Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 17.05.2014
Wer mag die EU? Wer nicht? Gibt es ein europäisches Wir-Gefühl? Eine Zugreise von Tallinn nach Lissabon
Für die einen ein Traum, für die andern ein Albtraum: Mit dem Begriff
Europa sind Hoffnungen und Ängste verbunden. Hoffnung auf Wohlstand vor
allem im Osten, Angst vor Armut vor allem im Süden der Europäischen
Union.
Am 25. Mai ist Europa-Wahl. Zwei Wochen lang sind wir deshalb vom Osten
in den Süden Europas gereist, von Estland nach Portugal, im Zug. Und
hatten ein paar Fragen im Gepäck: Kann der europäische Traum von einer
leisen Supermacht, wie ihn der amerikanische Soziologe Jeremy Rifkin
schon vor zehn Jahren hatte, Wirklichkeit werden? Oder entmündigt das
sanfte Monster Brüssel ganz Europa, wie der Schriftsteller Hans Magnus
Enzensberger befürchtet? Wer liebt Europa? Und wer hasst es? Und gibt es
eine europäische Identität?
Tallinn
Der Landeanflug ist traumhaft. Es ist bald zehn Uhr nachts, aber noch
Tag. In Tallinn, der Hauptstadt Estlands, im Norden Europas, geht die
Sonne Ende April spät unter. Die Ostsee, die hier das Westmeer genannt
wird, ist tiefblau. Eine weiße Fähre tuckert hinüber nach Finnland. Hier
also, in Tallinn, beginnt die Zugreise, die uns nach Lissabon führen
wird.
Bis 1918 hieß die alte Hansestadt amtlich Reval. An den
deutschbaltischen Adel erinnern die Namen der Hotels Kreutzwald und
Stackelberg, an die deutschen Kaufleute die Restaurants Olde Hansa und
Peppersack. Die Altstadt mit ihren Wehrtürmen gehört heute zum
Weltkulturerbe der Unesco.
Tallinn strahlt mittelalterlichen Charme aus. Ansonsten aber lebt man
supermodern hier. Kaum ein Café, das nicht wireless Zugang zum Internet
bietet. Kaum ein Jugendlicher, der nicht am Smartphone hängt.
Parkgebühren bezahlt man per SMS. Bis vor Kurzem besorgte man sich bei
den Banken auch Kredite übers Handy. Estland hat europaweit - bezogen
auf die Einwohnerzahl - die meisten Internet-Nutzer.
An die kommunistische Vergangenheit erinnert im Stadtbild nur wenig.
Eine Plattenbausiedlung in einem Außenviertel und der Russenmarkt hinter
dem Bahnhof, wo ältere Leute Pfannen und Töpfe, alte Duschköpfe und
Wasserhähne, Abzeichen der Roten Armee und Insignien der Wehrmacht
verkaufen. Im Zweiten Weltkrieg besetzten erst die Sowjets das
unabhängige Estland, dann fielen die Deutschen ein, bevor sie von der
Roten Armee wieder vertrieben wurden. Erst 1991 schüttelte Estland die
Sowjetherrschaft ab. 2004 trat das Land der EU und der Nato bei, 2011
der Euro-Zone.
Seit Anfang Mai sichern vier dänische Kampfflieger den estnischen
Luftraum. Estland gehört zu den wenigen Nato-Staaten, die eine
gemeinsame Grenze mit Russland haben. Die ukrainische Krise wird in
Estland sehr genau verfolgt. Etwa 25 Prozent der Einwohner des Landes
sind Russen, eine knappe Mehrheit unter ihnen hat die estnische
Staatsbürgerschaft, eine Minderheit die russische, und einige haben gar
keine. Zu Sowjetzeiten war Estland offiziell zweisprachig. Jetzt gibt es
nur noch eine Amtssprache, das Estnische. Es ist, wie das ihm verwandte
Finnische, keine indogermanische Sprache und ist nicht leicht zu
erlernen.
Im Viru Keskus, einer Shopping Mall mit riesigen Ausmaßen, treffen wir
Sergei Stadnikov, geboren 1956. Er ist vermutlich weltweit der einzige
Mensch, der die altägyptischen Hieroglyphen ins Estnische übersetzen
kann. Er ist Russe. Seine Eltern sind erst nach dem Zweiten Weltkrieg
eingewandert. Und deshalb kann er - wie neun von zehn hier lebenden
Russen - die estnische Staatsbürgerschaft und einen Job im öffentlichen
Dienst nur nach einem Sprachtest und einer Prüfung seiner Kenntnisse der
Verfassung erlangen. "Das ist unter meiner Würde", sagt er, "also
bleibe ich Russe mit russischem Pass." Die beste Lösung für Estland,
meint er, wäre das finnische Modell: EU ja, Nato nein. Diese Ansicht
vertreten hier sehr viele Russen. Aber nur sehr wenige Esten. Sie wollen
nie wieder aus Moskau regiert werden. Sie wollen den Schutz der Nato.
Jetzt, im Licht der Entwicklung in der Ukraine, erst recht.
"Die Spannungen zwischen estnischer Mehrheit und russischer Minderheit
mögen zugenommen haben", sagt Maarja Kangro, "aber dass die Russen
Estlands nach Hilfe aus Moskau rufen, befürchtet hier niemand." Nein,
Angst hat die 40-jährige estnische Schriftstellerin nicht. Selbst in
Narwa, der drittgrößten Stadt Estlands, die an der russischen Grenze
liegt und deren Einwohner zu 95 Prozent Russen sind, gibt es keine
Bewegung für den Anschluss an Russland. Es lebt sich einfach besser im
EU-Staat Estland. Selbst als Russe. Estland ist - pro Kopf gerechnet -
ja auch der größte Nettoempfänger von Transferleistungen. "Keine
relevante Partei will den Austritt Estlands aus der EU", sagt Kangro.
Die vielfach prämierte Autorin von einem Dutzend Büchern weiß das
grenzenlose Europa zu schätzen. Vom Februar bis April war sie mit einem
Stipendium in Wien, im Mai ist sie in Italien. Sie hat Gedichte,
Erzählungen und Essays veröffentlicht. Sie spricht fließend Deutsch und
Italienisch, hat Enzensberger, Umberto Eco und Giorgio Agamben
übersetzt. "Von der Schriftstellerei kann man ja schlecht leben, wenn
man in einer Sprache publiziert, die weltweit von nur knapp einer
Million Menschen gesprochen wird", sagt sie. Es ist, als ob jemand einen
Roman verfassen würde, der bloß von einem Viertel aller Berliner
verstanden werden kann und sonst von gar niemandem auf der ganzen Welt.
Krakau
Birkenwälder, dazwischen schmucke Dörfer und wieder Birkenwälder und
wieder Dörfer. Der Zug von Tallinn nach Riga, der Hauptstadt Lettlands,
braucht neun Stunden. Aber immerhin hat man - jedenfalls auf estnischem
Territorium - WLAN-Zugang ins Internet. Über die litauische Hauptstadt
Vilnius (Wilna) sind es weitere 15 Stunden nach Warschau. Hier wohnt
Karol Modzelewski. Aber wir treffen ihn in Krakau. Er ist über die
Osterfeiertage in die alte Hauptstadt gefahren, wo über Jahrhunderte die
polnischen Könige gekrönt und begraben wurden. Vor der Marienkirche auf
dem Marktplatz stehen Gläubige mit Brot, Kuchen, Würsten und
Ostereiern. Ein Pfarrer segnet die Speisen.
Wenn es heute keinen Eisernen Vorhang mehr gibt, wenn Polen heute in der
EU ist, so ist dies auch dem 76-jährigen Historiker Modzeleswki zu
verdanken. Achteinhalb Jahre hat er insgesamt in Gefängnissen gesessen.
Schon in den Sechzigerjahren war er wegen seines politischen Engagements
zweimal in Haft. 1980 gehörte er zu den Gründern der unabhängigen
Gewerkschaft Solidarnosc. Ein Jahr danach kam er ein drittes Mal ins
Gefängnis, nachdem der kommunistische Regierungschef Jaruzelski das
Kriegsrecht ausgerufen hatte. Solidarnosc wurde in den Untergrund
gedrängt, doch der gesellschaftliche Umbruch, den die Gewerkschaft
eingeleitet hatte, ließ sich letztlich nicht rückgängig machen. Im
Sommer 1989 kam es in Polen zu den ersten freien Wahlen im Ostblock
überhaupt.
Modzelewski empfängt ganz in Schwarz.
Schwarze Schuhe, schwarze Hosen,
schwarze Cordjacke. Auch die buschigen Augenbrauen sind schwarz, nur das
widerborstige Haar ist ergraut. "Es gibt eine beachtliche
euroskeptische Strömung in Polen", sagt der Historiker, "frustrierte
Transformationsverlierer, unter ihnen auch viele ältere Menschen, die
einst all ihre Hoffnung in Solidarnosc setzten, dann doch arbeitslos
wurden und keine Perspektive mehr sehen. Sie sind anfällig für ein
autoritäres System. Ihr Auffangbecken ist die nationalkonservative,
populistische Partei Recht und Gerechtigkeit." Deren Chef ist Jaroslaw
Kaszynski, der von 2006 bis 2007 Ministerpräsident war. Er wirft Donald
Tusk, seinem liberal-konservativen Nachfolger, vor, sich der EU
gegenüber devot zu verhalten und die Souveränität Polens zur Disposition
zu stellen.
"Natürlich muss der Nationalstaat überwunden werden, wenn man die
Globalisierung in den Griff kriegen will", sagt Modzelewski, "aber die
Vereinigten Staaten von Europa, tja, noch ist das ein schöner Traum. Da
fehlt es an sozialer Kohäsion im europäischen Maßstab, es fehlt eine
europäische Zivilgesellschaft."
Bratislava
Die Slowakei grenzt zwar an Polen. Aber die Karpaten stehen dem Zug im
Weg. Also führt der Weg nach Bratislava über Tschechien. In einem Vorort
der slowakischen Hauptstadt wohnt Martin Leidenfrost. Irgendwann, als
er noch in Wien lebte, ist er nach Marchegg gefahren, ein kleines
Städtchen an der March, dem Grenzfluss zwischen Österreich und der
Slowakei. "Die March ist dort nicht sehr breit", sagt er, "trotzdem gab
es keine Brücke nach drüben, und noch seltsamer war, dass eine solche
niemand vermisste."
Leidenfrost aber war neugierig, fuhr einen langen
Umweg und gelangte auf die andere Seite - nach Devínska Nová Ve. Dort,
am Rand von Bratislava, ließ er sich - wenige Monate vor der
Osterweiterung der EU 2004 - nieder und mietete sich in einer
Plattensiedlung ein. Er wollte erkunden, wie es sich "an der langsam
vernarbenden Naht des Eisernen Vorhangs" so lebt. Ein Jahr sollte das
Experiment dauern. Zehn Jahre sind es schon geworden. "Das ist mir also
entglitten", resümiert der heute 42 Jahre alte österreichische
Schriftsteller nüchtern in einer Bar, in der das Glas Birnenschnaps -
0,05 Liter - einen Euro kostet.
Leidenfrost hat seine Erfahrungen mit
dem Leben in der Platte in seinem Buch "Die Welt hinter Wien"
festgehalten.
Eine starke antieuropäische Bewegung gibt es in der Slowakei nicht.
Allenfalls mosert die rechtsliberale Partei Freiheit und Solidarität
gegen die Politiker in Brüssel. Sie hatte vor zwei Jahren mit ihrer
Weigerung, den Euro-Rettungsschirm aufzustocken, eine Regierungskrise
ausgelöst. Nach einer Umfrage der Eurostat sei die Slowakei der
europhilste aller EU-Staaten, sagt Leidenfrost, aber das sei
möglicherweise ein Missverständnis. Wie sonst könne man erklären, dass
die Slowakei unter allen 28 EU-Staaten einen traurigen Rekord hält: Bei
den Wahlen zum Europaparlament 2004 gingen bloß 16,96 Prozent der
Slowaken - ihr Staat war gerade der EU beigetreten - zu den Urnen.
"Die Slowaken haben keine Tradition, sich selbst zu regieren", sagt
Leidenfrost, "sie ließen sich die Politik immer gern von außen
vorschreiben, unter der Habsburger Doppelmonarchie von Budapest, später
von Prag, dann von Moskau, heute von Brüssel. Sie sagen: 'Unsere Leute
sind noch viel beschissener, sollen die in Brüssel mal machen. Die
können wir zwar auch nicht sonderlich leiden, aber sie sind wenigstens
weit weg.'" Der Österreicher sagt dies mit hintersinnigem Charme, Wiener
Schmäh eben.
Nachdem Leidenfrost die slowakische Seele weitgehend erforscht hatte,
machte er sich nach Brüssel auf. Er wollte sich den Moloch ansehen, in
dem zwei Drittel aller Gesetze gemacht werden, die in den EU-Staaten
gelten. 33 000 Beamte beschäftigt dieser Koloss. "Ich wollte wissen, was
für Menschen das sind", erzählt der Schriftsteller, "ich hoffte, dort
über alle 28 Nationen etwas zu erfahren, aber ich habe dann das 29. Volk
gefunden, einen eigenen Stamm, der kaum nationale Züge hat und sich
nicht einmal durch eine besondere Leidenschaft für Europa auszeichnet.
Die meisten wissen über sehr viele Mitgliedstaaten sehr wenig. Aber es
sind gut organisierte, freundliche, offene Menschen, denen oft
persönliche Züge fehlen, perfekte Beamte, wie sie sich jeder
Regierungschef wünscht. Das sind richtig gute Leute. Sie arbeiten auch."
Seine Brüsseler Erfahrungen hat der Schriftsteller in dem Buch "Brüssel
zartherb" zusammengefasst.
Trotz aller spöttischen Töne hat sich Martin Leidenfrost ernsthafte
Gedanken über die Zukunft der EU gemacht. Sein Fazit: "Wir brauchen
einen europäischen Staatenbund. Aber viele Kompetenzen, die sich Brüssel
oder die Nationalstaaten anmaßen, können weiter unten, auf regionaler
oder gar auf kommunaler Ebene, angesiedelt werden. Andere Kompetenzen
muss Brüssel an sich ziehen. Jede Kompetenz muss dahin, wohin sie von
ihrer Tragweite her gehört."
Budapest
Von Bratislava nach Budapest ist es ein Katzensprung. Der Zug fährt
vorbei an blühenden Rapsfeldern, immer an der Donau entlang. Auf einem
Berg auf der anderen, der ungarischen Seite des Flusses thront weithin
sichtbar einer der größten Kirchenbauten Europas, die klassizistische
Kathedrale von Esztergom, Geburtsort von Stephan I., der im Jahr 1 000
das Ungarische Reich gründete, und die erste ungarische Hauptstadt.
Budapest.
In einem kleinen Park am Fuß des Schlossbergs ist eine
Ausstellung über den "Alltag des Zusammenlebens zwischen Juden und
Nichtjuden" in Ungarn zu sehen. Fotos aus der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Alles in allem scheint man sich prächtig verstanden zu
haben. Dass in Ungarn schon zwölf Jahre vor der Machtübernahme Hitlers
die ersten antijüdischen Gesetze erlassen wurden, erfährt man in einem
Halbsatz. Dass überhaupt ungarische Juden in Auschwitz ermordet wurden,
erfährt man in zwei Nebensätzen. Dass die Deportation von 440 000 Juden
unter deutscher Besatzung im Wesentlichen von ungarischen Behörden
durchgeführt wurde, erfährt man gar nicht.
Für Rudolf Ungváry ist die Ausstellung typisch dafür, wie in Ungarn
unter dem Regime Viktor Orbáns mit Geschichte umgegangen wird. Der
Schriftsteller empfängt den Besucher in roter Hose und in lila Pullover.
Man sieht ihm - trotz des schlohweißen Haars - seine 78 Jahre nicht an.
Die Altbauwohnung, in der er mit seiner Frau wohnt, ist voll von
Büchern. Und so schnell, wie er von einem Regal zum andern läuft, so
schnell springt er in der Diskussion durch die Jahrhunderte.
Ungváry hat die Zäsuren der jüngeren Geschichte Ungarns hautnah erlebt.
An die zwei Monate andauernde Belagerung Budapests durch Sowjettruppen
am Ende des Zweiten Weltkriegs und an den Einmarsch der Roten Armee
erinnert er sich noch gut. Als 20-jähriger Student nahm er 1956 am
ungarischen Aufstand teil und wurde damals drei Monate interniert. Vor
der Wende 1989 war er prominentes Mitglied der Kommission zur
Wiederherstellung der historischen Wahrheit, die die Neubeerdigung des
nach der Niederschlagung des Aufstands hingerichteten
Ministerpräsidenten Imre Nagy durchsetzte und damit symbolisch alle
Opfer des Stalinismus rehabilitierte.
Die jüngere Geschichte sei in Ungarn nie ernsthaft aufgearbeitet worden,
sagt Ungváry, und deshalb habe Viktor Orbán so leichtes Spiel beim
Rückbau der Demokratie. Der rechtspopulistische Ministerpräsident hat
über seine Zweidrittelmehrheit im Parlament die Kompetenzen des
Verfassungsgerichts beschnitten, die Selbstständigkeit der Nationalbank
aufgehoben und kujoniert erfolgreich die Medien. Ungarn verwandelt sich
unter den Augen Europas in einen autoritären Staat. "Es ist ein Aufstand
gegen die Demokratie", sagt Ungváry, "eine faschistoide Mutation in
demokratischer Form."
Rechts von der regierenden Fidesz hat sich mit 20 Prozent der Stimmen
als drittstärkste politische Kraft Jobbik etabliert, eine offen
antisemitische, rechtsradikale Nazi-Partei, deren paramilitärischer Arm
Jagd auf Roma macht. Jobbik stellt sich in die Tradition der
Pfeilkreuzler, die in den sechs Monaten vor dem Einmarsch der Roten
Armee in Ungarn ein Terrorregime errichteten und mehrere Zehntausend
Menschen ermordeten. Jobbik möchte die alte Größe Ungarns
wiederherstellen. Mit dem Vertrag von Trianon verlor Ungarn nach dem
Ersten Weltkrieg zwei Drittel seines Staatsgebiets.
Auch die Fidesz
beschwört immer wieder die einstige Größe Ungarns. "Für die Ungarn war
der Trianon-Vertrag ein kulturelles Trauma, das heute wiederbelebt und
missbraucht wird", sagt Ungváry, "die Linken und Liberalen erkannten
nach 1945 und bis heute nie, welch politische Kraft aus solchen Traumata
erwachsen kann, wie tief der Brunnen der Vergangenheit ist, um mit Thomas Mann zu sprechen."
Das ungarische Regime stelle die EU gewissermaßen als imperiale
Unterdrückungsmaschinerie dar, sagt Ungváry, die die ungarische
Unabhängigkeit gefährde. Solche Töne würden allerdings nur im
innenpolitischen Diskurs fallen, wo unentwegt der "Freiheitskampf"
beschworen werde. Dass 95 Prozent aller staatlichen und privaten
Investitionsprojekte Ungarns nach 2008 unter Beteiligung von EU-Geldern
zustande kamen, steht auf einem anderen Blatt. Für ausländische Ohren
spricht Orbán vom "Europa der Nationen".
Vergeblich hat Ungvary schon an die Europäische Volkspartei appelliert,
endlich einzugreifen. Dem Bündnis von christlich-demokratischen und
konservativ-bürgerlichen Parteien Europas, das die stärkste Fraktion im
Europaparlament stellt, gehören sowohl die CDU wie die Fidesz an. "Die
konservativen Parteien Europas erkennen die Gefahr nicht, die von Ungarn
ausgeht", behauptet der Schriftsteller, "vielleicht wachen sie auf,
wenn das faschistoide ungarische Modell in Europa Schule macht."
Turin
Der Zug von Budapest nach Italien fährt durch die Steiermark und durch
Kärnten. Hinter Villach ist die Grenze - oder der "neue Eiserne
Vorhang", von dem der portugiesische Außenminister jüngst sprach. Es
gibt keine Passkontrollen, keine Wachtürme, keine Zäune. Aber bei jeder
Diskussion über Europa südlich dieser unsichtbaren Grenze merkt man
schnell, dass man nun auf der anderen Seite angekommen ist - auf der
Seite der Verlierer, der Abgehängten. Ein guter Nährboden für Populismus
jeglicher Art. Die Lega Nord, einst Bündnispartner Berlusconis, spricht
von "Roma ladrona", dem diebischen Rom, der Bürokratie in der
Hauptstadt, und fordert ein unabhängiges Padanien. Der Komiker Beppe
Grillo wettert generell gegen alle, die nicht seiner Meinung sind, und
zögert nicht, seine eigene Bewegung Fünf Sterne von Dissidenten zu
säubern.
Auch Alessandra Quarta will ein anderes Italien - und ein anderes
Europa. Die 28-jährige Juristin lehrt an der Universität Ostpiemont
Zivilrecht. Sie gehört keiner Partei an, kandidiert aber auf der Liste
"Das andere Europa mit Tsipras", die von namhaften Intellektuellen
initiiert worden ist. Alexis Tsipras ist Präsident der griechischen
Linkskoalition Syriza und Kandidat der europäischen Linken für das
Präsidium der EU-Kommission.
Hoch über der Industriemetropole Turin thront die Superga, die
Barock-Basilika, in deren Krypta zahlreiche Mitglieder des Hauses
Savoyen ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Unter der Dynastie der
Savoyer gelang vor 150 Jahren die Einigung Italiens. Im Risorgimento,
dem mühsamen Prozess dieser Einigung, gaben die mittelitalienischen
Fürstentümer ihre Souveränität auf, wurde Mailand von der Herrschaft der
Habsburger und Neapel von jener der Bourbonen befreit, entstand ein
italienisches Nationalbewusstsein, eine italienische Identität. Gibt es
aber ein europäisches Unionsbewusstsein, eine europäische Identität?
Vermutlich nicht. Und deshalb sieht man wohl in Turin so gut wie keine
Wahlplakate.
"Die Europawahlen werden hier allenfalls als Gradmesser für
die Zustimmung zur Politik der Regierung in Rom angesehen", sagt Quarta
im Café des selbstverwalteten Kulturzentrums, dessen Vizepräsidentin
sie ist, "alles wird aus einer nationalen Perspektive gesehen."
Was ist eine europäische Identität? Kann es ein europäisches Wir-Gefühl
geben? "Man darf die europäische Identität nicht auf derselben Ebene
ansiedeln wie die nationale Identität", sagt Quarta, "die europäische
Identität muss von einer anderen Basis her entwickelt werden, und sie
wird nicht dieselbe Bindungskraft wie die nationale Identität haben. Die
Basis für die gemeinsame Europabürgerschaft ist die Anerkennung von
zivilen, politischen und sozialen Rechten, die allen gemeinsam sind."
Bislang sei die Integration Europas vorwiegend als wirtschaftspolitische
Integration unter neoliberalem Vorzeichen verstanden worden. "In
Italien setzen viele Europa generell mit Sparpolitik und Kürzungen
sozialer Leistungen gleich."
Dass die Sparpolitik vom mächtigen
Deutschland diktiert wird, scheint im Volk Konsens zu sein. Die
linksliberale Partei Italia dei Valori greift diese Angst auf. "Wir
wollen europäische Bürger sein, keine Untertanen Deutschlands", heißt es
auf ihren Wahlplakaten. Quarta findet eine solche Kampagne abscheulich,
aber klar ist: "Wir brauchen eine radikale Neuorientierung - weg von
einem neoliberalen, hin zu einem sozialen Europa, einem Europa mit mehr
Partizipation und mehr Demokratie."
Barcelona
Der Zug fährt weiter nach Genua und dann an der Mittelmeerküste entlang.
In den allermeisten Städten Südfrankreichs hat der rechtsextreme Front
National bei den Kommunalwahlen im März zwischen 20 und 30 Prozent der
Stimmen geholt, in Fréjus und Béziers stellt er sogar die Bürgermeister.
Das wird oft mit der hohen Anzahl von Immigranten und der
wirtschaftlichen Vernachlässigung der Region erklärt. Bei Portbou, wo
sich Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nazis das Leben genommen
hat, fährt der Zug über die Grenze.
Spanien ist viel härter von der Krise gebeutelt als andere, und es ist
der EU-Staat, der in den letzten zehn Jahren am meisten Ausländer
aufgenommen hat. Und doch gibt es hier keine rechtspopulistische Partei,
die man mit der ungarischen Fidesz, der italienischen Lega oder dem
französischen Front National vergleichen könnte.
Cristina Fallarás hat glücklichere Tage gekannt. Als Journalistin hat
sie für verschiedene Rundfunkstationen und in einer Reihe von
Redaktionen gearbeitet, sechs Bücher verfasst. Sie reiste zu Lesungen
und internationalen Kongressen. Im November 2008 war die Karriere Knall
auf Fall zu Ende. Als Stellvertretende Chefredakteurin eines
Gratisblattes wurde sie gefeuert. Da war sie 40 Jahre alt und gerade im
achten Monat schwanger.
Wenn Fallarás davon erzählt, was ihr widerfahren ist, redet sie sich in
Wut, schüttelt ihr langes rotes Haar, lacht abrupt, es ist ein Lachen,
das ihre Verbitterung nur schlecht verbergen kann.
Sie erzählt ihre
Geschichte auf einem versteckten Plätzchen im Gassengewirr hinter der
Kathedrale von Barcelona, der Stadt, in der sie studiert, gearbeitet und
gewohnt hat. Hat. Denn nun lebt sie in den Bergen hinter der Stadt. Sie
ist mit ihren Kindern bei einem Freund untergeschlüpft.
3 000 Euro netto hat Fallarás als Stellvertretende Chefredakteurin
verdient. Nach ihrer Entlassung erhielt sie noch anderthalb Jahre
Arbeitslosengeld. Dann lebte sie einige Monate von ihren Ersparnissen.
Im Jahr 2010 war sie pleite. Zwar war sie nun freischaffende
Journalistin, aber dafür musste sie monatlich 280 Euro in die
Sozialversicherung einzahlen. Hinzu kamen 300 Euro für die Schulspeisung
und Kita, 250 Euro für Gas, Wasser, Elektrizität und Telefon plus
Hypothekenzinsen von monatlich 1 200 Euro, weil sie sich - die Preise
und Zinsen waren günstig - wie so viele andere auch eine
Eigentumswohnung gekauft hatte. Kurzum, sie schaffte es nicht. Erst
wurde ihr die Elektrizitätsversorgung gesperrt, dann das Telefon, und
nachdem sie einige Monate mit den Hypothekenzinsen im Verzug war, wurde
sie auf Veranlassung der Bank mit ihren Kindern auf die Straße gesetzt.
Ein übliches Schicksal, ein Schicksal von vielen. Seit Ausbruch der
Krise 2008 wurden in Spanien über 250 000 Wohnungen zwangsgeräumt - in
70 Prozent aller Fälle konnten die Eigentümer die Bank nicht mehr
bedienen, weil sie ihren Job verloren hatten. Spanien hat knapp sechs
Millionen Arbeitslose. Die Arbeitslosenrate beträgt 25,3 Prozent (in
Deutschland 5,1 Prozent), unter Jugendlichen sind es 53,9 Prozent (in
Deutschland 7,8 Prozent). Das heißt, mehr als die Hälfte der
Jugendlichen in Spanien findet keinen Job. Viele, sehr viele wandern
aus, in die USA, nach Deutschland, selbst nach Marokko.
Rund 9 000 Journalisten wurden seit Beginn der Krise entlassen. Allein
die größte Zeitung des Landes, die renommierte El País, hat vor
anderthalb Jahren fast ein Drittel der Belegschaft gefeuert. Fallarás
hatte keine Chance auf eine feste Stelle. "Ich musste permanent Freunde
anpumpen", sagt sie, "einmal stand ich sogar beim Roten Kreuz um Milch
für mein Kind an, schließlich habe ich eine Goldkette, ein Erbstück
meiner Urgroßmutter, verkauft - für gerade 900 Euro. Das nagt am
Selbstbewusstsein."
Immerhin hat Fallarás bei El Mundo, der zweitgrößten Zeitung Spaniens,
inzwischen eine wöchentliche Kolumne. Zudem tritt sie als freie
Mitarbeiterin zweimal pro Woche im Fernsehen auf. Anfang Mai wurde sie
sogar nach Mexiko eingeladen, um ihr neues Buch vorzustellen. Es trägt
den Titel "A la puta calle" - "Auf der Scheißstraße" - und beschreibt
die Stationen ihres Abstiegs in die Misere. Eine eigene Wohnung für sich
und ihre beiden Kinder zu mieten, kann sie sich noch immer nicht
leisten.
Was die Massenarbeitslosigkeit, die Obdachlosigkeit, Armut, das Fehlen
jeglicher Lebensperspektive für viele Spanier bedeutet, davon habe man
in Deutschland keine Vorstellung, behauptet Fallarás. "Gewiss, die Krise
ist hausgemacht. Dass noch immer viele Banken aufgrund der 2008
geplatzten Immobilienblase auf faulen Krediten sitzen, hat Spanien
verschuldet", sagt Fallarás, "aber die Lösungen werden uns jetzt vom
Internationalen Währungsfonds und Europa aufgezwungen." Mit Europa meint
sie Merkel.
Lissabon
Die letzte Station dieser Reise quer durch Europa. Es ist der 1. Mai.
Der Demonstrationszug der Dachgewerkschaft CGTP wälzt sich die Avenida
Almirante Reis hoch, einen der großen Boulevards der portugiesischen
Hauptstadt. Der Zug ist diesmal eher klein, es sind höchstens 20 000
Demonstranten. Lissabon ist anderes gewohnt. Die meisten Plakate richten
sich gegen die "Troika" aus Internationalem Währungsfonds,
EU-Kommission und Europäischer Zentralbank, die dem Land 2011 ein
Darlehen von 78 Milliarden Euro gegeben und ihm im Gegenzug ein striktes
Sparprogramm auferlegt hat. "Caça Merkel" ("Verjag Merkel!"), steht auf
einem Karton, den ein alter Mann vor sich herträgt.
Auch Tiago Gillot marschiert mit, ein Mann mit kantigem Gesicht und
markanten Augenbrauen. Zurzeit ist der 35-Jährige wieder einmal
arbeitslos. "Mein Rekord", sagt er lachend, "das war ein Jahr und sieben
Monate ununterbrochen Arbeit." Mit einer Gruppe Gleichgesinnter hat er
vor sechs Jahren die "Precários inflexíveis" gegründet , "die
unbeugsamen Prekären", in unsicherer Stellung Beschäftigten. Sie hatten
eine breite Protestbewegung angestoßen. Vor einem Jahr noch waren
Hunderttausende gegen die Troika auf die Straße gegangen. Aber jetzt hat
sich Müdigkeit breitgemacht.
"Die makroökonomischen Ziffern - Bruttoinlandsprodukt, Export, etc. -
stabilisieren sich, der Absturz ist aufgehalten", sagt Gillot, "aber den
Leuten geht es nicht besser, sondern schlechter. Sie verdienen deutlich
weniger als vor der Krise."
Auch die Arbeitslosigkeit hat sich stabilisiert - auf hohem Niveau.
Jedes Jahr verlassen etwa 150 000 Portugiesen das Land. "Wer trotz
Diplom in der Tasche hier bleibt", sagt Gillot, "wird inzwischen scheel
angeschaut." Anders als in der Generation ihrer Großväter sind es nicht
mehr Landarbeiter von Latifundien und verarmte Kleinbauern, die
auswandern, sondern gut ausgebildete junge Menschen. Sie suchen Jobs in
den USA, in Deutschland, Frankreich, aber auch in Brasilien und der
portugiesischen Ex-Kolonie Angola mit ihrer boomenden Hauptstadt Luanda.
Der Musterschüler Portugal hat die Auflagen der Geldgeber fast alle
erfüllt. Rechtzeitig zu den Europa-Wahlen hat nun die Regierung den
"sauberen Ausstieg" aus dem am Wochenende ablaufenden Hilfsprogramm der
Troika verkündet. Vizepremier Paulo Portas sprach vom "Ende des
Protektorats". Portugal will den Euro-Rettungsschirm verlassen, ohne
vorsorgliche Kreditlinien in Anspruch zu nehmen. "Von wegen sauberer
Ausstieg", sagt Gillot, "Armut und Arbeitslosigkeit bleiben."
Von Tallinn nach Lissabon. Europa besteht aus Nationalstaaten und
Bürgern. Die Nationalstaaten werden immer mehr zusammenwachsen, sich auf
europäischer Ebene institutionell verzahnen. Aber auch die Bürger
werden ein bisschen mehr Rechte haben. Der Vertrag von Lissabon hat die
Möglichkeit europäischer Bürgerinitiativen eröffnet. Das Parlament, das
am 25. Mai von den Bürgern Europas gewählt wird, wird Einfluss auf die
Wahl des Präsidenten der EU-Kommission nehmen können.
Doch die
Unionsbürger leben in Welten, die auseinanderdriften.
Im Osten Europas, wo die Diktatur noch zur Lebenserfahrung eines
Großteils der Bevölkerung zählt, hält sich der Verdruss über Europa in
engen Grenzen. Die EU hat zudem den allermeisten ein Mehr an Wohlstand
beschert. Im Süden Europas hingegen, wo familiäre und soziale Netze den
Fall von Millionen in die Armut nicht mehr aufzufangen vermögen, wo
Lebenschancen verloren gehen und Lebensperspektiven verblassen, macht
sich eine gefährliche Europamüdigkeit breit. Brüssel, Troika, Merkel -
man wähnt sich von fremden Mächten bestimmt, auf die man keinen Einfluss
hat.
Gemeinsam aber ist allen Staaten von Estland bis Portugal: Der
Europa-Wahlkampf erhitzt die Gemüter kaum. Vielerorts findet er gar
nicht statt. Was für ein Europa wollen wir? Diese zentrale Frage ist
kein Thema. Darin drückt sich auch ein Versagen der politischen Eliten
aus. Eine europäische Öffentlichkeit gibt es allenfalls im Ansatz. Sie
ist wohl Voraussetzung und Resultat für das Gelingen eines europäischen
Integrationsprozesses, an dessen Ende eine Europäische Union steht, mit
der sich ihre Bürger identifizieren können, weil sie gemeinsame
Grundwerte teilen.
© Berliner Zeitung |