LAÂYOUNE. Die beste Aussicht hat man vom Dach einer Betonruine aus, die da mitten in der Wüste steht, eine Hinterlassenschaft der spanischen Armee, ein Relikt aus der Kolonialzeit. Es ist ein grandioses Panorama. Wohin man den Blick auch wendet – ein Meer von Zelten, deren weiße Dächer vor der brütenden Hitze Schutz bieten. Es sind Jaimas, die traditionellen Zelte der Nomaden. Und was man ebenfalls erst von hier oben sieht: Das riesige Lager ist umzingelt. Am Horizont stehen überall Militärlaster und Jeeps. Sie bilden einen Kreis um das Camp, nur etwa 200 Meter hinter den äußersten Zelten. Rund 20000 Sahrauis – so nennen sich die ursprünglichen Bewohner der Westsahara, eines Wüstenstrichs zwischen Marokko und Mauretanien – haben sich hier in über 2000 Jaimas niedergelassen, um für Wohnung und Arbeit zu demonstrieren. Es ist die größte Protestbewegung seit 1975, seit der völkerrechtswidrigen Annexion der früheren spanischen Kolonie durch Marokko.
Es ist nicht einfach, in das Lager hineinzukommen. Es liegt nur 15Kilometer außerhalb von Laâyoune, dem Verwaltungszentrum der Westsahara, einer erst 1938 von den Spaniern gegründeten Stadt, die inzwischen 200000 Einwohner zählt. Zwar erlauben die Militärs den Sahrauis, in der Stadt Wasser, Lebensmittel und Medikamente zu besorgen und ins Lager zu bringen. Journalisten aber wird der Zutritt zum Camp verwehrt. Sie brauchen eine Sondergenehmigung des Innenministeriums. Und das liegt in Rabat, der 870 Kilometer entfernten Hauptstadt Marokkos. Dass man dort in nützlicher Frist den richtigen Stempel nie und nimmer erhält, weiß jeder, der die marokkanische Bürokratie kennt. Also versucht man es anders. Man schüttelt erst einmal die Spitzel ab, die sich vor den Hotels von Laâyoune tummeln und sich dem Fremden an die Ferse heften, verkleidet sich als Araber und lässt sich mit ein wenig Glück nachts ins Lager schmuggeln.
„Willkommen“, sagt Azaoui, ein Mann mit schwarzem Turban und Gesichtsschleier, der nur die Augen freilässt, „du kannst dich hier frei bewegen, mit jedem reden.“ Azaoui gehört der Leitung des Komitees an, das das Lager verwaltet und ist zur Begrüßung an den Eingang gekommen. Dank Handy – der Empfang im Camp ist gut – wusste er schon von der Ankunft eines Ausländers. „Wir haben ausschließlich soziale, keine politischen Forderungen“, sagt er ungefragt, „wir wollen Arbeit und eine anständige Wohnung.“ Es ist ein Uhr nachts. Man muss höllisch aufpassen, dass man in diesem Labyrinth eng aneinander gebauter Jaimas nicht über die Zeltschnüre und großen Heringe stolpert. Die Nomadenzelte selbst aber sind geräumig, mit Teppichen belegt wie kleine Wohnzimmer, in einer Ecke die Kochnische. Oft schlafen ein Dutzend Personen in einem Zelt, ohne dass es sonderlich eng würde.
Seit vier Wochen besteht das Lager schon, seit zwei Wochen ist es militärisch abgeriegelt. Wo haben diese Stadtmenschen denn plötzlich so viele Zelte aufgetrieben? „Jede Sahraui-Familie hat eine Jaima zu Hause“, sagt Abdelaziz, „vor einer oder zwei Generationen waren wir alle Nomaden.“ Abdelaziz ist, wie die meisten Männer hier, arbeitslos, schlägt sich irgendwie durchs Leben. Im Lager ist er zuständig für Sicherheit. Er organisiert die Wachen, die die Soldaten beobachten. „Wir haben ausschließlich soziale Forderungen: Wir verlangen Wohnungen und Arbeit“, sagt auch er, bevor er dem Gast eine Kamelhaardecke reicht. In der Wüste kann es nachts kalt werden.
Es ist sieben Uhr früh, die Sonne geht über der Wüste auf, und Brahim friert trotz seiner Lederjacke. Er hat Wache geschoben. „Weiß die Welt, dass wir hier sitzen, umzingelt von Soldaten, um für Wohnung und Arbeit zu demonstrieren?“, fragt er. „Wir haben keine politischen Forderungen. Wir haben keine Fahne gehisst.“ Er meint: keine Fahne der RASD, der Demokratischen Arabischen Republik Sahara. Diese ist ein Pseudostaat mit einer Regierung in Tindouf, einer Stadt in der algerischen Wüste hinter der marokkanischen Grenze. Dort regiert die Befreiungsfront Polisario 90000 sahrauische Flüchtlinge.
Der verminte Sandwall
Wie das alles kam? Als der spanische Diktator Franco auf dem Sterbebett lag, ließ der marokkanische König Hassan II., Vater des heutigen Monarchen, am 6. November 1975, just vor 35 Jahren, 350000 unbewaffnete Zivilisten in die spanische Kolonie Westsahara einmarschieren. Nach diesem „Grünen Marsch“ trat Spanien die Verwaltungshoheit über die Kolonie an Marokko und Mauretanien ab. Die 1973 gegründete Polisario, die schon gegen die spanische Kolonialherrschaft gekämpft hatte, erklärte nun den neuen Machthabern den Krieg. Rund 100000 Sahrauis flüchteten vor den marokkanischen Besatzern ins algerische Tindouf. Nach dem Rückzug Mauretaniens aus dem Süden der Westsahara annektierte Marokko 1979 die gesamte ehemalige spanische Kolonie und baute einen 2400 Kilometer langen Sandwall quer durch die Wüste, um sich gegen die Angriffe der Guerilla zu verteidigen. Seit 1991 herrscht ein Waffenstillstand, der von Blauhelmen der Uno überwacht wird. Östlich des verminten Sandwalls ist Polisario-Gebiet. Westlich davon, wo die wenigen Städte der Westsahara, die Küste mit ihren fischreichen Gewässern und die vermutlich größten Phosphat-Vorkommen der Welt liegen, regiert Marokko.
„Vier Monate habe ich im Gefängnis gesessen“, berichtet Emmaama, „bloß weil ich einen Schlüsselanhänger mit dem Wappen der Demokratischen Arabischen Republik Sahara am Gürtel trug.“ Der junge Mann, gewandet in eine Darra, den langen, weißen Rock der sahrauischen Männer, lädt zu einer Schale Gofio ein, zerstampfte geröstete Maiskörner, aufgelöst in kaltem Wasser. An der Wäscheleine unter dem Zeltdach hängt rohes Kamelfleisch. Man wähnt sich hier weit weg von jeder Zivilisation, in einer andern Zeit. Doch dann fliegt ein Armeehubschrauber im Tiefflug über die Zelte hinweg, holt einen in die Gegenwart zurück.
„Marokko baut uns Straßen und Gefängnisse und klaut uns Fische und Phosphat“, sagt Abdallah, der sich dazugesetzt hat, „wir wollen unsern eigenen Staat.“ Er ist 1976 als Vierjähriger mit seinem großen Bruder nach Tindouf geflohen, hat 30 Jahre in den Flüchtlingscamps in der algerischen Wüste verbracht und kam vor vier Jahren zurück nach Laâyoune, weil sein Vater krank wurde.
Es ist schwierig, mit einem der Männer ein längeres Gespräch zu führen. Jeder will seine Geschichte loswerden; es sind Geschichten von Gefängnis, Folter, Frustration, Demütigung. Die Frauen schweigen, sitzen da in ihren Melhfas, den weiten, farbigen Gewändern, und bereiten den nächsten Tee zu, flicken Zeltwände, spülen Geschirr, beruhigen schreiende Kinder.
Wie lange noch wollen die 20000 Sahauris hier in der Wüste ausharren – ohne fließendes Wasser, ohne Elektrizität, ohne sanitäre Anlagen? „Bis unsere Forderungen erfüllt sind“, antwortet Emmama. Bis jeder eine Arbeit hat, wo es doch in ganz Marokko Millionen Arbeitslose gibt? Bis jeder eine anständige Wohnung hat, wo doch allein in Casablanca Hunderttausende in Slums leben? Wie laufen denn die Verhandlungen? „Wir verhandeln nicht, solange wir umzingelt sind“, kommt die Antwort aus mehreren Kehlen. Doch die Regierung behauptet, es werde verhandelt. „Sie lügt. Du darfst der Presse kein Wort glauben“, warnt Abdallah.
Alle hier betonen – wie abgesprochen -, dass sie nur soziale Forderungen hätten: Arbeit und Wohnung. Doch jedes Gespräch mündet sehr schnell in die Politik. Es geht um das von der Uno verbürgte Recht auf Selbstbestimmung, auf einen eigenen Staat. Niemand bekennt sich offen zur Polisario. Dass hier alle mit ihr sympathisieren, ist offenkundig. Doch sie wissen: Würden sie eine Fahne der Polisario oder ihres Pseudostaates hissen, würden die Militärs das Lager sofort räumen. In Marokko darf man heute vieles sagen, vieles schreiben. Aber es gibt zwei Tabus: die Person des Königs und die territoriale Integrität. Wer offen für die Abschaffung der Monarchie eintritt oder für die Abspaltung der annektierten Westsahara, landet im Gefängnis.
Dass die Sahrauis die Zeltstadt errichten konnten, sei ein Beweis für das freiheitliche Klima, das in Marokko herrsche, verkündete der Sprecher des Kommunikationsministers. Weshalb lässt man die Journalisten dann nicht hinein? Und vor allem: Warum hat man Lgarreh Ennajem erschossen? Der 15-Jährige wurde wenige Meter vor dem Eingang des Lagers von Kugeln durchsiebt. Aus dem Auto, in dem er saß, sei das Feuer auf die Militärs eröffnet worden, behaupteten diese, ohne einen Beweis vorzubringen. Das ist höchst unwahrscheinlich. Möglicherweise aber hielt sein Auto bei einer Militärkontrolle nicht an.
„Die tödlichen Schüsse fielen am Sonntagabend um halb sechs“, sagt Bana Hmeidi, die Mutter des Jungen. Sie ist zusammen mit zwei Töchtern zum Treffen in einem Viertel von Laâyoune erschienen. Alle drei haben verheulte Gesichter. „Man hat mir meinen Sohn nicht gezeigt, ich durfte nicht ins Leichenschauhaus“, klagt die 50-jährige Frau, „man hat ihn schon am Montagabend kurz vor Mitternacht heimlich beerdigt. Ich weiß nicht einmal, wo er liegt.“ Inzwischen hat sie bei der Staatsanwaltschaft Strafantrag gegen Unbekannt gestellt. Dass diese den Fall ernsthaft untersucht, glaubt niemand. Die meisten Sahrauis finden, die Uno müsse sich der Sache annehmen. Überhaupt sei es Zeit, dass sie sich auch mit Misshandlung und Folter befasse.
„Wir sind an unser Mandat gebunden“, sagt Hany Abdel-Aziz in seinem geräumigen Büro in Laâyoune. Der Ägypter ist Sondergesandter des UN-Generalsekretärs und Chef der Minurso, der UN-Mission für ein Referendum in der Westsahara. „Die Menschenrechte werden hier grob verletzt wie in allen arabischen Ländern“, gibt er freimütig zu, „das sage ich Ihnen als Araber. Aber dies zu untersuchen oder gar zu stoppen, gehört nun mal nicht zu unserem Mandat.“ Die 203 Blauhelme sollen den Waffenstillstand überwachen und für die Durchführung eines Referendums sorgen. Der Waffenstillstand hält seit 19 Jahren. Doch eine Volksabstimmung über die Zukunft der Westsahara liegt ferner denn je. „Ich bin der Erste, der für die Durchführung eines Referendums ist“, sagt Abdel-Aziz, „aber wir von der Minurso können es nicht erzwingen.“
Die Uno hat seit 1965 in Dutzenden von Resolutionen das Recht der Sahrauis bestätigt, in einem Referendum zu entscheiden, ob sie einen eigenen Staat oder den Anschluss an Marokko wollen. Lange haben sich Polisario und Marokko darüber gestritten, wer abstimmungsberechtigt ist. 1975 gab es in der Westsahara nur Sahrauis und Spanier, beschäftigt in der Armee oder der Kolonialverwaltung. In den vergangenen 35 Jahren hat Marokko jedoch gezielt und massiv die Besiedlung der Westsahara mit Marokkanern betrieben. Und so sind die Sahrauis in der früheren Kolonie heute eine Minderheit. Trotzdem lehnt Marokko ein Referendum ab. „Wir werden auf kein Sandkorn der Westsahara verzichten“, tönte jüngst König Mohammed VI.
Marokko sitzt den Konflikt aus. Die EU hat mit dem Königreich vor Jahren ein Fischereiabkommen geschlossen, das den Fangflotten erlaubt, auch in den Gewässern der Westsahara zu fischen – ein völkerrechtswidriges Abkommen, wie ein Rechtsgutachten des EU-Parlaments feststellte, weil die nie entkolonialisierte Westsahara, „die letzte Kolonie Afrikas“, gar nicht zu Marokko gehört. Doch wen kümmert es? Nur Algerien, das faktisch die Polisario kontrolliert, macht sich für die Sahrauis stark, vor allem aus eigenen Interessen. Das Land strebt nach einem Zugang zum Atlantik.
Im Elend
In Laâyoune, wo die Hälfte der Bevölkerung der Westsahara lebt, sind die Sahrauis heute nicht nur eine Minderheit, sondern auch die Unterschicht. Die Jobs im öffentlichen Dienst geben die Marokkaner den Marokkanern. Kaum einer der Sahrauis, die in der Wüste ihr Lager aufgeschlagen haben, hat eine geregelte Arbeit. Viele wohnen in der Stadt in elenden Behausungen, die kaum mehr Komfort bieten als ein Leben im Zelt. Die Regierung in Rabat befürchtet Unruhen, wie vor fünf Jahren, als es in Laâyoune zu einem wochenlangen Aufstand der Sahrauis kam. Schon hat der – marokkanische – Gouverneur den Lagerbewohnern 600 Parzellen für Wohnungsbau samt Kleinkrediten in Aussicht gestellt. Auch bietet er in Härtefällen umgerechnet 130 Euro Arbeitslosengeld an.
„Man versucht, uns zu ködern“, sagt der Mann im schwarzen Turban mit Gesichtsschleier, der mich aus dem Lager herausschmuggelt, „aber es gibt keine Deserteure. Wir verhandeln erst, wenn die Blockade aufgehoben ist und die Journalisten freien Zutritt haben.“
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 06.11.2010