Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 18.06.2014
Kurdische Peschmerga-Soldaten haben die Stadt Kirkuk im Norden des Irak besetzt. Sie wollen die Bevölkerung vor den Isis-Terroristen schützen, sagen sie. In Wahrheit aber geht es um Land und Öl.
KIRKUK. Es ist ein bizarres Bild. Unter der Brücke, im
seichten Wasser des Flusses, steht ein Bettgestell, und darauf sitzt ein Offizier
der irakischen Polizei, in Kampfuniform. Er lacht, hält sich den staatlichen
Bauch mit beiden Händen und sagt völlig entspannt: „Vor zehn Minuten haben wir
hier einen Mörserangriff überstanden.“ Vor ihm, am Ufer sitzen 30 Männer, zur
Hälfte in dunkelblauer Polizeiuniform, zur andern Hälfte Peschmerga, Soldaten
der kurdischen Miliz.
Wir stehen am Maschroual-Fluss, 20 Kilometer westlich
von Kirkuk, einer Stadt mit über einer halben Million Einwohnern im irakischen Norden. Eigentlich ist es ein
Kanal, angelegt unter dem Regime des von den Amerikanern 2003 gestürzten
Diktators Saddam Hussein. Er bildet die Grenze zwischen dem Gebiet, das die
Kurden beanspruchen, und jenem, das seit einer Woche die islamistische
Terrortruppe Isis (Islamischer Staat im Irak und in Syrien) kontrolliert. Wir
sind also an der Front, jedenfalls in der Nähe.
Ein Mörserangriff? Nichts deutet darauf hin, dass von zehn
Minuten hier eine Granate eingeschlagen hat. Von Aufregung ist nichts zu
spüren. Niemand flüchtet, niemand rüstet zu einem Gegenschlag. General Shirku
Fatih, ein Mann mit kantigem Gesicht, durchtrainiertem Körper und keinem Gramm
Fett zuviel, ist ganz gelassen. Der Kommandant einer Peschmerga-Brigade ist
gerade mit etwa 30 kurdischen Soldaten eingetroffen. Von einem Angriff weiß er
nichts. Nein, die Peschmerga und
Polizisten, die unter der Brücke sitzen, haben nicht den Schutz vor Granaten
gesucht, sondern den Schatten, der vor der stechenden Sonne schützt.
„Es herrscht Ruhe an der Front“, sagt der General, „keine
besonderen Vorkommnisse.“ Und das seit Tagen. Ab und zu paar Schüsse. Nicht der Rede wert. Keine
Toten. Keine Verletzten. „Wir sind hier, um Kirkuk zu verteidigen“, fügt er
hinzu. Aber alles deutet darauf hin, dass die Islamisten keinen
Zweifrontenkrieg führen wollen, die Auseinandersetzung mit den schwer
bewaffneten und kampferprobten Peschmerga scheuen und sich ganz auf den Krieg
gegen die irakische Armee konzentrieren. Diese hatte in der vergangenen Woche
zahlreiche Städte kampflos Isis überlassen. „Weshalb sind die 17.000 Soldaten,
die vor Kirkuk stationiert waren, gegangen?“ Der General zögert kurz, dann sagt
er: „Das müssen Sie die Regierung in Bagdad fragen.“
Die Kurden regieren im Norden Iraks ein Gebiet, das etwa so
groß wie die Schweiz ist. Doch Kirkuk liegt außerhalb der Grenzen der
„Autonomen Region Kurdistan“, die eine eigene Verfassung, eine eigene
Regierung, ein eigenes Parlament und mit den Peschmerga eine eigene Armee hat.
Nach der irakischen Verfassung, die die Amerikaner dem Land nach der Invasion
geschenkt haben, hätte in Kirkuk wie in andern teilweise kurdisch besiedelten
Städten und Dörfern bis 2007 eine Volksabstimmung stattfinden müssen, um über
die Zugehörigkeit der umstrittenen Gebiete zu entscheiden. Doch dazu kam es
nie. Man konnte sich nicht darauf einigen, wer abstimmungsberechtigt ist.
Kirkuk ist multikulti. Hier leben Kurden, Turkmenen, Araber
und auch noch einige wenige aramäische Christen. Für die Kurden aber, die seit
langem einen eigenen Staat anstreben und immer wieder bewaffnet gegen die
Herrschaft in Bagdad rebellierten, ist Kirkuk die Wiege ihrer Nation, ihr
Jerusalem. Doch solche Metaphern taugen allenfalls für politische Fensterreden.
In Wahrheit geht es ums Geld. Bei Kirkuk liegen riesige Erdöl- und Erdgasfelder. Ohne Kontrolle über diese
ist ein unabhängiger Staat Kurdistan wirtschaftlich kaum überlebensfähig.
Saddam Hussein hat die Stadt deshalb über eine Ansiedlungspolitik gezielt arabisiert.
Aber nach seinem Sturz sind viele Araber wieder weggezogen. Kurden sind nachgerückt.
Heute ist Kirkuk zu 56 Prozent von Kurden bewohnt.
Nun soll Kirkuk samt seiner Umgebung Kurdistan angeschlossen
werden. Dies befürchtet jedenfalls Hassan Turan. Er ist Turkmene und Präsident
des Provinzrates, in dem die Kurden 26 von 41 Delegierten stellen. Tatsächlich
haben die Peschmerga vor einer Woche die Kontrolle über die Stadt übernommen.
Um mit Turan im hochgesicherten Gebäude des Provinzrates zu reden, muss man
sich dreimal nach Waffen abtasten zu lassen. Es herrscht Nervosität. Der Turkmene, der ruhig und bescheiden wirkt,
kann seine Verbitterung schlecht verbergen. Er hat keinen Zweifel: Die Kurden
haben die Chance genutzt, die ihnen die Offensive der Islamisten bot, um sich
Kirkuk und weiterer Gebiete zu bemächtigen. „Na ja, im Stadtzentrum hat sich
nichts geändert, da patrouilliert weiterhin die irakische Polizei“, gesteht
Turan zu, „aber außerhalb der Stadt sind nun überall Peschmerga stationiert.
Sie behaupten, uns vor Angriffen von Isis zu schützen. Aber wir haben sie nicht
gerufen.“ Die Turkmenen Kirkuks, zur Hälfte Sunniten, zur Hälfte Schiiten,
wollen nicht in einem kurdischen Staat leben. Aber ihre Schutzmacht, die
Türkei, wird wegen ihnen keinen Krieg riskieren, sie hat sich mit der Regierung
der Autonomen Region Kurdistan längst arrangiert.
Muhammed Khalil al Joubouri, Araber und Vizepräsident des
Provinzrats, ist in seiner Kritik an den Kurden deutlich schärfer als der
Turkmene. „Die Peschmerga kontrollieren auch das Stadtzentrum“, behauptet er,
„sie haben sich auch die öffentlichen Unternehmen unter den Nagel gerissen, und
über die Politik in Kirkuk wird in Erbil, der Hauptstadt Kurdistans,
entschieden.“ Joubouri wirkt in weißem Hemd und Krawatte äußerst seriös. Doch
dann blitzt unter dem Jackett eine Pistole auf. „Die kostet auf dem
Schwarzmarkt tausend Dollar“, sagt er lachend.
Auch Joubouri will kein Bürger Kurdistans werden. „Was die
Kurden auf legalem Weg nicht schaffen, den Anschluss Kirkuks an die Autonome
Region“, sagt er, „das versuchen sie nun auf bewaffnetem Weg.“ Aber dass es so
weit kam, dass die Peschmerga die Kontrolle von Kirkuk übernommen haben, dafür
macht er Nuri al Maliki im fernen Bagdad verantwortlich. Der irakische Ministerpräsident ist - wie etwa 60 Prozent der Iraker - Schiit und
hat die Sunniten an der Macht nie beteiligt. Noch schlimmer: er hat ihren
friedlichen Protest gegen die Diskriminierung militärisch bekämpft. In
Al-Hawija, das nur wenige Kilometer jenseits der Brücke des Grenzflusses liegt,
unter der irakische Polizisten und kurdische Peschmerga Schutz vor der stechenden
Sonne gefunden haben, massakrierten Soldaten der irakischen Armee vor einem
Jahr an einem einzigen Tag 42
Zivilisten. Heute wird das Städtchen von den Islamisten kontrolliert.
„Es geht nicht bloß um einen Angriff islamistischer
Terroristen gegen das Regime in Bagdad“, sagt Joubouri, der wie fast alle
Araber Kirkuks Sunnit ist, „Isis ist nur die Speerspitze, es handelt sich um
einen Aufstand der Sunniten gegen die schiitische Herrschaft.“ In der Tat ist
inzwischen offensichtlich, dass einige sunnitische Stammesführer Isis
unterstützen und dass auch die Nakschbandi-Miliz, die aus einem Sufi-Orden
hervorgegangen ist, am Aufstand beteiligt ist. Diese wiederum ist mit
Offizieren der von den Amerikanern zwangsaufgelösten Armee des gestürzten
Baath-Regimes Saddam Husseins verbandelt. Mossul, die von Isis vor zehn Tagen
überrannten Dreimillionenmetropole unweit der Grenze zur Autonomen Region
Kurdistan, war eine Hochburg des Baath-Regimes.
Hunderttausende sind vor Isis geflohen – oder aus Furcht vor
Vergeltungsschlägen und Bombenangriffen der irakischen Armee. Jedenfalls sind
nicht wenige Flüchtlinge nach Mossul, das von Isis kontrolliert wird,
zurückgekehrt. „Die Islamisten verteilen
Süßigkeiten an die Bevölkerung“, hatte Peschmerga-General Fatih am
Maschroual-Fluss erzählt. Und auch Flüchtlinge berichteten, dass die schwarz
vermummten Kämpfer die Bevölkerung durchaus in Ruhe ließen. Vorerst. Was die
Terroristen von Isis in Wahrheit anstreben, haben sie in Syrien gezeigt. Dort errichteten
sie in ihrer Hochburg Raqqa ein Terrorregime, in dem die Frauen sich
verschleiern müssen, Musik verboten ist und der lokale Führer der mit ihnen
verfeindeten Nusra-Miliz, ein Ableger von Al Kaida, aber weniger radikal als
Isis, öffentlich hingerichtet wurde.
Es mag durchaus sein, dass Isis die zivile Bevölkerung in
Mossul und anderen eroberten Städten in Ruhe lässt. Andererseits hat die islamistische
Terrortruppe Fotos ins Internet gestellt. Sie zeigen Männer in irakischer
Uniform, die in einem Graben liegen. Neben ihnen stehen maskierte Männer mit angelegtem Gewehr, offensichtlich
Isis-Kämpfer. Das Fernsehen zeigt die Bilder immer wieder. 1.700 Soldaten
sollen die Islamisten hingerichtet haben. In Kirkuk geht die Angst um. Auf dem
Markt kommt es zu Hamsterkäufen.
Doch die Islamisten werden Kirkuk nicht angreifen. „Sie
wissen, was ihnen andernfalls blüht“, sagt Abdulrahman Hoshyar , „die Grenze am
Maschroual-Fluss wird von beiden Seiten respektiert.“ Hoshyar trägt einen beigen
Scharwal, ein traditionelles, mit einem breiten Stoffriemen gegürtetes
kurdisches Gewand mit Pluderhose. Er ist bei der PUK, der stärksten kurdischen
Partei in Kirkuk, für Außenbeziehungen zuständig. Hinter seinem Schreibtisch
hängt ein Porträt, des schwerkranken irakischen Staatspräsidenten Dschalal
Talabani, der 1975 in West-Berlin die Partei gründete und bis heute ihr
Vorsitzender ist. Die Parteizentrale in
Kirkuk wird von Dutzenden bewaffneten Peschmerga bewacht. Auf dem Balkon sind
Sandsäcke gestapelt.
„Ich bin Österreicher“, hatte sich Hoshyar in fast perfektem
Deutsch vorgestellt. Der Kurde hat eine Zeit lang in Salzburg gewohnt. Sein
Philosophiestudium hat er mit einer Diplomarbeit über die Vorsokratiker
abgeschlossen. Nun sitzt er da und beugt sich über die Landkarte, sucht mit dem
Zeigefinger die Orte und sagt mit dem Tonfall des Feldherrn: „Bartala, Daquq,
Tuz Khurmatu… all das gehört uns.“ Er meint: uns Kurden. Es sind Gebiete
außerhalb der Autonomen Region, die kurdisch besiedelt sind und die die
Peschmerga wohl nicht wieder hergeben werden. Und dann sagt er ganz offen: „Es
ist ein Krieg ums Öl - zwischen Bagdad und uns.“ Dass die Peschmerga nicht nur
außerhalb der Stadt Position bezogen haben, gibt er unumwunden zu. „Allein auf
dem Gelände unserer Parteizentrale sind tausend Peschmerga stationiert.“
Auch der Parteisitz der KDP, der andern kurdischen Partei,
gleicht einer militärischen Festung. Peschmerga in voller Kampfmontur,
Taschenlampe auf den Helm montiert, lungern im Innenhof herum. An dessen
Frontseite hängt ein riesiges Porträt von Mustafa Barzani, dem legendären
Peschmarga-Führer und Gründer der KDP , der das Regime in Bagdad in den 60er
und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts herausforderte. Um den bewaffneten
Widerstand zu ersticken, brannten die irakischen Streitkräfte 1961 über tausend
kurdische Dörfer nieder. Es hat nichts genutzt. Heute ist Masud Barzani, Sohn
des alten Haudegen, Ministerpräsident der Autonomen Region. Schon oft haben sich die Peschmerga der
beiden kurdischen Parteien heftige militärische Gefechte mit vielen Toten geliefert.
Aber seit geraumer Zeit schon arbeitet man zusammen.
Mohammed Kamal, KDP-Chef von Kirkuk, empfängt in einem
riesigen, mit schweren Sesseln und Sofas ausgestatten Büro. An der Wand hängen die
Porträts von Vater und Sohn Barzani. „Wie sieht die militärische Situation
aus?“ Kamal überlegt nur kurz und sagt: „Ich bin kein Militär, ich bin
Politiker.“ Aus dem breiten Stoffgürtel seines Scharwal schaut der Knauf einer
nur schlecht verborgenen Pistole hervor. Werden die Peschmerga nach dem Krieg
die von ihnen besetzten Gebiete wieder räumen? „Was heißt nach dem Krieg?“,
fragt Kamal zurück und deutet an, dass für die Kurden doch seit Jahrzehnten
immer Krieg herrscht, der Krieg quasi ein Normalzustand ist. Das ist nur leicht
übertrieben. Krieg gegen Bagdad, Einfälle der türkischen Armee, Giftgasangriff
der irakischen Luftwaffe, kurdischer Bruderkrieg. Frieden war für Kurden immer
nur eine Pause zwischen Kriegen. Kamal sagt nicht offen, dass die Peschmerga in
Kirkuk bleiben. Aber auch für ihn ist völlig klar: Kirkuk ist kurdisch.
Und es soll kurdisch bleiben. Dies zeigt sich auch zehn
Kilometer außerhalb von Kirkuk. Der Weg zum Maschroual-Fluss, der wohl die
künftige Grenze der erweiterten Autonomen Region Kurdistan oder gar eines
unabhängigen kurdischen Staates bildet, führt an Schafherden vorbei. In der
Ferne leuchten die Flammen der Bohrtürme von Gasanlagen. Dann gelangt man zum
Checkpoint, wo sich auf einem Kilometer Autos stauen. Matratzen und Möbel
stapeln sich auf den Dächern der Fahrzeuge. Es sind Flüchtlinge, die nach
Kirkuk wollen. Doch die Asayish, die Sicherheitspolizei der Autonomen Region
Kurdistan, lässt umgehend nur herein, wer nachweisen kann, dass er Kurde ist. Alle
andern werden erst mal überprüft.
Gewiss mag die Angst vor einem Einsickern der Islamisten
eine Rolle spielen. Aber auch viele Frauen, Kinder und alte Männer lagern im
Schatten der Lastwagen. Es ist offensichtlich: Man ist auf die arabischen
Flüchtlinge nicht erpicht. Umsoweniger, als der Krieg von vielen Kurden als
Chance begriffen wird, endlich ihren Traum von einem eigenen Staat, zu dem auch
das Kirkuk, das kurdische Herz mit seinen Ölquellen gehört, zu verwirklichen.
Man mag es ihnen angesichts ihrer tragischen Geschichte nicht einmal
übelnehmen.
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