommunistischen Vorgängers. Rund 80 000 Bauern, die sich der Kollektivierung widersetzten, wurden von der Securitate verhaftet. Folter und Misshandlungen standen auf der Tagesordnung, und im berüchtigtsten Gefängnis des Landes wurden die Häftlinge sogar gezwungen, sich gegenseitig zu foltern. Vorsichtigen Schätzungen zufolge kamen 200 000 Menschen im „rumänischen GULag“ zu Tode, vielleicht auch doppelt oder dreimal so viele.

Zehntausende sind nach der Machtübernahme der Kommunisten in die Gebirgswälder der Karpaten geflüchtet, um den Zwangskollektivierungen und Enteignungen zu entgehen. Bis 1962 gab es sogar bewaffnete Partisanen. Dem antikommunistischen Widerstand ist im siebenbürgischen Brasov ein Museum gewidmet. Die Fahrt nach Kronstadt, wie die verbliebene kleine deutsche Minderheit die Stadt nennt, führt über den verschneiten Kamm der Südkarpaten, wo noch heute große Populationen von Bären und Wölfen leben.

Geleitet wird das Museum von Octav Bjoza, einem hageren, knorrigen Mann, der schon vor über einem halben Jahrhundert gegen den Kommunismus kämpfte. Als 18-Jähriger trat er der „Rumänischen Jugendgarde“ bei, einem Trupp von 15 Studenten und Schülern, der 1958, zwei Jahre nach seiner Gründung, zerschlagen wurde. Vier Jahre lang saß Bjoza im Gefängnis. „Man hat mich mit Stacheldrahtpeitschen geschlagen“, berichtet er, „aber andere haben mehr gelitten, hatten kaputte Knochen, zerschmetterte Seelen.“ Es habe in den Karpaten nicht einen Berg ohne Partisanen gegeben. „Unsere Gruppe hatte einen Revolver und ein Bajonett“, sagt er lachend, „nicht viel gegen die Panzer der Russen, die ja noch im Land standen, aber wir wollten uns bewaffnen.“

Dann zeigt Bjoza die Schaukästen des Museums. In einem liegt Erde vom Grab des 2006 verstorbenen ehemaligen Partisanenführers Ion Gavrila Ogoranu. Daneben ist das Radio ausgestellt, das dieser in den Wäldern benutzt hat, und in einem weiteren Reliquienschrein ist ein Testament, das er in einer Höhle schrieb. „Seine letzten sechs Partisanen wurden von 1 200 Soldaten gejagt“, erzählt Bjosa. Gavrila Ogoranu kämpfte bis 1959 und hielt sich danach 17 Jahre lang versteckt. Erst 1976 wurde er festgenommen und, obwohl in Abwesenheit einst zum Tod verurteilt, bald wieder freigelassen.

Was Bjoza nicht sagt und was die Schüler, die das Museum besuchen, nicht erfahren: Gavrila Ogoranu war während des Zweiten Weltkrieges Chef der „Kreuzbruderschaften“, der Jugendorganisation der rechtsextremen „Eisernen Garde“, die zusammen mit dem antisemitischen General Ion Antonescu, einem Verbündeten Hitlers, 1940 in Rumänien eine Diktatur errichtete. Legionäre der Eisernen Garde richteten danach unter den Bukarester Juden ein fürchterliches Massaker an. Ihr Viertel wurde zerstört. Nach einem 2004 veröffentlichten Bericht des Bukarester Elie-Wiesel-Instituts für Holocaust-Forschung wurden auf damaligem rumänischen Territorium unter der Diktatur Antonescus mindestens 280 000 Juden umgebracht – mehr als unter jedem anderen mit Hitler verbündeten Regime.

Bjoza, der Leiter des Museums, ist ein Opfer des Kommunismus. Vielleicht sieht er deshalb auf dem einen Auge schärfer als auf dem anderen. Vielleicht hat es auch mit seiner eigenen Familiengeschichte zu tun. Sein Onkel mütterlicherseits, so erzählt er, habe als General Antonescus die Rückeroberung Bessarabiens befohlen, sein Onkel väterlicherseits habe sich zur Wehrmacht gemeldet und sei in Frankreich gefallen. Der Leiter des Museums hat das Grab aufgesucht, ein Schäufelchen Erde genommen und es zur letzten Ruhestätte seiner Großmutter gebracht, so wie sie es sich gewünscht hatte. „Unter Antonescu war nicht alles schlecht“, sagt er zum Abschied.

Die Sehnsucht nach Helden ist groß in Rumänien, das von einer Diktatur in die nächste taumelte und in dem es nie eine nüchterne Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gab. Das Interesse daran hält sich in Grenzen. Das Land leidet unter Armut und Korruption, viele wenden sich enttäuscht von der Politik ab, großrumänischer Nationalismus und latenter Antisemitismus sind noch immer sehr virulent und werden bei Bedarf von populistischen Politikern bedient. Aber langsam geht es voran. Seit dem vergangenen Jahr gibt es in Bukarest neben den zahlreichen Stätten der Erinnerung an die Opfer der kommunistischen Diktatur, nun auch ein Holocaust-Denkmal. Es ist ein Anfang, immerhin.

Teodor Maries hat seinen Hungerstreik inzwischen abgebrochen. Er hat all die Dokumente, die er verlangt hat, bekommen. Nun beginnt für ihn die Arbeit. Eine schwierige Arbeit. Denn anders als Antonescus Generäle leben die meisten derjenigen noch, die sich für die Toten von 1989 zu verantworten haben.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 10./11.04.2010

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert